Friedrich Gerstäcker
Die Blauen und Gelben
Friedrich Gerstäcker

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Verschiedene Interessen.

José blieb, als ihn sein Vater verlassen hatte, wie angewurzelt auf der Straße stehen – so lange in der Tat, bis er selber merkte, daß er bei dort Vorübergehenden Aufmerksamkeit erregte. Er wandte sich deshalb um und schritt unwillkürlich weiter, aber eine Flut von Gedanken zermarterte ihm das Hirn.

Wenn sein Vater recht hatte? – Und wie manches, das er jetzt im Geist verglich, schien dafür zu sprechen. – Falcons Koch war verhaftet worden, jetzt erinnerte er sich, daß er selbst der Sennora aus Scherz den Koch genannt hatte, weil ihm eine Art Mißtrauen in die Seele schlich. – Er aber wußte gar nichts von dem Koch, und dieser wahrscheinlich von der ganzen Verschwörung ebensowenig. Jetzt war gerade dieser Koch eingesperrt worden. – Und dann Colinas Zug; hatte er denn die Bewegung in Calabozo ebenfalls an jenem Morgen gegen die Sennora erwähnt? – Es war ihm fast so, und wie sonderbar, daß nachher so rasch dagegen gehandelt wurde. Entweder herrschte da ein wunderbarer Zufall, oder – die Sennora übte in der Tat einen außergewöhnlichen Einfluß auf den Präsidenten aus, und wenn so – was war die Ursache davon? Isabel? Er fühlte, wie es ihm einen jähen Stich durchs Herz gab, aber noch hatte er des Lebens Schule nicht durchgekostet, er konnte sich nicht etwas denken, gegen das sich sein Herz, sein ganzes Sein empörte. Es war unmöglich, unfaßlich, und er wollte es nicht glauben. Aber trotzdem wühlte es in ihm weiter und weiter und ließ ihm keine Ruhe; das Vertrauen hatte er jedenfalls verloren.

Zu ihr zu gehen und sie um eine Schutzstätte für den Flüchtling zu bitten? Er durfte es nicht wagen, er mußte erst Gewißheit haben, daß sein Verdacht ein unbegründeter gewesen war, und wie er es ihr denn abbitten wollte, was er, wenn auch nur auf einen Augenblick, im Herzen gesündigt hatte. Aber dann wieder das Generalspatent, das die alte Sennora bekommen hatte und was ihre Freunde so ausgelegt hatten, daß Falcon sie seiner Partei geneigt zu machen suche. Wenn es nicht eine Lockspeise – wenn es eine Belohnung gewesen wäre? Der Kopf schmerzte ihn vom vielen Denken, und bald durch diese, bald durch jene Straße wandte er sich noch immer unentschlossen, was er tun solle – jetzt nach Hause zurückkehren, oder vor allen Dingen Aufschluß von Isabel selber verlangen.

Aber auch Castilias Schicksal drängte auf ihn ein, denn nach dem, was er vorhin von Costar gehört, war es keinem Zweifel mehr unterworfen, daß die Entscheidung nahe rückte, ja, daß vielleicht schon der morgende Tag, wenn abgewartet, verderblich für ihn werden konnte. Was geschehen sollte, mußte heute geschehen, und mit diesem Bewußtsein kam auch wieder frisches Leben über ihn. Er mußte handeln und behielt keine Zeit mehr zum Träumen.

Vor allen Dingen mußte er den kleinen, jetzt endlich fertig gewordenen Proviantkasten füllen, und dem Gefangenen das Zeichen für heute nacht gleich mit einlegen. Nur eins war zu bedenken, und er wußte nicht, auf welche Weise er das abwenden konnte: durch wen sollte er nämlich die Kiste an den Schließer gelangen lassen, so daß er auch bestimmt wußte, sie wäre in die Hände des Gefangenen gelangt? Das Sicherste wäre allerdings gewesen sie selber hinzubringen, dann aber fiel auch auf ihn, nach der Flucht des Verurteilten, gleich der erste Verdacht, und er wäre gezwungen gewesen mit zu entfliehen – während er doch gerade jetzt Caracas nicht als Verbannter verlassen wollte. Und welchen Unannehmlichkeiten, ja sogar Gefahren hätte er seinen Vater ausgesetzt! –

Wenn er nun den Schließer bestach? – doch er setzte bei einem solchen Versuch auch alles auf eine Karte, denn weigerte sich der Mann – doch immer ein möglicher Fall – so war auch der ganze Fluchtversuch vereitelt und Castilia rettungslos verloren. –

So – mit sich selber nicht im klaren, wanderte er eine Zeitlang die Straßen Caracas auf und ab, bis ihn endlich ein neuer Gedanke durchblitzte. Castilias Schicksal mußte jetzt allem anderen vorgehen – und vielleicht war es möglich, daß ihm seine Schwester Beatriz, wenn er sie in das Geheimnis zog, einen Rat geben konnte. – Frauen wissen sich oft in die schwierigsten Verhältnisse leichter als Männer zu finden, denen nachher die Ausführung überlassen bleiben muß. Beatriz, das wußte er, war von tiefem Mitleiden gegen das arme unglückliche Mädchen erfüllt und äußerte sicherlich keine Bedenken, wie er sie bestimmt von dem viel ängstlicheren Vater erwarten mußte.

Auf dem Absatz drehte er sich herum und schritt jetzt rasch dem Hause zu. Er traf die ganze Familie im Speisesaal versammelt – selbst Ana fehlte nicht, wenn auch ihr Antlitz bleich und von Tränen genäßt war; aber sie hatte Kunde von daheim erhalten – ein Bote von dort hatte den Weg hierher gefunden, und ehe José nur erfragen konnte was vorgefallen sei, wurde ihm ein Fremder, den er im Kreis der Seinen traf, als Hauptmann Teja – hier jedoch einfach als Sennor Bravo, ein sehr gewöhnlicher spanischer Name, vorgestellt.

»Sie stehen unter den Blauen?« rief José rasch.

