Friedrich Gerstäcker
Die Blauen und Gelben
Friedrich Gerstäcker

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In der Stadt.

»Waffenstillstand« – es ist merkwürdig, welchen Eindruck dieses Wort auf die verschiedenen Parteien hervorbrachte, denn niemand war sich so recht klar, was eigentlich damit bezweckt oder gewonnen werden sollte, die Männer vielleicht ausgenommen, die ihn abgeschlossen hatten: Bruzual und Mig. Ant. Rojas.

Welchen Vorteil konnte der Stillstand der Regierung bringen, wenn sie nicht wirklich willens war, nachzugeben und die Forderungen der Revolution zu bewilligen – und dagegen wühlten natürlich die zahllosen Beamten und Generale, denn sie sahen ihre Existenz bedroht. – Oder bezweckte Rojas am Ende gar, eine Art von Vergleich mit dieser Regierung abzuschließen, der dann noch eine Weile alles beim alten gelassen und die Revolution nur hinausgeschoben hätte? – Das konnte das Land gar nicht vertragen, und das ganze Volk wäre endlich doch, in reiner Verzweiflung, dagegen aufgestanden. – Oder wartete Rojas nur auf Monagas' Ankunft, um mit diesem vereint zu wirken? Es schien das kaum so, da er die Sache ziemlich selbständig in die Hand nahm.

Übrigens mußte der Erfolg, dem man freilich von beiden Seiten mit Spannung entgegensah, abgewartet werden, denn die Regierung zog ihre Truppen in die Stadt zurück, während die Führer der Reconquistadoren ebenfalls Befehl bekamen, keinen weiteren Angriff zu versuchen, bis die beiden Chefs selber den Waffenstillstand für abgelaufen erklärten.

So vergingen mehrere Tage, und außer den unbestimmten Gerüchten, die im Publikum umliefen, erfuhr man nichts Genaueres. Wohl aber kamen Depeschenträger fortwährend aus einem Lager ins andere, und besonders tätig war dabei Oberst Bermuda, der als Rojas' Gesandter die Verhandlungen in Caracas selber zu führen und sehr vertraut mit Bruzual zu sein schien.

Am 9. Mai kam plötzlich Order, daß die Blauen Palogrande, eine der Vorstädte von Caracas, besetzen sollten, und sie rückten dort ein, was unter den Regierungstruppen schon böses Blut machte.

Am 10. Mai erschienen wieder einige Hundert Mann auf dem Calvarienberg dicht bei der Stadt, und jetzt rückten eine Anzahl von Generalen auf eigene Faust aus und griffen sie an, wurden aber, ehe der Kampf entschieden werden konnte, wieder abberufen.

Am 13. erschien endlich das Programm, über welches sich beide Teile vereinigt hatten, und wonach die Partei der Reconquistadoren die Regierung Bruzuals anerkannte. – Das war ein Schlag gegen die Blauen; zu gleicher Zeit aber wurde ausbedungen, daß die Regierung in Caracas ihre sämtlichen Truppen zu entlassen hätte, und Rojas es dann übernehmen würde, die in Revolution befindlichen Provinzen zu beruhigen und zum Niederlegen der Waffen zu bewegen. – Das war ein Schlag gegen die Gelben, und die zahllosen Generale gerieten außer sich.

Am Sonnabend, dem 15. Mai, hielten die Blauen mit dreitausend Mann ihren Einzug in Caracas und wurden in den Vorstädten einquartiert; die alten Truppen der Regierung dagegen mit zirka siebzehnhundert Mann behielten ihre früheren Quartiere im Mittelpunkt der Stadt, und die Bewohner von Caracas befürchteten nicht mit Unrecht eine Revolution unter der Truppe selber, die von den Generalen in der entschiedensten Weise aufgehetzt wurde.

Am nächsten Tage ließen sich fünf Generale bei Bruzual, der jetzt als Präsident angesehen wurde, melden und baten um eine Audienz. Sie waren von ihren Kameraden gewählt worden, um Aufschluß über den Stand der Dinge zu erhalten, und traten ziemlich entschieden auf. Bruzual empfing sie sehr freundlich.

