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Neunzehntes Kapitel.
Ein Unfall

Kurze Zeit nach dem eben beschriebenen Tag hob Pugatscheff die Belagerung von Orenburg auf, teils, weil er endlich begriff, was die verständigen unter seinen Offizieren längst eingesehen hatten, daß die Belagerung gänzlich nutzlos sei, und Truppen, Geld und Zeit buchstäblich nur vergeudet würden, teils, weil er erfuhr, daß die Festung Saratow leicht einzunehmen sei. Der Schrecken seines Namens hatte sich so verbreitet, daß die Bewohner der Dörfer, durch die er mit seinem Heere kam, sich flüchteten, sobald sie nur der Truppen ansichtig wurden; sogar der Gouverneur von Saratow verließ mit dem größten Teil der Besatzung die Festung, als er hörte, daß Pugatscheff weiter südlich ziehen wolle.

Die Stadt war somit in einem Augenblick im Besitz der Eroberer, und Zarizyn wurde einige Tage später auch beinahe ohne Kampf eingenommen. Nachdem Pugatscheff ferner die Stadt Dmitrijewsk im Sturm erobert hatte, ließ er Romanowna sagen, er wünsche sie den Winter über mit Milna bei sich zu sehen. Er hatte das prächtige Haus des Gouverneurs für sie herrichten lassen und wollte, daß seine Tochter in glänzender Weise ihren Einzug halte. Umständlich schrieb er ihr vor, wie sie sich kleiden solle bei ihrer Ankunft in Dmitrijewsk; zugleich übersandte er ihr einen prächtigen, mit sechs Pferden bespannten Schlitten.

Romanowna war überglücklich, als sie die Nachricht erhielt und wollte Tag und Stunde der Abreise soviel wie möglich beschleunigen. Milna dagegen erbebte unwillkürlich, als sie den Brief las und den Unsinn und Widerspruch bemerkte, der in den wenigen Zeilen enthalten war. Ihre Freundin hatte in übergroßer Freude nichts davon bemerkt, und Milna machte sie natürlich nicht darauf aufmerksam. Sie erzählte ihr auch ebensowenig die Gerüchte, die Mutter Ottekesa ihr mitgeteilt hatte.

»Und, wenn Sie mir nicht glauben wollen, Fräulein Milna,« hatte die alte Frau gesagt, »so fragen Sie nur einmal selbst die Soldaten und die Kutscher, die hierhergekommen sind, die Prinzessin abzuholen. Ich habe sie alle einzeln gesprochen, und sie haben mir gesagt, daß der Kaiser fast immer betrunken ist und soviel schändliche Dinge thut, daß man in ihm einen ganz gemeinen Mörder sieht, denn ...«

»Ottekesa,« hatte Milna sie erschreckt unterbrochen.

»Denn,« fuhr die alte Frau fort, »er hat noch kürzlich, als er die Stadt Dmi ... Dmi ... Dmitrijewsk einnahm, den Gouverneur auf dem Markt lebend aufspießen lassen und seine Frau und Kinder ...«

»Halt ein,« rief Milna, »ich weiß schon viel zu viel, um ruhig hören zu können, wenn Romanowna so heiter von ihrem Vater spricht; und doch müssen wir sie noch so lange wie möglich in Unkenntnis lassen.«

Die alte Frau machte einige gegenteilige Vorstellungen und riet Milna, Romanowna lieber die Augen über die Missethaten ihres Vaters zu öffnen; aber obgleich Milna schon halb entschlossen war, mit ihrer Freundin darüber zu sprechen, als sie diese so glücklich über den eben gelesenen Brief sah, konnte sie es nicht über sich gewinnen, das junge Mädchen so zu betrüben; und so schwieg sie nicht nur still, sondern sie traf sogar Vorbereitungen zur Abreise, von der sie doch hatte abraten wollen. Da sie fürchtete, die alte Frau möchte nicht reinen Mund halten, wenn sie während der ganzen Reise mit Romanowna in demselben Schlitten säße, schlug Milna vor, Ottekesa solle noch einige Zeit in Tatischtschewa bleiben. Die Alte war mit diesem Vorschlag sehr zufrieden; Romanowna schenkte demselben wenig Aufmerksamkeit, da sie an nichts anderes als an das Wiedersehen mit ihrem Vater dachte.