»Allerdings, Sennor – ich möchte das aber in Caracas nicht gern bekannt werden lassen.«

»Gewiß nicht – und wie steht es an der Lagune?«

»Gut – die ewige Unschlüssigkeit abgerechnet, die im Lager herrscht. Es fehlt uns ein gemeinsamer und energischer Führer, der die Bewegung leitet – so wird im Leben nichts aus der Sache, denn die verschiedenen Generale haben auch alle verschiedene Meinungen – aber – was mir mehr als alles andere am Herzen liegt, ist des jungen Castilia Schicksal. Wie steht es mit dem?«

»Etwas Bestimmtes habe ich darüber noch nicht gehört,« erwiderte der alte Gonzales, der indessen hinzugetreten war – »ich glaube nicht, daß schon etwas über ihn beschlossen ist.«

»Vielleicht komme ich noch zur rechten Zeit,« rief Teja, begegnete aber zugleich Josés Auge, das ihm mit einem Blick auf Ana zuzuwinken schien. – Er zögerte, aber um das junge Mädchen nicht zu beunruhigen, fuhr er nach kurzer Pause fort: »Ich habe mehrere einflußreiche Verwandte hier in der Stadt, von denen ich keinen Verrat zu fürchten brauche, denn im Herzen gehören sie zum großen Teil unserer Sache an. Ich werde noch heute abend sehen, daß ich sie treffe, denn Zeit dürfen wir nicht mehr versäumen.«

Ana schüttelte wehmütig den Kopf. – »Ich fürchte, es ist alles vergebens,« flüsterte sie leise. »Gerade unter denen, in deren Händen jetzt die Macht liegt, hat mein Vater keinen einzigen Freund – ja, nur bittere Feinde und Gegner, weil sie wissen welchen Einfluß er in unserem Teil des Landes ausübt und wie er ihn benutzt. Mein armer Bruder – wenn nicht jetzt schon seinen Wunden erlegen – ist verloren.«

»Aber, bestes Fräulein,« tröstete sie José, – »ich habe Ihnen ja schon gesagt, daß seine Wunden nur leicht und unbedeutend sind. Fassen Sie guten Mut – noch ist er nicht verloren. Hauptmann Teja hat recht. Einflußreiche Freunde können viel nützen, wenn sie nur einen Aufschub des Gerichtsverfahrens bewirken, und das wird ihnen nicht schwer werden. Lassen Sie mich mit Hauptmann Teja die Sache überlegen – ich habe selber einen Plan – vielleicht vereinigen wir uns, um gemeinsam –«

»Je weniger du dich in die Sache mischest, José,« warf der Vater ein, »desto besser ist es. – Du hast nach deinem letzten Abenteuer, so wenig sie dir auch damals anhaben konnten, keinen besonders guten Ruf bei der Regierung, und ein Fürwort von dir –«

»Ich denke nicht daran, lieber Vater,« antwortete José, »Castilias Sache noch durch mein Fürwort zu verschlimmern. – Etwas anderes geht mir durch den Kopf, und der Kapitän ist vielleicht der Mann es auszuführen.«

»Und was ist es?« –

»Bis nachher – zuerst will ich seinen Rat in der Sache hören, da er gerade die Hauptperson dabei sein muß, dann sollst du uns deine Meinung darüber sagen.«

Anas Blicke hingen, während er sprach, an seinen Lippen; war es doch Hoffnung, die sie daraus schöpfen wollte, und jetzt klammerte sie sich selber an die letzte an. Teja aber nahm ohne weiteres seinen Arm, und die beiden jungen Leute schritten zusammen quer über den Hof, um dort ungestört Rücksprache zu nehmen.

»Sie wollten mir etwas im Geheimen sagen, Sennor,« flüsterte Teja seinem Begleiter zu, wie er sich nur aus Hörweite glaubte – »es steht schlecht mit Castilia, wie?«

»Sind Sie bereit, ein selbst gefährliches Unternehmen zu unterstützen, um einen Versuch zu seiner Rettung zu wagen?«

»Verfügen Sie über mein Leben,« rief Teja rasch, »ich habe versprochen, die Tränen einer unglücklichen Schwester zu trocknen, und beim ewigen Gott, ich kenne dabei keine Gefahr. Ist er verurteilt?«

»Ja, und morgen früh schon vielleicht eine Leiche – was wir tun wollen, muß gleich geschehen. Hilfe von anderer Seite ist aber nicht mehr zu hoffen; denn wenn ihm auch andere helfen wollten, was aber, wie ich fürchte, nicht der Fall ist – es wäre zu spät. Er muß entfliehen.«

»Und ist das möglich?«

»Ich glaube ja. Er braucht nichts als ein Instrument, um die etwa fußdicke Backsteinmauer zu durchbrechen, und kann dann die Straße gewinnen.«

»Ungesehen?«

»Es stehen Posten dort, aber die müssen wir unschädlich zu machen suchen, durch Geld oder – Gewalt.«

»Und dann?«

»Werde ich Pferde bereit halten, die ihn und Sie aus der Stadt bringen, und einmal erst draußen, brauchen Sie sich nur fern von der Straße zu halten und finden auf jeder Hacienda gastliche Aufnahme und Unterstützung Ihrer Flucht.«

»Aber hat er ein Werkzeug, um sich frei zu arbeiten?«

»Nein, das muß er heute abend erst bekommen, und darin liegt noch die Hauptschwierigkeit, denn wenn ich auch einen Kasten bereit habe, in dem es ihm zugesteckt werden kann, so kennt mich doch der Schließer, und nach seiner Flucht fällt dann der Verdacht natürlich augenblicklich auf meines Vaters Haus.«

»Wo sitzt der Unglückliche?«

»Im Carcel – wissen Sie, wo das ist?«

»Ich kenne jeden Fußbreit in Caracas; ist Ihr Kistchen bereit, und was wollen Sie ihm darin schicken?«

»Lebensmittel. Ich habe dem Schließer schon Geld gegeben und er gestattet es ihm jedenfalls.«

»Caramba, und wo haben Sie sonst eine Schwierigkeit? Ich trage es selber zu ihm. Werden die Sachen nicht untersucht?«

»Gewiß, aber es hat einen doppelten Einlaß im Boden, und alles übrige ist schon mit ihm verabredet, durch Zufall brachte ich selber eine Nacht bei ihm zu.«

»Und Ihre Eltern sollen nichts von dem ganzen Plan erfahren?«

»Nein, sie würden sich nur unnötigerweise ängstigen und können uns nicht das geringste dabei nützen.«

»Gut; er hat doch eine Zelle für sich?«

»Er liegt ganz allein, sonst wäre es ja auch nicht möglich.«

»Vortrefflich, so überlassen Sie das übrige nur mir. Mit dem Schließer will ich schon fertig werden und bekomme dadurch auch außerdem Terrainkenntnis. Aber von wem sag' ich, daß die Speisen kommen?«

José überlegte einen Moment, und ein bitteres Lächeln glitt über seine Züge.