»Sennores,« sagte er, nachdem der eine von ihnen seine Anrede gehalten und seinen Gegenstand erschöpft hatte – »was wollen Sie eigentlich? Unsere ganze Armee besteht aus etwa siebzehnhundert Mann. – Dagegen haben wir die ganze Stadt und die Bevölkerung und vorderhand etwa dreitausend Reconquistadoren gegen uns. Monagas ist außerdem auf dem Marsch und muß in der nächsten Zeit hier mit einigen Tausend Mann eintreffen. Wollen Sie das Äußerste auf einen Kampf setzen, bei dem Sie alles verlieren, oder höchstens eine Verzögerung unserer Niederlage gewinnen können, oder glauben Sie es mir überlassen zu dürfen –, ob ich für Ihr Bestes und dabei auch für das Wohl des Landes sorge?«

»Wir haben Ihnen bisher unbedingt vertraut, Sennor,« rief der Wortführer, »aber was wir hier hören und sehen, zwingt uns eine andere Meinung auf. Unser ganzes Militär soll entlassen werden – doch was geschieht nachher mit uns?«

»Meine Herren,« erwiderte Bruzual ruhig, »Militär müssen wir in Venezuela unterhalten und brauchen dazu auch Generale, wenn auch vielleicht nicht so viele, als wir gegenwärtig besitzen. Aber Sie haben doch auch gesehen, daß selbst Präsident Falcon die in diesen Rang Eingetretenen zu anderen und nützlichen Zwecken verwandt hat, ohne daß ihr Einkommen dadurch geschmälert worden wäre. Ist es allein der Bestand des Heeres, an dem Sie hängen?«

»Sennor,« sagte der General etwas verlegen, »das Heer ist eigentlich so zu sagen das Institut, in dem wir uns am rechten Platze fühlen.«

»Aber –«

»Aber,« fuhr der General fort, »wenn wir die Gewißheit bekämen, daß der Staat –«

»Ihre Dienste auch noch auf andere Weise gebrauchen könnte, wie?«

»Das ist etwa das, was ich sagen wollte –«

»Gut, meine Herren,« erwiderte Bruzual – »wenn ich Sie nun darüber beruhige, wollen Sie mir das andere überlassen, und mir glauben, wenn ich Ihnen sage, daß ich nur unser Bestes im Auge habe?«

»Ich für meinen Teil bin damit zufrieden,« erwiderte der das Wort führende General entschlossen.

»Ja – wir auch« – meinten die anderen – »wenn man nur etwas Bestimmteres wüßte.«

»Meine Herren,« fuhr Bruzual fort, »daß ich geheime Verhandlungen nicht in die Zeitung setzen darf, werden Sie mir zugeben. Die Sache ist so delikat und muß so delikat geführt werden, daß ein näheres Aussprechen darüber, was einer Veröffentlichung gleichkommen müßte, nicht möglich ist. So viel kann ich Ihnen aber sagen, daß mir alles daran liegt, die Sache zu einem Abschluß zu bringen, ehe Monagas von Barcelona hier eintrifft – und – ich bin dazu vielleicht imstande, wenn Sie mir beistehen. Dann aber freilich dürfen keine solchen Übergriffe wieder vorkommen, wie der Kampf am Calvarienberg, der fast alles in Frage gestellt hätte. Ich muß Ihr volles Vertrauen besitzen.«

»Und die Blauen, die in den Vorstädten liegen? Es ist doch eigentlich eine Schmach, daß wir es dulden.«

»Ich gebe Ihnen mein Wort, daß wir auf diplomatischem Wege mehr erreichen als durch Gewalt – wenigstens in Bezug auf das, was unser nächstes Ziel sein muß – eine Sicherung und Feststellung unserer Interessen, wobei wir natürlich zugleich das Beste des Landes fördern. Ich glaube, Sie stimmen mir darin bei?«

»Vollkommen, Sennor,« erwiderten die Generale, die weiter gar nichts als die erste Versicherung verlangten. – Was ging sie das Beste des Landes an – vom Lande hatte sie nichts zu hoffen.

