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Dreiundzwanzigstes Kapitel.
Romanownas Reise

»Nein, Romanowna, das thue ich nicht, ich verlasse dich nicht. Wenn du fest entschlossen bist, zu gehen, gehe ich jedenfalls mit; aber ich bin ganz der Meinung Doktor Dimsdales, daß keine von uns sehr geeignet ist für eine solche Reise, die schrecklich ermüdend sein muß. Außerdem, wie sollen wir deinen Vater finden, und was können wir nützen, wenn wir ihn gefunden haben?«

»O, sage das nicht,« bat Romanowna. »Ich muß ja leider fürchten, daß mein Vater sich schwer versündigt hat, aber glaubst du nicht, daß er tiefe Reue über seine Missethaten empfindet? Er war unzurechnungsfähig und seiner selbst nicht mächtig, als er that, was er bis zu seinem Tod bereuen wird. Ich habe heute Nacht soviel an ihn gedacht, ich sah ihn im Traum mitten in der Einöde auf einem Schneeberg stehen; die Flocken wehten buchstäblich von allen Seiten auf ihn nieder; er blickte sich ängstlich um, überall war nichts als Schnee, kalter ihm ins Gesicht schneidender Schnee. Er versuchte zu gehen, aber er war zu müde, um nur einen Schritt thun zu können, er fiel um und blieb liegen. Ich eilte auf ihn zu und blickte in sein Gesicht, und, o Milna, er sah mich so krank, so jammervoll und traurig an.

›Gott sei Dank, mein Kind,‹ sagte er, ›daß du endlich gekommen bist,‹ und dann, ach Milna, ich wollte ihm so viel sagen, ihn so viel fragen, da wurde ich zu meinem großen Kummer wach. Ich that mein Möglichstes, um wieder einzuschlafen und hoffte, meinen Traum fortzusetzen, aber ich konnte den Schlaf nicht wiederfinden, wie fest ich auch meine Augen schloß.

»Wenn ich auch nicht träumte, so dachte ich doch umsomehr. Ich that nicht wohl daran, auf Doktor Dimsdale zu hören; er hat keine Kinder und kann deshalb nicht verstehen, wie sehr mein Vater und ich einander lieben. Milna! du weißt es, wie ich meinem Vater ohne Zögern folgte und wie sehr ich ihn liebte. So lange ich ihn kenne, hat er mir nur Liebe erzeigt, und ich kann mir selbst nicht verzeihen, daß ich hier in Sicherheit sitze, während er vielleicht meiner Hilfe, jedenfalls meiner Gesellschaft und Liebe bedarf.«

Milna gab keine Antwort. Sie fühlte die Wahrheit von Romanownas Worten und sah doch so ungern, daß ihre Freundin wieder zu einem Mann ging, den sie verabscheute. Und, außerdem, wo war Pugatscheff? wie sollten sie zu ihm gelangen? Sie hatten sehr weit zu reisen und wie beschwerlich und gefahrvoll war das in dieser Jahreszeit!

Und doch wollte Milna, trotz aller Beschwerden, Romanowna nicht länger zurückhalten, ja, sie half ihr, im Gegenteil, noch, Doktor Dimsdale zu überreden, dem Reiseplan zuzustimmen. Natürlich konnten und wollten der Doktor und seine Frau in dieser Angelegenheit nichts anderes thun als raten, und als sie sahen, daß Romanowna fest entschlossen war, zu gehen, halfen sie ihr bei den Vorbereitungen zu der Reise.

Mehr als einmal hatten Romanowna und Milna dem Doktor von der alten Ottekesa erzählt und sich beunruhigt, daß ihr etwas zugestoßen sein könne, da sie seit ihrer Abreise von Tatischtschewa gar nichts mehr von ihr gehört hatten. Der gute Doktor hatte darauf, ohne seinen Gästen etwas davon zu sagen, Erkundigungen über die Alte eingezogen, die einige Tage nach Romanowna und Milna mit einem Teil der Besatzung die Reise hatte antreten sollen. Ihre jungen Herrinnen waren fest davon überzeugt, daß die Alte längst in Dmitrijewsk sei; da aber alle Nachforschungen des Doktors erfolglos blieben, sandte er endlich ein paar Leibeigne nach Tatischtschewa und erfuhr durch sie, daß die Alte sich noch immer im Schlosse befinde und mit der Besatzung täglich so viel Branntwein trinke, daß sie gar nicht verstehe, was man zu ihr sage. Die Stütze, welche die jungen Mädchen an der alten Frau haben konnten, schien sehr unzulänglich; deshalb wollte der Doktor sie nicht holen lassen, ohne erst mit ihnen darüber gesprochen zu haben. Als er ihnen den Erfolg seiner Nachforschungen mitteilte und sie fragte, ob sie die alte Frau dennoch mitnehmen wollten, sagte Milna, daß ihr sehr viel daran liege, daß Ottekesa die Reise mitmache; Romanowna war in diesem Punkte sehr gleichgültig. Ob Milna wirklich auf den Schutz und die Gesellschaft der Alten baute, oder ob sie nur alle Gründe aufsuchte, um die Abreise noch weiter hinauszuschieben, kann nicht mit Gewißheit behauptet werden; aber sicher ist, daß die Reise dadurch noch einige Tage verschoben wurde, die Romanowna ebenso viele Jahre, Milna dagegen nur Stunden zu sein schienen, denn ... aber es soll der Aufschrift dieses Kapitels gemäß von Romanownas Reise erzählt werden.