»Sagen Sie von der Generala Sennora Corona – da es die letzte Nacht sei, die der unglückliche Mensch zu leben habe.«

»Von der Generala? Wer ist das?«

»Kommen Sie jetzt mit auf mein Zimmer, ich erkläre Ihnen dort alles und gebe Ihnen auch die nötigen Instruktionen.«


Gerade als die Soldaten den sich noch aus allen Kräften sträubenden, aber jetzt vollkommen machtlosen Neger aus der Offiziersstube schleppten, um ihn nach dem Carcel hinüberzuschaffen – und auf der Straße herrschte eben noch Dämmerlicht – blieben natürlich alle Vorübergehenden stehen oder eilten von der anderen Seite der Plaza hinzu, um zu sehen, was da vorgehe. Wer ist nicht gern Zeuge eines Skandals oder einer Prügelei, besonders müßiges Volk, das doch für den Augenblick nichts weiter zu tun hat.

Unter der Menge stand auch ein älterer Indianer, aber doch weit genug ab, um nicht mit den Soldaten in Berührung zu kommen, denn das war, wie er aus eigener Erfahrung gut genug wußte, rohes und rücksichtsloses Volk. Er richtete aber trotzdem seine ganze Aufmerksamkeit auf den Lärm da vorne, als er eine Hand auf seiner Schulter fühlte und eine Stimme sagte:

»Hallo, Onkel Tadeo, sieht man Euch auch einmal in Caracas? Das ist ja ein seltener Besuch.«

»Felipe« – erwiderte der Mann, sich nach ihm umdrehend, »ich dachte, du wärest lange wieder im inneren Lande.«

»War es auch, wechsele aber immer so herüber und hinüber – bald hier bald da.«

»Und sie lassen dich überall durch?«

»Bah, mit mir können sie nichts anfangen, und da ich die Burschen fast alle kenne, ob sie nun bei den Blauen oder Gelben stehen, so machen sie mir nirgends Schwierigkeiten. Aber wohin wollt Ihr denn? Wieder hinaus nach Chacao?«

»Nein, ich bin eben erst hereingekommen,« sagte der Indianer, »und muß jemand aufsuchen. Was mag denn das da drüben für ein Spektakel sein?«

»Quien sabe – ein Betrunkener wahrscheinlich, den sie fortschleppen. Mit den Soldaten ist jetzt ein ewiger Skandal. Wen wollt Ihr denn aufsuchen?«

»Könnt Ihr mir vielleicht sagen, Felipe, wo ich von hier aus am nächsten zum Hause der Sennora Corona komme? Ich kenne das Haus, weiß mich aber von hier ab nicht zurechtzufinden.«

»Gewiß – was wollt Ihr denn bei der? Kennt Ihr sie?«

»Von früherer Zeit her,« sagte Tadeo ausweichend, »ist es weit von hier?«

»Gar nicht – kommt, ich bringe Euch hin. Hm – sonderbar! Hätte da auch eigentlich gleich etwas zu besorgen, will aber doch noch lieber ein wenig warten. Wie geht's denn dem Perdido, lebt er noch?«

Tadeo seufzte recht aus tiefster Brust. »Ja, es geht ihm nicht gut. Er wird so unruhig seit der letzten Zeit, daß ich ihn kaum noch allein bändigen kann. Ich wollte du wohntest noch in Chacao, Felipe, da hätte ich doch einige Hilfe, aber so bin ich fast so gut wie allein und habe eine recht schwere Zeit durchzumachen.«

»Und Soldaten liegen auch bei Euch, wie?«

»Jetzt nicht so viel – die meisten sind vor acht Tagen abmarschiert, aber sie können jeden Augenblick wieder zurückkommen. Bleibt sich jetzt auch gleich – ruiniert haben sie mich doch.«

»Hübsche Bande das, Caracho!« brummte Felipe, indem er den Kopf zurück nach den Soldaten drehte – »aber es kommen auch wieder bessere Zeiten. Die Blauen wachsen von Tag zu Tag,« setzte er leise flüsternd hinzu – »und ehe Ihr's Euch einmal verseht, habt Ihr sie alle hier auf dem Halse. Es kann nicht mehr lange dauern.«

Tadeo schüttelte mit dem Kopf – er glaubte an keine besseren Zeiten, und schweigend schritt er neben dem Boten die Straße entlang, bis dieser ihm das Haus der Sennora zeigen konnte. Dann kehrte Felipe, nachdem er seinem Onkel noch vorher eine Pulperia bezeichnet hatte, in welcher sie sich später treffen konnten, wieder um und hatte eben aufs neue die Plaza erreicht, als ein Herr mit einem Peon hinter sich an ihm vorüberschritt. Er achtete aber nicht darauf und sah nur, daß der Peon ein Kistchen unter dem Arm hielt, als dieser ihm im Vorbeigehen zunickte: »Guten Abend, Felipe!« – Es war der Bursche aus Gonzales' Haus.

Er selber sowohl wie der Sennor drehten sich rasch nach den Worten um.

»Felipe!« rief Teja, denn dieser war es, in unbegrenztem Erstaunen aus – »wie kommst du schon wieder nach Caracas? Hast du Aufträge an mich von der Lagune?«

»An Sie gerade nicht, Sennor,« antwortete Felipe zögernd, indem er den Blick umherwarf, ob niemand Fremdes in Hörweite sei – »sollte mich aber nicht wundern, wenn es dieselbe Sache beträfe, wegen der Sie hier sind.«

»Und von wem? Von dem alten Herrn?«

»Hm – nein – von Oberst Bermuda.«

»Und an wen?«

»An eine Dame hier in der Stadt, eine Sennora Corona.«

»Corona? Sonderbar! Alsdann ist die Sache doch jedenfalls sehr harmlos.«

»Quien sabe. Sie kennen die Dame nicht?«

»Du vermutest etwas anderes?« rief Teja rasch und mißtrauisch – »ich glaube selber, da mir Oberst Bermuda nicht freundlich gesinnt ist, aber er kann doch in dieser Sache meinen Weg nicht kreuzen wollen, da er so befreundet mit der Familie des Unglücklichen scheint.«

»Wohin wollt Ihr jetzt gehen, Sennor, und bleibt Ihr lange?«

»Ich hoffe in einer Viertelstunde zurück zu sein. Willst du mich in Gonzales Haus erwarten?«

»Gut.« Und ohne ein Wort weiter zu sagen, wandte sich Felipe um und verfolgte seinen Weg, wahrend Teja auf das Carcel zuschritt, vor dem jetzt aber eine Masse von Soldaten lachend und plaudernd standen, und das komische Intermezzo mit dem »angeblichen« General – dem dicken Neger besprachen.