Der Sturm war beschwichtigt – das Korps der Generale verhielt sich von der Zeit an ruhig, und die Verhandlungen mit Rojas konnten ihren ungestörten Gang nehmen. Ja, man hätte die Revolution als beendet ansehen können, wenn sich die Masse der Reconquistadoren so ruhig gefügt und den Waffenstillstand so gleichgültig mit angesehen hätten, als die Regierungstruppen – aber Rojas hatte es hier mit anderen Elementen zu tun, und zwar solchen, die für sich keinen Vorteil, wohl aber die Erlösung des Landes von einer Militärdespotie forderten, welche alles zugrunde richtete.

Monagas rückte näher, und Rojas fing nicht allein an die Truppen der Blauen aus den Vorstädten herauszuziehen, sondern wandte sich auch selber wieder gegen Valencia, um dort, wie er sich ausdrückte, die Revolution zu pazifizieren und die sich noch bildenden Streifkorps aufzulösen. Er suchte jedenfalls die Masse der Reconquistadoren soviel wie möglich von Caracas abzurufen, und hoffte dadurch wohl seinem Nebenbuhler Monagas jede Möglichkeit zu nehmen, den Frieden wieder zu brechen und auf eigene Faust mit seinem dafür viel zu schwachen Heer die Hauptstadt zu besetzen.

Man war jetzt in beiden Lagern gespannt, zu erfahren, welcher Partei sich der alte, starrköpfige Monagas anschließen würde, da er gar nicht mehr imstande schien, eine eigene zu bilden. Monagas ließ sie aber nicht lange darüber in Zweifel. Schon ehe er das Tal von Caracas erreichte, eilten seine Boten voraus und überbrachten eine Erklärung, daß er den zwischen Bruzual und Mig. Ant. Rojas geschlossenen Vertrag nicht anerkenne, da er das Beste des Landes nicht darin sehen könne, daß Bruzual Diktator bleibe und Mig. Ant. Rojas vielleicht Kriegsminister würde. Er forderte unbedingte Räumung von Caracas durch die Gelben und setzte sich, als er endlich anlangte, und die Hauptstadt halb umgangen hatte, oben in Petare, unweit Las Ajuntas, mit etwas über zweitausend Mann fest.

Wie ein Lauffeuer zuckte aber die Kunde durch die Lager der unzufriedenen Blauen, und Rojas wurde von ihnen aufgefordert, sich mit Monagas zu vereinigen. – War der Vertrag doch schon von der Regierungspartei gebrochen, oder vielmehr gar nicht erfüllt worden, indem sich das Heer der Gelben nicht etwa aufgelöst hatte, sondern im Gegenteil seine Stellung in der Stadt mit jedem Tag mehr befestigte – ein sicheres Zeichen, daß sie jedem Näherrücken der Blauen mit gewaffneter Hand begegnen wollten.

So standen etwa die Sachen Anfang Juni, gespannt bis zum äußersten, Mißtrauen überall und Bruzual nur noch in der Hoffnung, daß er durch ein geschicktes Spiel die beiden Hauptanführer der Revolution entzweit und das ihm gefährliche Heer in zwei Teile gespalten habe.

Die Regenzeit hatte indessen in den Bergen schon tüchtig eingesetzt. Die kleinen Flüsse, die man sonst bequem durchwaten konnte, waren zu mächtigen Bergströmen angeschwollen, die Nebenstraßen in einen flüssigen Lehm verwandelt, aber zugleich grünte und blühte es auch, und das ganze wunderbar schöne Land verwandelte sich in einen Garten.