Die Reise fing sehr schön an. Das Wetter war günstig und der Weg, den sie fuhren, so schön, daß Romanowna ihrer Bewunderung häufig in lauten Ausrufungen Lust machte; aber nach einigen Tagereisen änderte sich das Schauspiel gänzlich; sie sahen überall nur die Trümmer von Dörfern, niedergetretene und verwüstete Felder, ausgeplünderte und abgebrannte Häuser, in einem Wort nur die unverkennbaren Spuren des Krieges.

»Welch' ein trauriger Anblick,« rief Romanowna mehr als einmal betrübt aus, »wenn man sich vorstellt, daß hier noch vor kurzem so viele Menschen wohnten, die sich vielleicht hier glücklich fühlten! – Wo können die Unglücklichen nur alle hingekommen sein?« fragte sie Milna plötzlich.

»Vielleicht,« antwortete diese in scherzendem Ton, »sind sie nach Petersburg gegangen, um sich bei der Kaiserin zu beklagen, daß der Kaiser sie verjagt hat.«

»Ach warum,« rief Romanowna aus, »leben meine Eltern nicht in Frieden und regieren gemeinsam das Volk, das nun durch den Zwiespalt so tief unglücklich gemacht wird. Ich habe jetzt wieder einen Plan,« fügte sie hinzu, »der mir früher wohl auch schon einmal in den Sinn gekommen ist.«

»Was für einen Plan?« fragte Milna.

»O, eine Versöhnung zustande zu bringen zwischen meinem Vater und meiner Mutter,« antwortete Romanowna.

Milna sah mitleidig auf ihre Freundin, unterbrach sie aber nicht, als diese fortfuhr:

»Du weißt, wie sehr meine beiden Eltern mich lieben und ebenso, wie mein Vater meine Mutter verabscheut. Er hat Grund dazu, denn es ist natürlich, daß er erzürnt ist über eine Frau, die ihm nach dem Leben getrachtet hat; und ebenso natürlich ist es, daß meine Mutter seinen gerechten Zorn fürchtet und ihn bekämpfen läßt. Unglücklicherweise wird das arme Volk, das sie beide lieben, das Opfer ihrer Uneinigkeit. Keines von beiden scheint zu bedenken, wie seine Unterthanen aufgeopfert werden durch diese Feindschaft; denn ich bin überzeugt, daß sonst diesem schrecklichen Bürgerkrieg ein Ende gemacht werden würde. Was hältst du davon, wenn ich meinen Vater fragte, ob ich nicht in seinem Namen Katharina um Verzeihung bitten soll, dann ... Was ist das?« unterbrach sie sich selbst, heftig erschrocken, als der Schlitten in demselben Augenblick einen furchtbaren Stoß erhielt.

Milna erschrak ebenso wie sie, und nicht ohne Grund; denn sie bemerkte sogleich, daß die Pferde am Durchgehen waren. Romanownas erste Bewegung war, die Thüre zu öffnen, aber Milna hielt sie zurück und sagte: »Versuche nicht herauszuspringen, das würde dir das Leben kosten; wir müssen ruhig abwarten, was geschieht.«

Ängstlich sahen die jungen Mädchen auf die durchgehenden Tiere, die ihren Lauf mehr und mehr beschleunigten. Die Vorreiter waren schon längst abgeworfen und verschwunden und nur einer der Kutscher hielt sich noch mit Mühe fest; es war ihm nicht möglich, irgend etwas zu thun. Endlich rannten die Pferde in ihrer tollen Fahrt regelrecht gegen ein hölzernes Gebäude. Romanowna und Milna schlossen die Augen; beinahe in demselben Augenblick fiel der Schlitten um; der arme Kutscher blieb mit zweien der Pferde tot oder bewußtlos liegen, während die andern, die sich losgemacht hatten, weiter fortrannten. Romanowna fühlte, sobald sie sich von der ersten Betäubung des Stoßes erholt hatte, daß sie keine Verletzung davon getragen habe; aber als sie Milna sah, stieß sie einen lauten Schrei aus. Ohne das mindeste Lebenszeichen zu geben, lag das junge Mädchen mit halbgeschlossenen Augen da, während ein Blutstrom über ihre Stirne floß.