Teja zögerte einen Augenblick – aber es half nichts, er mußte hindurch und brauchte gerade nicht zu fürchten, hier von einem der Leute erkannt zu werden, Überläufer von den Regierungstruppen zu der Revolutionspartei gab es genug, denn die Leute desertierten in der Tat, wo sich ihnen nur eine günstige Gelegenheit dazu bot; sehr selten kam es dagegen vor, daß Blaue zu den Gelben übergingen, wenigstens unter den gemeinen Soldaten, und dem von Gonzales' Haus mitgeführten Burschen die Kiste abnehmend, damit dieser nicht etwa von einem oder dem anderen erkannt würde, umging er die Stelle, wo eine Gruppe von Offizieren stand, und trat mitten zwischen die Soldaten.

»Wohin?« fragte die Schildwache, als er an dieser vorüber wollte.

»Einem der Gefangenen Lebensmittel bringen,« gab er zur Antwort, und da das im Tag wohl zwanzigmal geschah, so ließ ihn der Soldat ohne weiteres passieren. Der Schließer drinnen hatte das übrige zu verfügen.

Im Hof standen noch eine Anzahl von Soldaten vor einer der Zellen und einige sogar vor einer Tür, in deren eingeschnittenes Loch sie einen Blick zu werfen suchten. Aber es war zu dunkel darin, und es ließ sich nichts erkennen. Sie gaben es endlich auf und schlenderten, während Teja den Schließer suchte, wieder nach vorn. Diesen fand er endlich, aber nicht in besonderer Stimmung.

»Caracho!« fluchte der Schließer – »jetzt hat's aber ein Ende mit dem Einstecken, oder ich lasse bei Gott einmal über Nacht ein paar Dutzend laufen, um nur wieder Luft zu bekommen. Und die Schererei hört dabei nicht auf. – Was wollen Sie nun wieder?«

»Einem der Gefangenen Essen bringen, Sennor.«

»Dann kommen Sie morgen früh wieder – jetzt will ich selber zum Essen gehen,« knurrte der Schließer – »verdammt will ich sein, wenn mir die Lauferei nicht zu arg wird.«

Teja wußte genau, wie er ihn besänftigen konnte. Unter dem linken Arm hielt er das Kästchen, und mit der Rechten drückte er ihm zwei Silber-Dollar in die Hand, die der Mann erstaunt betrachtete.

»Na?« sagte er, »für wen ist denn das?«

»Das Geld für Sie,« flüsterte ihm Teja zu. »Das Essen für einen armen Teufel, dem es die Generala Corona schickt, weil es wahrscheinlich seine letzte Mahlzeit sein wird – haben Sie Mitleiden.«

»Wie heißt er denn?«

»Es ist Nr. 37.«

»Ach der? Weiß schon – wird wohl mit ihm zu Ende gehen.«

»Kann ich ihn nicht einen Augenblick sprechen?«

Der Schließer schüttelte auf das entschiedenste mit dem Kopf. »Wird nichts daraus,« brummte er, »wenn's auch ein Hundedienst ist, aber ich möcht' ihn doch nicht gern verlieren, ehe ich was Besseres habe, und nachher steckten sie mich sogleich unter die Soldatenbande. Aber seien Sie morgen ganz früh hier – vor Sonnenaufgang – und dann – wenn er herausgeführt wird, können Sie schon von einem der Generale die Erlaubnis bekommen, ihn noch einmal zu sprechen. Wenn General Bruzual mitkommt, der gestattet's Ihnen gewiß.«

»Und wollen wir ihm das Kistchen hineinstellen?«

»Erst müssen wir sehen, was drin ist. Hm – ließ sich nicht gut anders machen, haben ihm eben noch einen anderen Gefangenen mit hineinstecken müssen, den die Soldaten angeschleppt brachten. Tat's nicht gern, aber es ließ sich auch nicht ändern, und ist ja außerdem nur für kurze Zeit.

Der Schließer hatte, während er sprach, Teja das Kistchen abgenommen und neben Nr. 37 auf die Erde gesetzt. Die Dämmerung war aber schon so weit eingebrochen, daß er die Sachen nur noch undeutlich erkennen konnte. Er verließ sich aber zum großen Teil auf sein Gefühl, drückte die Eßwaren zwischen den schmutzigen Fingern herum, schüttelte die zwei beiliegenden Flaschen, brach die Brote auseinander, und als er das Kistchen bis auf den Boden durchwühlt hatte, nahm er die Schlüssel vom Gürtel und schloß auf,

»Da, Sennor,« sagte er, indem er die Tür öffnete, »bringt Ihnen noch jemand was zu essen, lassen Sie sich 's heute abend schmecken. Wie?« –

Der Gefangene sprach etwas drinnen, aber soviel sich Teja auch Mühe gab, einen Blick auf ihn zu gewinnen, der Schließer verhinderte es, und er hörte nur noch, wie dieser sagte:

»Sehen wollen Sie, was darin ist? – Wird sich wohl im Dunkeln nicht machen, und Licht darf ich Ihnen nicht geben. Langen Sie nur mitten hinein. Es sind lauter gute Sachen und alles sehr hübsch mit roten Bändchen zugebunden. Hat eine Dame zurecht gemacht. – Die Sennora – wie hieß sie? Corona? Na, meinetwegen, kann aber nichts helfen, sterben müssen wir doch alle einmal. Was macht denn Ihr Compannero? Liegt ganz still? Das ist auch das gescheiteste, was er tun kann: losbinden darf ich ihn aber doch nicht. Strenge Order, daß er bis morgen früh so bleiben soll. Na, gute Nacht. Heute abend werde ich doch kein Essen mehr zu bringen brauchen. Der kriegt nichts, und Sie werden wohl genug haben bis morgen früh.«

Damit schlug er die Tür wieder zu, schloß ab, schob die beiden Riegel vor und schlenderte dann, ohne sich weiter um den Fremden zu bekümmern, über den Hof.

Teja selber hielt sich ebenfalls nicht länger auf, denn es fing an ihm unheimlich zu werden. Wie rasch wäre er selber in eine dieser dumpfen Höhlen geworfen worden, wenn die Leute, die ihn hier umgaben, geahnt hätten, wer er sei. Aber niemand hatte auf ihn Verdacht. Es gingen da so viele Fremde täglich aus und ein, um nach ihren gefangenen Verwandten oder Freunden zu sehen, daß man die einzelnen kaum beachtete. Anfangs freilich hatten diese Besucher Erlaubniskarten haben müssen, aber das war, als sich die Gefangenen mehrten, dem wachthabenden Offizier zu beschwerlich geworden. An den Schließer mußten sie sich jedoch wenden, und der hatte weiter nichts zu tun, als zuzusehen, daß den Eingesperrten nichts Verbotenes zugesteckt wurde, und niemand mit einem Gefangenen sprach, der nicht von einem Offizier begleitet wurde oder eine schriftliche Erlaubnis dazu vorzeigen konnte.