In den Kaffeepflanzungen standen für kurze Zeit die Bäume in voller Blütenpracht; so weiß, als ob sie beschneit wären; die Hänge, in denen bis dahin noch immer Feuerstellen sichtbar waren und ihren trüben Rauch in das Tal hinabgedrückt hatten, prangten in frischem, saftigem Grün. In den Feldern, wo eine Menschenhand gewagt hatte die Saat einzulegen, brach sich das junge Welschkorn lustig Bahn, und Schmetterlinge und Kolibris gaukelten um die aufgebrochenen Blumen. – Es war Frühling in der Natur geworden, aber nicht in den Herzen der Menschen, die ihre Waffen nur fester und zorniger hielten, und trotz des scheinbar abgeschlossenen Vertrags mit jedem Tag den Ausbruch neuer Feindseligkeiten – ja, jetzt den entscheidenden und deshalb um so blutigeren Kampf erwarteten. Daß indessen Handel und Gewerbe daniederlagen, versteht sich von selbst. Wer sollte irgend etwas unternehmen, wo man nicht der nächsten Stunde sicher war.

Den Weg, der von Chacao breit und bequem in die Hauptstadt hineinführte, kam ein Mann herab im strömenden Regen. Er hatte den Filzhut in das Gesicht, die Cobija fest um die Schultern gezogen, und schritt nach vorn gebeugt, seine Bahn entlang, der nicht mehr fernen Stadt zu. Er passierte wohl verschiedene Häuser, in denen Bekannte von ihm lebten, aber er kehrte trotz des Wetters nirgends ein. Still und rastlos wanderte er vorwärts, bis er die Straßen der Stadt erreichte und dort durch die vorspringenden Dächer etwas geschützt war. Hier ging er langsamer, aber ohne anzuhalten, bis er das Haus der Sennora Corona erreichte. Dort vor der Tür blieb er stehen, um das Wasser von seinem Hut ablaufen zu lassen; dann klopfte er, und wenige Minuten später öffnete Juan die Tür.

»Ist die Sennora zu Hause?«

»Nein,« erwiderte der Bursche, wie er den Alten erkannte, »was wollt Ihr denn nur schon wieder?«

»Das geht dich gar nichts an, mein Junge,« sagte Tadeo, der sich jetzt aus seiner zugeknöpften Cobija herausschälte, »und du lügst auch, denn bei dem Wetter ist sie nicht ausgegangen.«

»Gut – dann ist sie nicht zu sprechen,« entgegnete der Bursche trotzig und wollte die Tür wieder zuschlagen. Tadeo setzte aber den Fuß davor und sagte ernst und mit nur mühsam niedergehaltenem Zorn:

»Höre mich an und bringe deiner Sennora die Worte genau, die ich dir jetzt vorspreche, denn dies ist das letztemal, daß ich an ihre Tür komme. Melde ihr nur, der alte Tadeo, – kannst du den Namen behalten?«

»Ich weiß, wie Ihr heißt,« brummte Juan mürrisch.

»Desto besser, der alte Tadeo also hätte gesagt, wenn ihn die Sennora diesmal wieder von ihrer Tür schicke, dann möge sie sich auch die Folgen selber zuschreiben. Hast du mich verstanden?«

»Es war deutlich genug,« brummte Juan.

»Gut,« sagte der Alte, »dann will ich hier noch zehn Minuten vor der Tür im Regen stehen bleiben. Wenn du bis dahin nicht zurück bist, gehe ich meiner Wege; jetzt marsch« – und den Fuß wieder zurückziehend, ließ er den Burschen, der darauf schon lange gewartet hatte, die Tür zuschlagen und lehnte sich geduldig an die Mauer an. Es dauerte aber keine zehn Minuten, so öffnete sich die Tür wieder, und der indianische Junge, mürrisch genug, weil er sich ärgerte, daß seine Autorität diesmal nichts gegolten hatte, erschien wieder am Eingang und meldete:

»Ihr sollt hereinkommen, – die Sennora will Euch sprechen; aber macht's kurz, es liegt jemand krank im Hause.«

»Jemand? Wer ist das?« fragte der Alte, indem er der, wenn auch nicht gerade höflichen Einladung Folge leistete.