Als Ottekesa endlich angekommen war, wurde die Reise auf den folgenden Tag festgesetzt. Die alte Frau war sehr stumpf und gleichgültig und zeigte recht wenig Freude über das Wiedersehen mit ihren jungen Herrinnen. Diese waren nichtsdestoweniger sehr herzlich gegen sie, besonders Romanowna, die sie in alle Pläne einzuweihen suchte.

»Morgen,« sagte sie, »machen wir uns auf die Reise, um den guten Zaren zu suchen, und wenn wir ihn gefunden haben, werden wir alle zusammen ein ruhiges, schönes Leben führen, denn ich werde meinen Vater so lange bitten, bis er mir verspricht, an keinen Krieg mehr zu denken. Wird das nicht schön sein, Mutter Ottekesa?«

»Ja,« sagte die alte Frau gleichgültig. –

Nach dem bewußten Abend war in Romanownas Gegenwart nie mehr ein Wort über Pugatscheff gesprochen worden; sie selbst vermied auch sorgfältig dieses für alle so peinliche Gespräch und blieb immer auf ihrem Zimmer, wenn Herr Lowitz einen Besuch machte; aber jetzt war es ihr ein Genuß, mit Ottekesa von dem »guten Zaren« zu plaudern. Die alte Frau sagte wenig oder nichts zu allem, was Romanowna ihr erzählte und bestärkte diese dadurch in dem Gedanken, daß sie nichts von den Missethaten ihres Vaters wisse.

Doktor Dimsdale und seine Frau hatten der Abreise der jungen Mädchen mit Betrübnis entgegengesehen, denn sie liebten sie wie eigene Töchter; alles, was herzliche Freundschaft nur ersinnen kann, war von ihnen ausgedacht worden, um die Reise zu erleichtern. Während der ersten Reisetage hatten die jungen Mädchen wenig Unannehmlichkeiten zu bestehen; aber je weiter sie kamen, desto beschwerlicher wurde die Reise. Unter Schneestürmen kamen sie mit Lebensgefahr über die Wolga und konnten nur langsam in dem wenig bewohnten Land der Bulgaren Die Bulgaren sind ein finnisch-tatarisches Volk, das früher an der unteren Wolga wohnte (daher dieser Teil Rußlands das Land der Bulgaren heißt), und das 680 n. Chr. auswanderte, um sich in dem heutigen Bulgarien zwischen Balkan und Donau niederzulassen. weiterreisen.

Wieviel hatten die kühnen Reisenden nicht auf der Fahrt auszustehen! Sie, die an so viel Bequemlichkeiten gewöhnt waren, hatten nicht nur von der Kälte, sondern sogar vom Hunger zu leiden; und es war für sie ein wahrer Genuß, wenn sie einmal in ein Haus kamen, in dem sie etwas gefrorene Milch bekommen konnten; meist fanden sie nur einige Stücke getrockneten Fleisches und zähen, unschmackhaften Fisch.

Manchmal kam wohl die Klage über Ottekesas Lippen, sie wünsche, Petersburg niemals verlassen zu haben, und auch Milna hatte Mühe, ein heiteres Gesicht zu zeigen; aber Romanowna schien von ihrem Kummer gar nichts zu bemerken. Ihr einziger Gedanke war das Wiedersehen mit ihrem Vater, und es beängstigte sie, daß sie nun schon tagelang in der Einöde reisten, ohne eine Spur des Heeres entdeckt zu haben.

»Ach, wäre ich nur früher der Stimme meines Herzens gefolgt und ihm nachgereist,« seufzte Romanowna. »Gewiß ist mein armer Vater vor Kälte, Elend und Kummer in dieser Einöde umgekommen.«

Milna suchte ihr immer Mut zuzusprechen, aber auch sie fing an, zu fürchten, daß Pugatscheff etwas zugestoßen sei; die Nachrichten, die sie erhalten hatten, bestanden darin, daß man den Aufrührer zuletzt in dieser Gegend, in die er geflüchtet, gesehen habe und daß er sicher den Fluß Ufa nicht überschritten habe – und die kleine Reisegesellschaft war nur noch einige Tagereisen von diesem Flusse entfernt! Noch einmal zog sie etwas weiter südlich, dann wieder mehr östlich, je nach dem Rat eines Eingesessenen, nirgends aber fand sie eine Spur von dem, den sie suchte.

Als sie wieder einmal eines Abends, nachdem sie den ganzen Tag vergeblich gesucht hatte, müde und durchkältet in einer kleinen Herberge ankam, wiederholte sie die gewohnte Frage, ob man nichts von Pugatscheff wisse?