Teja hatte vorläufig alles getan, was zu tun war, aber er fühlte sich doch beunruhigt, denn José glaubte, daß Castilia allein gefangen gehalten werde, während jetzt, wie er eben erfahren, ein Fremder die Zelle mit ihm teilte. Wer war das? Er getraute sich nicht zu fragen, um keinen möglichen Verdacht zu erregen, und hing nicht dennoch vielleicht der ganze Erfolg an dem Dazwischentreten eines Fremden? Was aber vermochten sie dagegen zu tun? – War es zum Guten oder Bösen, die Entscheidung lag jetzt in den Händen einer höheren Macht. Die Würfel rollten, und wie sie fielen, er konnte nicht in das Rad des Schicksals greifen.

Vor Gonzales' Haus traf er Felipe, der ihn dort erwartet hatte, aber er nahm ihn mit hinein, weil er alles Zusammensprechen auf der Straße soviel wie möglich vermeiden wollte. Er fand auch schon José seiner harrend, dem er leise und mit kurzen Worten Mitteilung machte. Dann aber wandte er sich zu Felipe, der ruhig dabei gestanden und getan hatte, als ob ihn die ganze Sache nichts anging, und sagte:

»Und nun, mein Bursche, berichte mir, welchen Verdacht du hast, denn etwas Derartiges liegt dir auf der Seele, sprich.«

»Ich traue dem Bermuda nicht,« antwortete Felipe finster. »Erstlich ist er ein schlechter Mensch, denn er hat im vorigen Jahre einmal meinen Bruder peitschen lassen, daß er vier Wochen lang daheim auf einer Kuhhaut liegen mußte und vor Schmerzen winselte, und dann – weiß ich, daß er geizig ist, und doch hat er mir fünf Pesos fuertos gegeben, damit ich seinen Auftrag pünktlich besorgte.«

»Und was war das?«

»Eben der Brief an jene Sennora.«

»Du hast ihn noch nicht abgegeben?«

»Nein, ich weiß, daß Ihr dem armen jungen Castilia helfen wollt, und ich vermute fast, der Bermuda hat andere Absichten.«

»Aber wie wäre das möglich!«

»Wenn die Arbeiter abends auf den Hacienden zusammensitzen,« sagte Felipe, »so wird manchmal gesungen, manchmal aber auch geplaudert, und die Leute, wenn sie sich auch anscheinend um die Herrschaft gar nicht kümmern, sehen doch oft genug mehr, als manche sich denken. Der Bermuda ist hinter der Sennorita her und will sie heiraten.«

»Fräulein Rosa!« rief Teja und fühlte, wie ihm das Blut zum Herzen zurückschoß.

»Warum nicht! Das ist gewiß, und sie ist ihm auch gut, das kann man aus allem leicht herauslesen. Der Vater hat aber schmähliches Geld und Bermuda nichts; daß er sich also noch dazu bei einem so sauberen Mädchen, alle Mühe gibt, läßt sich denken.«

»Desto unwahrscheinlicher ist es aber, daß er nicht alles tun sollte, um ihren Bruder zu retten,« warf Teja ein.

»Quien sabe!« sagte Felipe, die Achseln zuckend, »daß er Euch nicht gern hat, weiß ich.«

»Und woher?«

»Daraus, wie er Euch angesehen, als Ihr Euch erbotet, hierher zu gehen.«

»Und wie leicht läßt sich das erklären,« erwiderte Teja, – »wie natürlich! Wollte er doch die Ehre selber haben, dem Gefangenen zu nützen.«

»Möglich,« meinte Felipe, »aber warum hat er mir dann erst gesagt, daß er mich wieder nach Caracas schicken wollte, als ich auf dem Weg nach Maracay war, wo er hinter mir drein geritten kam, mir augenblicklich ein Maultier mietete und mich Hals über Kopf fortjagte, so das ich den ganzen Weg bis Los Teques im Trab reiten mußte.«

»Und wo hast du dein Maultier gelassen?«

»Das haben mir natürlich die Gelben in Los Teques weggenommen; aber die Diligence überholte mich kurz vor dem Ort, und ich konnte bei dem Kutscher mit aufsitzen, sonst wär' ich erst morgen früh hierher gekommen.«

José hatte schweigend dabei gestanden und zugehört.

»Wo hast du den Brief, Felipe?« fragte er jetzt.

»Unten ins Hosenbein genäht. Man ist nie sicher, daß sie einem die Taschen umdrehen, und wenn's auch nur einer Zigarre wegen wäre.«

»Dann gib ihn ruhig an seine Adresse ab,« riet Teja ihm; »hoffentlich kommt er aber zu spät, um dem jungen Castilia Hilfe zu bringen, denn wir werden schneller sein. Im Fall jedoch, daß unser Plan mißglücken sollte, kann Bermuda versuchen, was er auszurichten vermag.«

»Ich soll den Brief abgeben?«

»Gewiß – ich werde wahrhaftig keinen Schritt tun, der Castilia auch nur um die Möglichkeit einer Hoffnung ärmer machte.«

»Zeig' einmal den Brief, Felipe,« rief José.

»Wir können ihn doch nicht öffnen,« meinte Teja,

»Wir können ihn aber einmal ansehen – komm, mein Bursche – herausnehmen mußt du ihn doch, und hier in Caracas visitiert dich niemand mehr.«

Felipe stellte sein linkes Bein auf den nächsten Stuhl. Den unteren Teil der Hose zuerst aufkrempelnd, trennte er äußerst geschickt mit der rechten Hand und mit Hilfe eines kleinen Messers, das er im Gürtel trug, die langen Fäden auf und holte endlich den solcherart allerdings vortrefflich versteckten Brief hervor.