»Jemand, Ihr kennt ihn doch nicht, also kann's Euch gleich sein. Caramba, Ihr trieft ja und werdet das ganze Haus unter Wasser setzen.«

»Tut mir leid,« brummte der Alte, »kann's aber nicht ändern, denn unser Herrgott schickt den Regen, und wir müssen ihn nehmen, wie er kommt. Eine Gottesgabe ist's außerdem, denn wir haben ihn notwendig gebraucht, und dem Steinboden hier wird er wahrscheinlich keinen Schaden bringen.« Damit trat er in den Gang hinein, schüttelte sich dort, so gut es eben gehen wollte, ab und folgte dem Burschen auf die Veranda, wo er die Sennora ihn erwarten sah. Juan verschwand auf ein Zeichen von ihr hinten in der Küche, und er war mit ihr allein – aber selbst dem Alten mußte die Veränderung auffallen, die mit der Frau vorgegangen war, seit er zum letzten Male in ihrem Hause gewesen.

Damals trug sie sich straff und stolz. Sie ging einfach gekleidet, aber sauber, und hatte besonderen Fleiß auf das Ordnen ihres Haares verwandt, – hielt sie sich doch selber noch immer für eine stattliche Frau. Aber wie verändert hatten sie die wenigen Wochen, in denen Tadeo sie nicht gesehen. Das schon grau gemischte Haar war ungekämmt in einen unordentlichen Zopf zusammengedreht. Noch spät am Nachmittag trug sie ihren Morgenrock, der ihr zerknittert und lose am Körper hing, und wie unstät dabei ihr Blick herüber und hinüber flog, und an keinem Punkt auch nur eine Sekunde lang haftete.

Sie kam gerade aus einer der Vorderstuben, als Tadeo durch den Gang den Hof erreichte, und ohne auch nur ein Wort der Begrüßung für nötig zu halten, fuhr sie auf ihn ein und rief:

»Quält Ihr mich auch noch? Was ist es, daß Ihr Euch an meine Fersen hängt? Was hatte ich mit dem alten Manne zu tun? Laßt ihn in seinem Grabe ruhen und mich in Frieden. Gott da oben weiß es, ich habe Sorge und Herzeleid hier auf Erden genug.«

»Ich weiß nicht, wovon Ihr redet,« erwiderte Tadeo. »Der alte Mann ruht nicht in seinem Grabe, sondern er lebt, sonst würde ich Euch wahrlich nicht belästigt haben.«

»Er lebt?« rief die Sennora und sah Tadeo starr und wie erschreckt an.

»Seid Ihr darüber so erstaunt? – Warum soll er nicht leben? – Ist er doch körperlich so gesund wie wir; nur sein Geist wandert, und wenn er nicht verhungert, mag er sich noch manches Jahr seines Lebens freuen.«

»Verhungert?« rief die Frau, die sich gewaltsam faßte, denn der Mann durfte nicht ahnen, was in ihrem Herzen vorging.

»Ja, Sennora, ich bin jetzt viermal an Ihrem Hause gewesen und jedesmal abgewiesen worden, und wir haben indessen da draußen beinah' gelebt wie das Wild im Walde. Zuerst kamen die Regierungstruppen, die so lange an uns zehrten, bis sie einsahen, daß wir selber nicht einmal genug für uns zum Leben hatten. Dann kamen die Blauen, dann die Gelben wieder. Was wir pflanzten, wurde uns zerstört. Sobald die jungen Pflanzen nur die ersten Blätter über dem Erdboden zeigten, trieben die Soldaten, welcher Partei sie auch angehörten, ihre Tiere hinein. Das letzte Huhn wurde uns genommen, das letzte Brot, und mein Weib und ich haben oft gedarbt und das Notwendigste entbehrt, nur damit der alte Mann seinen Hunger stillen konnte. Jetzt weiß ich nicht mehr, wo ich etwas herschaffen soll, und wenn Ihr Eure Hand von uns abzieht, so muß ich mich an die Regierung wenden, damit sie den Geisteskranken in ihre eigene Pflege nimmt. Ich habe getan, was ein Mensch tun kann, und mein Wort, das ich Euch gegeben, ehrlich und treu gehalten; aber das Wort reicht nur so weit, wie Menschenkräfte überhaupt reichen. Die haben eine Grenze, und an der Grenze steh' ich jetzt.«

