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Fünfundzwanzigstes Kapitel.
Simbirsk

Wie sehr der Kutscher sich auch beeilte, so war es ihm doch unmöglich, Pugatscheff einzuholen; denn, abgesehen von dem Vorsprung, den die Soldaten hatten, konnten diese auch viel schneller reisen, da immer Vorspann für sie bereit stand.

Wer sich die Mühe nehmen will, auf der Karte nachzusehen, welche Entfernung Romanowna und Milna zurückzulegen hatten, ehe sie Simbirsk, wo Pugatscheff gefangen gehalten wurde, erreichten, der kann sich eine Vorstellung von dem machen, was die beiden zu erdulden hatten. Mutter Ottekesa war keine angenehme Reisegesellschaft, sie klagte stets über getäuschte Hoffnungen.

»Und ich,« sagte sie mehr als einmal, »die da glaubte, er sei der Kaiser, ach! wie schrecklich habe ich mich getäuscht! Ich, die ich mir so viel davon versprach, wenn er nur erst wieder die Zügel der Regierung in der Hand halte, wie bin ich betrogen worden!«

»Aber diese Enttäuschung,« bemerkte Milna, »ist doch für Romanowna noch viel schlimmer als für dich.«

»Nicht doch,« meinte die alte Frau, »Sie sind beide noch jung und können noch viel Gutes erleben, aber ich bin alt und werde deshalb nichts davon haben, daß er, der jetzt gefangen sitzt, ein besseres Leben führen und wieder zu Ansehen kommen wird; aber,« unterbrach sie sich selbst, »was spreche ich da! Man behauptet ja doch, er werde nie wieder freigelassen werden, denn ... nein, ach nein, Prinzessin, ich glaube nichts von all' den umlaufenden Gerüchten,« schloß sie, als sie bemerkte, daß Romanowna weinte.

Die Unterhaltung zwischen Romanowna und Milna kam auch nicht recht in Fluß, denn sie fühlten beide, daß Pugatscheff jetzt, da er im Gefängnis saß, rettungslos verloren sei, und keine wagte, dies der andern gegenüber auszusprechen. Tag und Nacht, im Wachen und im Traume waren Romanownas Gedanken bei ihrem Vater; einmal sah sie im Schlaf Herrn Lowitz auf einem Pfahl; dann einmal den eisernen Käfig, in dem ihr Vater saß; dann wieder war letzterer damit beschäftigt, eine Stadt in Brand zu stecken, während Grerowitz ihn in die Flammen stieß. Bald träumte sie, sie befände sich wieder am Hof und ihr Vater säße auf dem Thron, während die Kaiserin vor ihm niederkniete, oder sie glaubte sich im Kloster, wo sie die frommen Mönche singen hörte, während Pater Alexius ihrem Vater Vergebung der Sünden versprach; aber ihr Erwachen war immer viel trauriger, wenn sie sich in glücklichere Zeiten geträumt hatte, als wenn ihre Gedanken bei der Wirklichkeit geblieben waren. Alles, was herzliche Freundschaft ausdenken kann, wurde von Milna ersonnen, um Romanowna Erleichterung oder Erheiterung zu verschaffen; bald sang sie ihre einstige Gebieterin in Schlaf, während diese das müde Haupt auf ihrer Schulter ruhen ließ, bald erinnerte sie dieselbe an das eine oder andere Buch, das sie zusammen gelesen hatten; aber häufig war die Unterhaltung, wie wir bereits sagten, etwas gezwungen, oder die beiden Freundinnen saßen schweigend nebeneinander.

Endlich erreichten sie Simbirsk, wo sie sogleich Erkundigungen über Pugatscheffs Aufenthaltsort einzogen. Wie zu erwarten war, befand er sich im Gefängnisse; er sollte aber hier nicht verurteilt, sondern nach Moskau abgeführt werden, um dort seiner Strafe entgegenzusehen.

»Wir müssen sogleich versuchen, uns Zutritt in das Gefängnis zu verschaffen,« sagte Romanowna.

»Ich fürchte, daß uns das abgeschlagen werden wird,« meinte Milna.

»Sie werden mir doch nicht verweigern, meinen Vater zu sehen;« antwortete Romanowna, »und sollte mir der Zutritt nicht gestattet werden, nun, so gehe ich zu dem General Panin, dem Befehlshaber der Stadt, den ich früher schon einmal gesehen habe, und bitte ihn um die Erlaubnis, meinen Vater zu besuchen.«

Als sie am Gefängnis ankamen, hörten sie, daß alle Wachen verdoppelt worden seien, der Gefangene selbst von sechs Mann bewacht werde und niemand zu ihm dürfe.