José nahm das Papier, hatte aber kaum die Adresse gelesen, als er erstaunt ausrief: »An Sennora Corona – von einem Offizier der Reconquistadoren? Die Dame ist jedenfalls vielseitig, und ich fürchte fast, unser wackerer Felipe hat da nicht weit fehlgegriffen.«

»Sennora Corona?« sagte Teja, »ist denn das nicht dieselbe Dame, in deren Namen ich die Lebensmittel an Castilia gebracht habe? Was für eine Bewandtnis hat es mit ihr?«

»Die nämliche ist es allerdings, aber das erzähle ich Ihnen einmal später, und wenn Sie jetzt meinen Rat folgen, Teja, so öffnen Sie ohne weiteres den Brief. Ist er wirklich harmlos, so mag Felipe der Dame nur sagen, ein Vorposten hätte ihn gefunden und aufgerissen, aber nicht lesen können. Das klingt wahrscheinlich genug.«

»Und was bezwecken wir damit?«

»Wir gehen sicher, und das ist immer ein Vorteil. Nach dem, was Felipe hier gesagt, und ich kenne ihn als einen ehrlichen, braven Burschen, scheint mir selber die Sache verdächtig. Wer ist dieser Bermuda?«

»Oberst im Generalstab von Rojas.«

»Hm – allerdings eine ehrenwerte Stellung, aber der Henker traue allen diesen Herren, die ganz gut sind, bis einmal ihr eigenes Interesse mit ins Spiel kommt. – Bah, ich übernehme die Verantwortung« – und ohne weiter ein Wort zu sagen, löste José die Oblate, öffnete und überflog das nur wenige Zeilen enthaltende Schreiben – aber er las es ein-, zwei- und dreimal durch, ehe er es wieder aus den Händen und an Teja mit den Worten gab:

»Bitte, lesen Sie, Kapitän, wie wohlwollend Ihr Freund und Kamerad um sie besorgt ist.«

Der Brief enthielt nur wenige Worte und zwar ohne Unterschrift oder weitere Anrede. Teja las mit halblauter Stimme:

»In Gonzales' Haus ist – wenn Sie diese Zeilen erhalten, ein Spion spanischer Abkunft eingetroffen. Er will den gefangenen Castilia befreien.« – Teja sah starr vor Staunen erst José, dann Felipe an. Der letztere sagte lachend:

»Ungefähr so, wie ich's mir gedacht habe – nur noch ein bißchen hübscher. Ich kenne den Bermuda, und so wird er's mit den Blauen auch machen.«

»Und diesen Brief wollten Sie abgeben lassen!« rief José.

»Aber war auch etwas Ähnliches nur denkbar?«

»Und warum nicht? Felipe hat es sich doch gedacht, oder er würde seinen Auftrag einfach ausgerichtet haben.«

»Ich weiß wirklich nicht, wie ich dir danken soll, mein Bursche, denn ich glaube, du hast großes Unheil von mir abgewandt,« sagte Teja zu Felipe.

»Und von diesem Hause gleichfalls,« fügte José hinzu. »Glauben Sie, Teja, daß sich die Herren mit Ihrer einfachen Verhaftung begnügt hätten? Wahrlich nicht! Aber ich werde es dir gedenken, Felipe, und den Botenlohn sollst du wenigstens zehnfach von mir bekommen. Den Brief verbrennen wir am besten, damit er nicht vielleicht doch noch in unrechte Hände kommt. – Für mich selber war dabei die Notiz von mehr Interesse, als Sie glauben.«

»Halt!« rief aber Teja aus und nahm José den Brief wieder aus der Hand – »das ist ein zu wertvolles Dokument und darf nicht vernichtet werden. Castilias selber müssen erfahren, wer sich bei ihnen eindrängen will, und welcher Niederträchtigkeit dieser Mensch fähig ist.«

»Dumm war eigentlich der Streich nicht,« meinte José. »Wenn ich nicht sehr irre, wollte er sich da mit einem Schlag einen Nebenbuhler und den Haupterben vom Halse schaffen.«

»Einen Nebenbuhler, Sennor?«

»Ihre erste Antwort, die Sie mir gaben,« erwiderte lächelnd José, »als ich Sie fragte, ob Sie mir beistehen wollten, Castilia zu retten, ließ mich Ähnliches vermuten, aber Caramba, Hauptmann, wir haben jetzt mehr und ernstere Sachen vor, als unsere Zeit zu vertändeln. Mir macht das große Sorge, was Sie mir sagten. Wenn man nur wenigstens wüßte, wen sie zu ihm gesperrt haben, denn ist der Gefangene nur eines leichten Vergehens wegen eingesteckt, so wird er sicher jeden Fluchtversuch unseres Freundes verhindern, um nicht selber in Strafe zu kommen.«

»Nach allem, was ich von plaudernden Soldaten verstand, schien es mir, als ob es ein Neger sein müsse.«

»Vielleicht ein Soldat, dann wäre Hoffnung, daß unser Freund ihn überreden könnte, mit ihm zu desertieren. Uns bleibt aber nichts übrig, als die ihm bestimmte Zeit einzuhalten – zwischen zehn und elf Uhr müssen wir dort Wache halten, und Gott gebe, daß alles gelingt.«


Sennora Corona hatte einen kleinen Kreis von Freundinnen um sich, mit denen sie die Tagesneuigkeiten besprach, und dazu gehörte natürlich die auf den nächsten Morgen angesetzte Hinrichtung des Spions und Depeschenträgers.

Die Damen waren sämtlich einerlei Meinung darüber. Die Regierung schlug damit eine der ersten und angesehensten Familien des Landes geradezu ins Gesicht und trotzte auf eine Macht, die sie nicht mehr besaß, oder die ihr der nächste Tag aus den Händen reißen konnte. Der arme, unglückliche Mensch hatte vielleicht nicht einmal gewußt, was in den Briefen stand, und daß er den Offizier erschossen, als alle mit scharfen Säbeln auf ihn einschlugen, war natürlich; wie sollte er sich sonst gegen so viele verteidigen! – Seine Schwester war bei Gonzales – ein liebes Mädchen.

»Gonzales ist gewiß auch ein eifriger Anhänger unserer Partei,« bemerkte Sennora Corona, indem sie sich eine Zigarette drehte – »aber er hält seine Gesinnung geheim und versteckt.«

»Er ist ein alter Schlaukopf,« meinte Sennora Hierra, »und ich würde ihm nicht über den Weg trauen, wenn ich irgend etwas mit ihm zu tun hätte. – Er sieht nur auf seinen eigenen Nutzen.«

»Da ist der Sohn anders,« rief Sennora Paez – »ein braver, junger Mensch und der blauen Sache ganz ergeben. – Neulich haben sie ihn auch eingesteckt – sie konnten aber nichts gegen ihn finden – der ist klug.«

»Ich möchte wohl wissen weshalb?« sagte Sennora Corona.