Die Frau strich sich mit der Hand über die Stirn, während ihr Blick fest an dem Indianer haftete. Es war, als ob sie ihn um etwas fragen wollte, aber sie wußte nicht, wie – sie sann und sann und verstand darum nur undeutlich den Sinn von dem, was er ihr sagte. Endlich, nach einer langen Pause, fragte sie leise:

»Wie geht es dem alten Manne?«

Tadeo seufzte. »Eine ganze Weile,« erwiderte er, »ging es ihm gut. Er war ruhig und geduldig und wechselte nur manchmal mit seinen Träumen, denen er den ganzen Tag nachhing. Einmal putzte er sich heraus, weil er fortwährend erwartete, daß der Wagen vorfahren sollte, um ihn zu einer Gesellschaft zum Präsidenten abzuholen – dann grub er wohl eine Woche lang kleine Gräber in dem Garten, weil er behauptete, seine kleine Manuela sei gestorben, und er müsse sie dort hineinlegen.«

Der Stuhl, an dem die Dame stand, zitterte so stark, daß sie ihn loslassen mußte und ihre Arme fast wie fröstelnd zusammenfaltete.

»Das hat er jetzt aufgegeben,« fuhr Tadeo fort, »und ist nun wieder in dem Wahn, den er schon früher einmal gehabt hat, daß ihn der Präsident gefangen halte, weil er sein Recht von ihm fordere und es nicht bekommen könne. Die ganze Zeit war er ruhig und harmlos, jetzt aber, seit wir die vielen Durchzüge von Soldaten gehabt, scheint der böse Geist wieder über ihn zu kommen. Wenn er nur eine Trommel oder Trompete hört, fährt er in die Höhe und will hinaus, und ich und meine Frau brauchen dann alle unsere Kräfte, um ihn zurückzuhalten. Neulich, wie die Blauen wieder durchzogen, mußten wir ihn sogar in seine Kammer sperren, denn er wollte mit Gewalt auf die Straße, und als sie vorüber waren, rüttelte er an den Fensterstäben und schrie, hier wäre ein Gefangener, den sie befreien sollten. Glücklicherweise hörten sie ihn nicht mehr, und es gelang mir nach und nach ihn zu beruhigen.«

»Aber ich habe Euch doch Medizin gegeben,« sagte endlich die Sennora, und ihre Blicke schienen sich dabei in Tadeos Züge hineinzubohren, »weshalb, habt Ihr ihm die nicht gegeben, oder was ist damit geschehen?«

»Geschehen, nichts,« erwiderte der Indianer, »ich habe sie noch zu Hause, wollte sie aber nur im äußersten Notfall anwenden, denn ich fürchtete, daß es ihn sehr angreifen würde. Er ist ja so schwach und gebrechlich und hat sich auch die Zeit über vollkommen ruhig verhalten. Nur wie er sich zuletzt wieder einbildete, daß ihn der Präsident gefangen halte, fing er an, wie ich Euch schon gesagt habe, unruhig zu werden. Früher konnte ich auch einmal hier und da im Ort auf Arbeit gehen, und wenn ich nur ein paar Centabos verdiente. Nun ist das auch vorbei, weil ich nicht wagen kann, den Alten den ganzen Tag mit meiner schwächlichen Frau allein zu lassen. Trotzdem bin ich hier nach Caracas die vielen Male hereingelaufen und – ward jedesmal an der Tür wie ein gemeiner Bettler abgewiesen. Ich habe ein solches Leben auch satt,« setzte der Indianer finster hinzu, »und Ihr müßt da eine Änderung treffen, Sennora, oder – es ist mir gleichgültig, was nachher geschieht.«

Die Sennora hatte schweigend und düster vor sich niedergesehen.