»Milna, Milna, öffne doch deine Augen,« rief Romanowna ängstlich aus und erfaßte die Hand ihrer Freundin.

»Liebe, gute Milna,« wiederholte sie leise, »o, sage mir doch, daß du noch lebst.«

Milna blieb unbeweglich liegen, und Romanowna, in der Meinung, sie sei tot, brach in Thränen aus. »Was soll ich nur thun?« schluchzte sie.

»Was würde Milna thun, wenn sie an meiner Stelle wäre? Sie weiß immer Rat,« dachte sie dann wieder und drehte sich, ihre Thränen trocknend, nach der bewußtlosen Milna um. »Wenn das Bluten nur aushörte,« dachte sie. »Warte, ich kann vielleicht etwas dagegen thun. Hätte ich nur ein Tuch!« Sie nahm ihr kleines Spitzentaschentuch; aber was nutzte das? Romanowna warf es sogleich mißmutig wieder fort, denn es war schon blutdurchtränkt, als sie nur Milnas Stirne damit berührt hatte.

»Aber das Blut muß doch gestillt werden,« dachte sie und suchte nach einem passenderen Tuch, das sie auch endlich fand. Hastig band sie es um Milnas Stirne und sah sich dann wieder ratlos um. Sie war so gewöhnt, immer bedient zu werden, statt sich selbst zu helfen, daß sie gar nicht wußte, was sie anfangen sollte, obschon sie fühlte, daß etwas geschehen müsse.

Endlich sprang sie auf, weil ihr einfiel, daß unten im Schlitten Wein liege. Mit einiger Mühe brachte sie endlich eine Flasche zum Vorschein, aber nun stand sie wieder vor einer neuen Schwierigkeit, nämlich der, wie sie den Kork herausbekommen sollte. Die Angst des Augenblicks gab ihr aber sogleich das Mittel an die Hand; sie schlug den Hals der Flasche gegen den Schlitten und befeuchtete dann in Ermangelung von Wasser Milnas Schläfe mit Wein. »Vielleicht thäte es ihr gut, wenn ich ihr einige Tropfen einflößte,« dachte Romanowna und versuchte, ihr den Mund zu öffnen. Nun sie einmal die Hände ans Werk gelegt hatte, ging es auch schon viel besser, und sie nahm, ohne zu zögern, Milnas Kopf auf ihren Schoß, um zu versuchen, ob sie ihr nicht etwas Wein einflößen könne. Während sie viele vergebliche Anstrengungen machte, hörte sie zu ihrer Freude und Verwunderung eine jugendliche Stimme draußen fragen: »Ist jemand in dem Schlitten?«

»Ja,« antwortete Romanowna, »ich lebe noch, aber die arme Milna ist, ich glaube, tot.«

Dann hörte sie, daß jemand den Versuch machte, den Schlitten in die Höhe zu richten; aber jedenfalls war das zu schwer für einen einzelnen Menschen, denn nach einigen vergeblichen Bemühungen hörte Romanowna wieder sagen: »Nein, das ist mir unmöglich, wenn Sie da drinnen vorsichtig sein wollen, so werde ich versuchen, den Fensterrahmen zu zerbrechen, um Ihnen heraus zu helfen.«

Mit einiger Mühe wurde der Fensterrahmen herausgebrochen und Romanowna, die sich vor Milna gestellt hatte, damit nichts auf diese fallen könne, sah einen jungen Mann mit sehr einnehmenden Zügen.