»Bah, irgend eine nichtswürdige Denunziation – die Stadt schwärmt jetzt von derlei Gesindel.«

»Will denn der junge Gonzales jetzt in Caracas bleiben? Er sagte uns hier, daß er wieder ins Land müsse.«

»Nun, Amiga,« warf Sennora Paez mit einem flüchtigen Blick auf Isabel lächelnd dazwischen, – »ich dächte doch, Sie müßten wissen, was ihn hier in Caracas hält. Man braucht gerade kein Prophet zu sein, um das zu ergründen, und ich glaube nicht, daß die Politik etwas damit zu tun hat.«

»Es ist jetzt recht still in der Stadt,« entgegnete Sennora Corona – ohne auf die Andeutung einzugehen – »man hört eigentlich von gar nichts. Irgend ein bestimmtes Unternehmen scheint nicht im Werk.«

»Nicht, daß ich wüßte,« meinte Sennora Hierra. »Es wartet jetzt alles darauf, was wir für Nachrichten von Barcelona und der Lagune bekommen. So viel scheint sicher, daß sich Monagas wieder an die Spitze stellen will.«

»Glaubt er, daß ihm das Volk den Mord der Deputierten vergessen hat?« fragte die Generala; »das ist das Unglück unserer Partei, daß wir keinen Mann an der Spitze haben, zu dem wir mit Vertrauen aufblicken können.«

Draußen hatte schon jemand an die Tür geklopft, aber keine der Damen darauf geachtet. Jetzt kam der indianische Diener herein und meldete, daß ein Mann draußen sei, der die Sennora zu sprechen wünsche.

»Ein Mann? – Wer ist es? Wie sieht er aus?« fragte die Herrin vom Hause.

»Ich kenne ihn nicht, Sennora – es ist ein Indianer und sieht aus wie einer der gewöhnlichen Arbeiter vom Lande; von einer Hacienda vielleicht.«

»Ich bin nicht zu Hause –«

Der Diener verschwand, kehrte aber nach wenigen Minuten wieder zurück und meldete: »der Mann hat gesagt, er heiße Tadeo und wolle in einer halben Stunde wieder vorfragen – ich möchte es aber der Sennora gleich sagen, wenn sie nach Hause käme.«

In der Stube herrschte tiefe Dämmerung – es war noch kein Licht angezündet worden. – Die Sennora brauchte ein paar Sekunden zum Überlegen und sagte dann:

»Ruf' ihn zurück! – Ich will sehen, was er wünscht – er – wird von einer mir befreundeten Hacienda kommen. – Sie entschuldigen mich, meine Damen – ich – bin gleich wieder bei Ihnen.«

Sie stand auf – blieb noch einen Augenblick neben ihrem Stuhl stehen und schritt dann rasch zur Tür, die sie hinter sich zudrückte.

Sennora Hierra sah ihr erstaunt nach. Es war allerdings zu dunkel im Zimmer, um Sennora Coronas Züge zu erkennen, aber das ganze Betragen der sonst so resoluten Frau war allen aufgefallen.

»Was hatte Ihre Mutter, Isabel?« fragte die Hierra, »sie sprach so sonderbar. – Wer ist denn dieser Tadeo?«

»Ich weiß es wirklich nicht,« erwiderte ruhig Isabel – »ich kenne keinen von unseren Arbeitern, der Tadeo heißt, einen jungen Burschen ausgenommen, der uns das Wasser bringt, aber ich kann mir nicht denken, daß es der ist; wahrscheinlich eine Bettelei.«

Sennora Corona schritt unterdessen in das andere Zimmer hinüber, das sich auf der gegenüberliegenden Seite des Ganges befand. Dort zündete sie die schon bereit stehende Lampe an und schloß die Fensterladen. Es dauerte auch nicht lange, so hörte sie, wie ihr Diener Juan mit dem fremden Mann zurückkam und die Haustür wieder schloß. Sie öffnete ihre Zimmertür etwas, um ihnen zu zeigen, wo sie wäre, und im nächsten Augenblick stand Tadeo aus Chacao – von der Lampe hell beleuchtet, die Sennora Corona absichtlich so gestellt hatte, auf der Schwelle. Er hielt den Hut in der Hand und sah demütig und gedrückt aus, sagte auch anfangs kein Wort, sondern sah still die vor ihm stehende Frau mit einem wehmütigen Blick an.

»Tadeo,« rief endlich diese mit unterdrückter Stimme, »woher um Gottes willen kommt Ihr? Von Soledad? – Ist er tot?«

Tadeo schüttelte langsam den Kopf. »Sennora,« sagte er leise, »ich habe einst ein Verbrechen begangen, aber auch dafür gebüßt, wie ein Mensch nur büßen kann, und ich darf hoffen, daß ich dereinst vor Gottes Thron Verzeihung finden werde.«

»Aber wie kommt Ihr jetzt hierher nach Caracas?«

»Es sind schon sieben Jahre, Sennora,« fuhr der Indianer fort, »daß ich hier ganz in der Nähe von Caracas, in Chacao lebe, und mein Fuß hat Eure Schwelle noch nicht betreten – jetzt zwingt mich die Not dazu – und mehr noch die Not für ihn als für mich, denn ich selber hielte mich schon über Wasser.«

»Für ihn? – Er ist bei euch?« fragte die Dame, und Totenblässe deckte ihre Züge.

»Er ist bei mir – bei mir die langen Jahre gewesen, und ich habe für ihn gesorgt, als ob er mein eigener Vater gewesen wäre.«

»Ich hörte, daß er gestorben sei –«

»Als er Abschied von Euch genommen hatte und aus eurem Hause zurückkam, fiel er in furchtbare Krämpfe und lag dann eine Zeitlang regungslos – wir glaubten, daß er tot sei. Er erholte sich aber wieder – wenn auch nur körperlich – sein Geist, der früher zuweilen gestört war, wurde ganz verwirrt. Er ist wahnsinnig.«

»Und weiß er, daß ich hier in seiner Nähe bin?«

»Er weiß gar nichts, nicht einmal seinen eigenen Namen mehr, denn schon seit langen Jahren nennt er sich nur Perdido und hört auf keinen anderen Namen.«

»Und weshalb kommt Ihr jetzt zu mir? – Ich gab Euch damals viel Geld. Es fehlt Euch doch an nichts.«