»Weshalb habt Ihr ihm die Medizin nicht gegeben?« wiederholte sie, die buschigen Brauen runzelnd, »er wäre gesund geworden und hätte Euch lange nicht so viel Sorge mehr gemacht, und glaubt mir, ich habe Sorge und Not genug im Hause. Meine Tochter liegt schwer krank, und durch die unselige Revolution sind mir alle Hilfsquellen abgeschnitten. Aber ich sehe ein,« setzte sie ruhig hinzu, »daß Ihr in dieser Zeit eine Unterstützung bedürft – da, nehmt das – ich habe jetzt selber nicht mehr; aber richtet Euch damit ein, denn es wird lange dauern, bis ich Euch wieder etwas geben kann« – und sie reichte ihm eine Unze in Gold, die der Mann nahm und dankend in die Tasche steckte. »Und nun geht,« setzte sie mit einem Seufzer hinzu – »ich muß zu meinem Kind zurück – ich darf sie nicht so lange allein lassen.«

Der Mann zögerte – es war, als ob er noch etwas auf dem Herzen habe, was er sich scheute auszusprechen. Die Sennora sah ihn erwartend an.

»Nun? – Wollt Ihr noch etwas?«

»Erlaubt mir eine Frage, Sennora?« sagte Tadeo. »Ihr wißt, daß ich mein Wort gehalten und mich auch nie um die Familienverhältnisse Eures Hauses gekümmert habe –«

»Was soll das?« rief die Sennora rasch und streng – »was gehen sie Euch an? Was wollt Ihr überhaupt mit der Frage?«

Tadeo sah eine Weile schweigend vor sich nieder, endlich sagte er:

»Es war gestern ein Sennor aus dem Innern bei mir; er wohnt drüben an der Lagune von Valencia.«

»Nun? Und was suchte der bei Euch? Wie hieß er?«

»Castilia – Antonio Castilia. – Mein Neffe, der Felipe, kennt ihn gut und ist dort viel im Hause – es soll ein sehr reicher und vornehmer Herr sein.«

Sennora Corona stand da wie in den Boden gewurzelt; ihre Hand hatte krampfhaft die Lehne des nächsten Stuhles erfaßt, auf die sie sich aber nicht stützte, sondern sie eher zu sich in die Höhe zog. Ihr Antlitz war totenfahl geworden, ihre Augen hafteten stier, aber wie leer, an dem Indianer, und es war fast, als ob sie ihn gar nicht sähe, sondern ein anderes furchtbares Bild vor ihrer Seele erblicke. Da plötzlich strich sie mit der flachen Hand über die Stirn und die wirren Haare, und in ein heiseres, unheimliches Lachen ausbrechend, rief sie:

»Das ist recht – nur das hat mir noch gefehlt, und wenn der Teufel einmal kommt –« sie schwieg, und der Ausdruck in ihren Zügen hatte etwa Dämonisches angenommen. Aber der Indianer durfte nicht wissen, was in ihrem Herzen vorgehe. Mit dem Schlimmsten vor sich, war sie fest entschlossen, dem Schlimmsten die Stirn zu bieten, und dazu mußte sie vor allen Dingen klar in der Sache sehen. Eine kurze Minute genügte, sich vollständig zu fassen, und sie sagte jetzt mit vollkommen ruhiger Stimme:

»Nun also, Tadeo, was hat der sehr reiche und vornehme Herr – wie hieß er gleich?«

»Castilia, Sennora.«

»Also dieser Herr Castilia von Euch denn gewollt?«

»Von mir eigentlich gar nichts,« meinte der Indianer, »er fragte mich nur nach Euch und woher Ihr stammtet.«

»Nach mir? Und zu dem Zweck kam er zu Euch? Wie konnte er vermuten, daß Ihr eine Ahnung von meiner Existenz hättet, wenn Ihr nicht Euren Schwur gebrochen und geschwatzt habt, he?«