»Jawohl, jawohl, die Sachen stehen gut,« sagte die Wirtin, eine dicke, gesunde Frau, die, der Gewohnheit des Landes gemäß, so geschminkt war, daß ihr ganzes Gesicht nur eine feurige Masse zu sein schien, »sie werden ihm jetzt bald auf der Spur sein.«

»Auf der Spur?« fragte Romanowna verwundert. »Wer? wie meint Ihr das?

»Nun, sie, die ihn suchen, natürlich,« antwortete die Frau einfach. »Ja, er hat viel Böses gethan, aber er wird jetzt auch schwer dafür büßen. Denn erstens sind hunderttausend Rubel auf seinen Kopf gesetzt, verstehen Sie? Ja, hunderttausend Rubel für den, der ihn lebend oder tot in die Hände der Regierung liefert. Ich denke, wenn die Kaiserin ihn lebend bekommt, dann ...,« hier machte die Frau eine bezeichnende Kopfbewegung, als wenn sie sagen wollte: »dann werden wir etwas erleben.«

»Mein Mann,« fuhr die Frau fort, »ist als Wegweiser mitgegangen, und ich glaube wohl, daß sie ihn finden werden. Es wäre wahrhaftig ein schönes Vermögen, wenn wir den Finderlohn bekommen könnten, und mein Mann weiß den Weg so gut wie irgend einer.«

Jedes Wort der Frau gab Romanowna einen Stich ins Herz, und als Milna, die das fühlte, der Frau einen Wink geben wollte, zu schweigen, hielt sie dieselbe zurück und sagte: »Laß sie nur, es ist besser, wenn ich alles weiß.«

»Frau,« fragte Romanowna, »sagt mir, wo ist mein ... wo ist Pugatscheff?«

»Wo er ist?« wiederholte die Frau und fügte sogleich mißtrauisch hinzu: »Eben fällt mir ein, wo gehen Sie denn eigentlich hin?«

»Wir möchten gern wissen, wo er ist,« sagte Romanowna, »weil wir ihm etwas Wichtiges zu sagen haben.«

»Nun,« antwortete die Frau, »möglicherweise kommt er morgen schon hier vorbei, denn die Soldaten rechneten wenigstens so fest darauf, ihn zu fangen, daß sie schon einen Käfig für ihn mitgenommen haben.«

»Was haben sie mitgenommen?« fragte Romanowna, die sich verhört zu haben glaubte.

»Einen eisernen Käfig,« wiederholte die Frau leichthin.

»Barmherziger Vater,« flehte Romanowna, ihre Hände bittend zum Himmel erhebend. »Beschirme den Unglücklichen!«

»Kind,« rief die Frau entrüstet, »bitten Sie für den Aufrührer, der so viele Menschen unglücklich gemacht hat, der so viele Städte und Dörfer verwüstet, der ...?«

»Ich bete für meinen Vater,« sagte Romanowna mit Nachdruck.

»Armes Kind!« rief die Frau mitleidig. »Ist der schlechte Mann Ihr Vater? Aber was wollen Sie denn thun?« fragte sie plötzlich.

»Ich will zu ihm, ihn liebhaben und mit ihm für ihn beten,« antwortete Romanowna, »denn ach, er sehnt sich gewiß sehr nach mir.«

Die Frau sah Romanowna einige Augenblicke verwundert an; möglicherweise dachte sie, Pugatscheff sei einer solchen Tochter nicht wert, vielleicht ging ihr auch ein anderer Gedanke durch den Kopf, aber sie sagte nichts und fing an, eilig etwas Essen zurecht zu machen.

Ottekesa ging auf sie zu und fing flüsternd ein Gespräch über Pugatscheff mit ihr an, von dem Milna unwillkürlich einige Worte auffing, wie »eine schöne Tochter ... immer am Hof gewesen ... ein gemeiner Betrüger ... u. s. w.«

Die Worte »am Hof gewesen« fielen Milna auf.

»Wie sonderbar,« dachte sie, »daß ich noch nie darüber nachgedacht habe. Jedermann behauptet, Pugatscheff sei nicht der Zar, sondern ein Betrüger, und ich glaubte das auch, ohne weiter darüber nachzudenken; aber wenn Romanowna seine Tochter ist, muß er doch wohl Peter III. sein!«

»Romanowna,« fragte sie, »hast du wohl schon einmal darüber nachgedacht, wer du eigentlich bist?«

»Ja, ich habe mehr als einmal darüber nachgedacht und auch oft und lange mit Doktor Dimsdale darüber gesprochen, denn meine Existenz ist doch gerade ein Beweis dafür, daß mein unglücklicher Vater die Wahrheit spricht. Und,« fügte sie, in Thränen ausbrechend, hinzu, »was thut das eigentlich zur Sache, ob er der Kaiser ist oder nicht, wenn man ihn gefangen nimmt, und ... O Gott! wie ist es nur möglich, daß Du ihn und mich so schrecklich leiden läßt?«


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