»Lassen Sie mich doch hinein,« bat Romanowna den Aufseher, »ich möchte den Gefangenen gern sprechen.«

»Seien Sie vorsichtig, Fräuleinchen,« warnte der Schließer, »in dieser Angelegenheit wird mit solcher Strenge verfahren, daß jeder, der nur die mindeste Beziehung zu dem Gefangenen hat oder im Einverständnisse mit ihm steht, für eine verdächtige Person gehalten wird.«

»Ach, lassen Sie mich doch zu ihm,« flehte das unglückliche Mädchen.

»Glauben Sie mir, ich darf Sie nicht hereinlassen,« sagte der Aufseher, von dem bleichen Gesicht des jungen Mädchens gerührt, »es würde der ganzen Besatzung hier das Leben kosten, wenn der Gefangene entkäme, oder wenn er ein Mittel fände, sich selbst das Leben zu nehmen.«

»Wie sieht mein ... wie sieht er aus?« fragte Romanowna leise.

»Wie er aussieht?« wiederholte der Schließer lachend, »nicht sehr liebreizend, mein schönes Fräulein, denn er hat mehr von einem wilden Tiere an sich als von einem Menschen. Er ist auf der Reise wohl etwas mißhandelt worden, aber das schadet nichts, sitzt er doch jetzt fest.«

Milna zog Romanowna rasch fort und hinderte sie dadurch, dem Schließer ihre Erregung zu zeigen.

General Panin war ein sehr strenger Mann, der an jenem Tag von niemand gestört sein wollte, und so konnten die beiden Mädchen kein Gehör bei ihm finden. Sie mußten, so wenig Lust sie auch dazu hatten, ruhig in der Wohnung, in die sie ihren Einzug gehalten hatten, abwarten, ob sie am folgenden Tag den General sprechen könnten.

»Romanowna,« sagte Milna zu ihrer Freundin, »du siehst sehr ermüdet aus und du hast in der letzten Zeit so wenig geschlafen, daß ich dir bestimmt rate, dich zu Bett zu legen.«

Romanowna sträubte sich erst etwas dagegen, ließ sich aber endlich überreden und begab sich zu Bett, wo sie zwar bald einschlummerte, aber auch ebenso bald wieder wach wurde. Milna saß am Tische und war eifrig mit Schreiben beschäftigt. Sie saß so, daß Romanowna ihr gerade ins Gesicht sehen und dadurch bemerken konnte, daß die Freundin von Zeit zu Zeit eine hervorquellende Thräne abwischte.

»Milna weint,« dachte Romanowna. »Weshalb kann das wohl sein? Sie hat doch keinen Kummer; ihr Vater ist als braver und gläubiger Mensch gestorben. Er starb so, wie jeder zu sterben wünschen sollte, in den Armen seiner Tochter, während mein Vater ... wer weiß, ob er nicht elend umkommen wird in dem schrecklichen Gefängnis, oder wenn er nicht stirbt, was soll dann aus ihm werden? Wird Katharina jemand am Leben lassen, der sich so viel zu schulden kommen ließ, und den sie schon, als er noch unschuldig war, töten lassen wollte? Es ist nicht wahrscheinlich! Warum aber sollte Milna weinen, und an wen kann sie schreiben?« dachte Romanowna weiter, denn sie sah, als diese ein Blatt umschlug, daß sie einen Brief schrieb.

Fast von dem Augenblick an, da Pugatscheff in dem Gefängnisse zu Kasan gesessen hatte, war Romanowna so sehr von ihrem eigenen Schmerz erfüllt gewesen, daß sie gar nicht darüber nachgedacht hatte, wie sehr Milna mit ihr litt, und wie diese ihr ganzes Leben der Freundin und deren Vater geopfert hatte.

Auf einmal fiel ihr ein, wie selbstsüchtig sie doch gewesen sei. »Die arme Milna,« dachte sie, »hat soviel, ja vielleicht noch mehr zu tragen als ich, denn sie leidet im stillen, während ich sie immer an allem teilnehmen lasse, was mich betrifft. Nein, das geht nicht länger so, ich will nicht immer nur an mich denken, ich muß wissen, was sie bekümmert,« dachte sie, und fragte, während sie sich aufrichtete: »Milna, warum weinst du?«

Das junge Mädchen fuhr erschreckt zusammen, schob den Brief hastig unter einige Sachen, die auf dem Tisch lagen, wischte verstohlenerweise ihre Thränen mit der Hand ab und sagte dann, auf das Bett zugehend mit teilnehmender Stimme: »Wie geht es dir, konntest du nicht schlafen? Das thut mir leid. Warte, ich will deine Kissen ein wenig aufschütteln und die Vorhänge zuziehen! es ist vielleicht nicht dunkel genug.«

»Nein, danke, es geht mir viel besser als dir,« sagte Romanowna, »du leidest ...«

»Mir geht es ganz gut,« sagte Milna hastig und suchte Romanownas Gedanken durch einen Scherz abzuleiten; aber es gelang ihr nicht.