»Sehen Sie,« sagte Romanowna, auf ihre Freundin deutend.

Der Fremde trat durch die Öffnung ein, kniete neben Milna nieder, ergriff ihren Arm, um den Puls zu fühlen. Der Puls schlug kaum; er legte seine Hand auf ihr Herz und sagte zu Romanowna, die ihm ängstlich zusah: »Sie ist nicht tot, aber ich fürchte, ihr Zustand ist sehr gefährlich.«

Dann sah er nach seiner Uhr, sagte noch etwas, was Romanowna nicht verstand und verschwand plötzlich.

»Ach, bleiben Sie doch bei mir, helfen Sie mir doch,« rief Romanowna ihm flehend nach; aber er hörte sie nicht mehr, weil er so rasch wie möglich davon eilte.

Noch nie in ihrem Leben hatte sich die Prinzessin so schrecklich allein gefühlt wie jetzt. Sie befand sich in einer Einöde; außer dem hölzernen Gebäude, das wahrscheinlich von dem Kriegsvolk, das hier gelagert hatte, erbaut worden war und jetzt leer stand, war kein einziges Haus zu sehen. Alle Versuche, die sie machte, Milna zum Bewußtsein zu bringen, waren vergeblich, und fürchtend, daß sie tot sei, fing Romanowna bitterlich an zu weinen. Ein Geräusch ließ sie auffahren, aber zu ihrer Enttäuschung merkte sie, daß es nur das letzte Röcheln eines der Pferde war.

»Was fange ich nur an?« fragte Romanowna sich selbst; aber es kam ihr keine Antwort in den Sinn. Nochmals brach sie in Thränen aus, aber in demselben Augenblicke fielen ihr die Worte des Pater Alexius ein: »Bittet, so wird Euch gegeben.«

»Ja,« dachte sie, »ich will bitten um Weisheit und Kraft, zu begreifen, was ich anfangen kann, jetzt, da ich ganz verlassen in einer Einöde bin, ganz allein mit der Leiche derjenigen, die immer eine besorgte Freundin für mich war.«

Und mit Thränen in den Augen sank Romanowna auf die Kniee und bat Gott herzlich und innig um seinen Beistand. Es war, als ob sie sogleich Antwort auf ihr Gebet bekomme; denn kaum hatte sie sich aus der knieenden Stellung erhoben, so hörte sie den Hufschlag eines Pferdes und zugleich die Stimme des jungen Fremden, der zu jemand anderm sagte: »Hier sind wir, Doktor! Sehen Sie,« fuhr er, seinen Kopf in den Schlitten steckend, fort, »der Patient ist noch nicht zu sich gekommen.«

Nichts hätte Romanowna in diesem Augenblick größere Freude machen können, als der Ton dieser Stimme, und dankbar nickte sie dem Fremden zu. Ein etwas älterer Herr kam nun an den Schlitten; aber kaum hatte er einen Blick auf Milna geworfen, als er ein ledernes Etui zum Vorschein brachte und daraus eine Schere nahm, mit der er den Ärmel von Milnas Kleid aufschnitt. Sodann hob er, mit Hülfe des jungen Mannes, Milna aus dem Schlitten; Romanowna folgte ihnen; sie kniete wieder nieder und bot auf diese Weise Milna eine treffliche Stütze. Dann aber bemerkte sie mit Schrecken, wie der Herr sich mit einem feinen Messerchen Milnas Arm näherte. Ein lauter Schrei entfuhr Romanownas Lippen, sie wollte die Augen schließen, um wenigstens nichts zu sehen, aber ihr war, als könne sie die Augenlider nicht bewegen. Unwillkürlich sah sie also doch, wie der Fremde, der das Messer in der Hand hielt, Milnas Arm rieb, dann das Messer an denselben führte, und wie dann ein Blutstrahl in die Höhe spritzte. Was weiter geschah, sah sie nicht, denn ihr war, als lege sich ein grauer Schleier vor ihre Augen ... sie sank bewußtlos um.


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