»Sennora,« sagte der alte Indianer, die Achseln zuckend, »von dem, was ich schwatze, wird wohl schwerlich jemand etwas erfahren. Ich verkehre mit niemandem, der nicht zu mir kommt, und spreche auch dann nur das Notwendigste.«

»Aber wie kam er dann zu Euch?«

»Er wird wohl erfahren haben, daß ich vom Orinoco herübergekommen bin – die Familie meiner Frau wußte ja doch, wo sie sich verheiratet hatte, denn daraus konnte ich kein Geheimnis machen.«

»Aber woher wußte er, daß Ihr mich kennt?«

»Ich kann nicht genau sagen, Sennora, ob er das überhaupt wußte; die Frage nach Euch tat er, als ob er selber Euch kenne. Er fragte mich, ob ich ihm nicht sagen könne, wer Euer früherer Mann, der am Orinoco gestorben – gewesen sei, und woher er gestammt habe. Es interessiere ihn das zu wissen, da er selber den Namen führe.«

»Und was antwortetet Ihr ihm?«

»Ich wisse es nicht; ich habe wohl für den Herrn früher gearbeitet, aber mich nie darum bekümmert, woher er stamme, auch nie danach fragen mögen; ich glaube aber aus dem Staat Guayana.«

»Gut,« sagte die Sennora, »und dann?«

»Dann wollte er wissen, ob die junge Dame, mit der Ihr hierher gezogen wäret, das Kind Eures früheren Mannes sei.«

»Caramba!« rief die Sennora, und ein trotziges Lächeln flog über ihre Züge, »der Herr erkundigte sich ja sehr genau nach meinen Familienangelegenheiten – und Ihr?«

»Guter Gott, ich habe die junge Dame selber noch nicht einmal gesehen, was konnt' ich ihm darüber sagen? Ich wußte nichts.«

Die Dame sah ihn düster an. Es lag ihr noch eine andere Frage auf den Lippen, aber sie schien nicht zu wissen, wie sie die stellen solle. Endlich sagte sie in gleichgültigem Ton:

»Und wo kam er zu Euch? In Eurer Stube?«

»Ja, Sennora.«

»Und Ihr waret allein mit ihm?«

»Nein, meine Frau war dabei.«

»Und wo war der Alte?«

»Der lag in seiner Hängematte und schlief.«

»Er hat ihn gar nicht gesehen? Auch nicht nach ihm gefragt?«

»Nein.«

Sennora Corona atmete tief auf. »Gott weiß, was er gewollt hat,« sagte sie nach einer kleinen Weile, »vielleicht bloße Neugierde. Wenn er wieder kommen sollte, laßt ihn gar nicht zu Euch ins Haus hinein, sondern sagt ihm, wenn er etwas von mir wissen wolle, so solle er mich selber aufsuchen – ich würde ihm schon Rede stehen – hört Ihr?«

»Es ist gut, Sennora,« erwiderte Tadeo, indem er sich zum Gehen anschickte, »und Eure Tochter ist so krank? – Was fehlt ihr? Meine Frau weiss viele Mittel für allerlei Gebrechen, die sie am Orinoco kennen gelernt hat, denn da gibt es gar heilkundige Frauen –«

»Es ist ein innerliches Leiden,« sagte die Sennora abwehrend, »ich habe einen guten Arzt und hoffe, daß sie wieder hergestellt wird. Geht jetzt, Tadeo – ich weiß, daß Ihr treu seid, und es soll Euch nicht gereuen – geht – ich muß zu meinem kranken Kind,« und sich abwendend, schritt sie in das Haus zurück, während Tadeo die Straße hinabeilte und vor allen Dingen in einer der Lebensmittel-Buden Eßwaren für daheim einzukaufen suchte. Es gab in Chacao fast nichts mehr zu essen, denn was noch dort war, hatten die Blauen aufkaufen und nach Petare schaffen lassen, wo ja noch immer Monagas mit den Seinen lag.



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