»Höre, Milna,« sagte Romanowna »ich ärgere mich selbst, daß ich so gar nicht an dich dachte, aber ich war so vollständig von meinem Vater erfüllt, daß ich eigentlich erst jetzt einsehe, wie selbstsüchtig ich gewesen bin. Aber trage mir das nicht nach und teile mir mit, was dich so betrübt.«

»Ich dachte an unsere Zukunft,« sagte Milna ausweichend.

»Unsere Zukunft?« wiederholte Romanowna langsam. »Ja, die sieht traurig aus. Willst du mir glauben, daß ich nicht zu fragen wage, was wir anfangen werden, wenn ... wenn mein Vater einmal nicht mehr ist? O Milna,« fuhr sie, in Thränen ausbrechend, fort: »wie sehr sind wir doch zu beklagen. Ach, wie werden wir nur die endlose Nacht verbringen? Gehst du noch nicht zu Bett?« fragte sie nach einigen Augenblicken.

»Sogleich,« war die Antwort.

»Aber Milna,« fragte Romanowna, der jetzt der Brief wieder einfiel, »an wen schriebst du denn eben?«

»Ich,« sagte Milna, »o, an niemand, ich glaubte dich eingeschlafen und probierte nur einmal, ob ich das Schreiben unter den Baschkiren noch nicht verlernt habe. Wie schrecklich, daß das Volk so unwissend ist. Wenn ich Kaiserin wäre, würde ich regelmäßig durch das ganze Land reisen, um zu sehen, ob meine Gesetze gut befolgt werden; denn es ist doch schändlich, daß hier sozusagen noch gar keine Schulen sind. Würdest du das nicht auch thun?«

»Ach, ich weiß es nicht,« antwortete Romanowna, »das Regieren ist mir nie sehr begehrenswert erschienen, und ich verstehe mehr und mehr, daß es sehr schwer ist, ein Land gut zu regieren. Nun ist es ja gut, daß das mein Ideal nicht war, denn es würde doch nicht verwirklicht werden.«

»Wer weiß!« sagte Milna scherzend.

»Ach nein, das ist Thorheit,« versetzte Romanowna, »und führt uns von unserem Gespräch ab. Sage mir lieber, was dich zum Weinen veranlaßt hat, denn ich lasse mich nicht zurückweisen durch deine Behauptung, daß es nichts sei. Du bist ein viel zu verständiges Mädchen, um ganz ohne Grund zu weinen, wenn du dich allein glaubst!«

Milna antwortete nicht, und darum fuhr Romanowna fort: »Ja, liebe Milna! Du hast alle Ursache, mich nicht zur Mitwisserin deines Geheimnisses machen zu wollen, weil ich so lange Zeit nicht an dich gedacht habe, aber ...«

»Meines Geheimnisses!« rief Milna verwundert, »woher weißt du das? ich habe kein Geheimnis!«

»Nun, das wird immer schöner,« sagte Romanowna; »du weinst während des Schreibens und wenn ich frage, was dir fehlt, stellst du dich, als ob gar nichts wäre. Warum bist du denn so geheimnisvoll, Milna? Bis jetzt teilten wir alles miteinander, sage mir, warum du mir jetzt weniger Vertrauen schenkst?«

»Das thu' ich nicht,« versetzte Milna lebhaft, »aber diese eine Sache kann ich dir nicht mitteilen.«

»Ist es denn nicht etwas, was dich betrifft?« fragte Romanowna.

»Nein, ja, nein, eigentlich doch nicht,« stammelte Milna, »ach wahrhaftig,« fügte sie hinzu, »ich habe keine Geheimnisse vor dir, aber das kann ich dir wahrhaftig nicht sagen und ... was ist das?« riefen die beiden Mädchen zu gleicher Zeit, als ein lauter Schrei durch das Haus tönte.

Milna eilte aus dem Zimmer und kam sogleich zurück, um Romanowna zu beruhigen. »Die alte Ottekesa stand in Brand,« berichtete sie, »oder vielmehr ihre Haube war in Brand geraten, als sie wieder hinter dem Ofen in Schlaf gefallen war. Die alte Seele ist noch sehr erschrocken, und ich will bei ihr bleiben, bis sie sich beruhigt hat. Lege dich nur wieder. Der ganze Vorfall hat wahrhaftig nichts zu bedeuten,« fuhr Milna fort, als Romanowna aufstehen wollte. »Komm, ich will dich zudecken; gute Nacht!«


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