Der Indianer beantwortete die Frage nicht gleich. – »Meine Frau starb in Soledad,« begann er endlich, »ich lernte später ein Mädchen kennen, brav und gut, die mit ihren Eltern hier von Caracas aus nach Bolivar gezogen war. Ich heiratete sie, um eine Mutter für mein Kind zu haben, aber sie hielt das Klima am Orinoco nicht aus, sie kränkelte immer an bösen Fiebern und wurde, als wir zuletzt auch das Kind verloren, so von Heimweh nach ihrem Geburtsort Mariperes, dicht bei Chacao, geplagt, daß ich ihrem Drängen endlich nachgab. Ich verkaufte mein kleines Besitztum in Soledad, ging mit einer Lancha nach San Fernando hinauf und kam dann mit den Meinen – und mit ihm – im Beginn der Regenzeit hier herüber, wo ich mir ein kleines Grundstück kaufte.«

»Und wußtet Ihr, daß ich hier wohnte?«

»Ich begegnete Euch vor etwa vier Jahren einmal hier in der Stadt – Ihr saht mich gar nicht, ich erkannte Euch aber im Augenblick wieder und hörte, daß Ihr hier unter dem Namen Corona mit Eurer Tochter lebtet. Ist das die kleine Manuela?«

»Nein,« antwortete die Dame mit heiserer Stimme. »Manuela – ist gestorben – die junge Dame, die bei mir wohnt, ist eine angenommene Tochter und heißt Isabel – aber was wolltet Ihr mir sagen?«

»Ich bin nicht gern in die Stadt gekommen,« fuhr der Mann mit bewegter Stimme fort; »solange ich Euren Aufenthalt kannte, habe ich Euch nicht belästigt – aber jetzt kann ich mir nicht mehr helfen. Ihr wißt, wie es auf dem Lande aussieht – mit Fleiß und Sparsamkeit habe ich immer noch den Kopf über Wasser behalten und die früheren Revolutionen glücklich überstanden, jetzt aber ist alles vorbei. Die letzte Kuh haben sie mir aus dem Stall, die letzte Stange Zuckerrohr aus dem Felde geholt. Mein kleiner Garten ist verwüstet, und der alte Mann, der bis jetzt so harmlos vor sich hinlebte, daß ich unbesorgt meiner eigenen Arbeit nachgehen konnte, wird von Tag zu Tag unruhiger und darf keinen Augenblick mehr allein gelassen werden.«

Tadeo schwieg eine Weile – seine Brust hob sich krampfhaft – er atmete schwer – endlich fuhr er leise fort:

»Was ich lange gefürchtet, ist eingetroffen – ich habe nichts mehr zu leben – nicht einmal für ihn, und Arbeit gibt es nicht, denn welcher Haciendero wollte jetzt einen Acker bestellen, den ihm, ehe die Frucht reifen könnte, die Soldaten als Futterplatz benutzen würden. Jetzt beschließt, was Ihr tun wollt – entweder den alten Mann in die Stadt nehmen, oder –«

»Ihr kennt unseren Vertrag!« rief die Sennora heftig emporfahrend.

»Ich kenne ihn,« sagte der Mann düster, »und bin ihm nachgekommen bis zum äußersten, aber weniger aus Furcht vor Eurer Drohung, als aus Liebe und Dankbarkeit für den Unglücklichen,«

»Und wie äußert sich sein Irrsinn?«

»Bis dahin jammerte er nur nach seinem Kinde, seiner kleinen Manuela, und war ganz harmlos, jetzt aber scheint sich eine andere fixe Idee seiner bemächtigt zu haben. Er hat die vielen Soldaten gesehen und das ewige Trommeln und Trompeten gehört, und bildet sich nun manchmal ein, daß ihn das Volk zum Präsidenten wählen wolle. Der jetzige Präsident, ruft er oft, halte seine Manuela gefangen, und er müsse hin, um sie zu befreien.«

Die Augen der Sennora starrten stier auf seine Lippen und ihre Hand ballte sich auf dem Tisch, auf den sie sich stützte.

»Und wenn er einmal ausbricht?« flüsterte sie endlich oder hauchte vielmehr nur die Worte hervor.

»Jetzt hat es noch keine Gefahr,« entgegnete der Indianer – »an den Fenstern des Stübchens, in dem er wohnt, sind eiserne Gitter, und eiserne Barren habe ich vor die Tür gelegt. Solange ich mein Häuschen und Grundstück halten kann, steh' ich für ihn ein. Er geht auch nicht von uns fort – aber die Not ist so über uns gekommen, daß ich gezwungen werde, mein kleines Besitztum um jeden Preis loszuschlagen, und was dann?«

»Wieviel braucht Ihr?« fragte die Dame tonlos.

»Du lieber Gott, wenig genug; nur leben wollen wir und den Hunger stillen, und dazu in unserem Lande nicht viel – die Zeiten müssen ja bald wieder besser werden.«

Sennora Corona schritt fest und entschlossen zu ihrem Schreibtisch und nahm eine Rolle mit mexikanischen Dollars und ein kleines Fläschchen heraus. Die Rolle drückte sie dem Mann in die Hand.

»Da Tadeo, das Geld ist für Euch – kauft Euch Lebensmittel. Ihr sollt keine Not leiden, solange ich selber etwas habe, und – ich kann es jetzt entbehren. Aber auch ihm möchte ich helfen. Mir hat der Arzt neulich ein kräftiges Mittel gegeben, das besonders wohltätig gegen Krampfanfälle hilft. Bekommt er seine böse Stunde wieder, so gießt ihm den Rest – es sind nur noch wenige Tropfen – in eine Tasse Kaffee oder ein Glas Branntwein und laßt es ihn trinken – aber zerbrecht das Fläschchen nicht. Tut es ihm gut, so kommt wieder herein zu mir, und ich lasse Euch mehr davon machen.«

»Glaubt Ihr wirklich, daß es ihm gut tut, Sennora?«

»Es hat mir selber vortreffliche Dienste geleistet – aber gebt ihm alles, was in dem Fläschchen ist – es können kaum noch zwanzig Tropfen sein. Die Hälfte davon würde ihn vielleicht nur noch mehr aufregen.«

»Und das Geld soll ich alles haben?«

»Alles – und noch mehr, wenn Ihr das verbraucht habt. Ihr seid ein treuer Diener und habt ehrlich Euer Wort gehalten, aber Ihr könnt auch schweigen?«

»Ich denke, ich habe es bewiesen. Sehe ich aus wie ein Schwätzer?«

»Gut, jetzt geht. Ihr dürft den Unglücklichen nicht solange allein lassen. Kauft Lebensmittel in der Stadt, und nehmt sie mit hinaus, auch ein paar Flaschen Wein. Sie werden Euch und ihm gut tun. Hier, Tadeo, trinkt indessen einmal ein Glas von diesem; er ist rein und kräftig und wird Euch stärken.«

Sie schenkte ihm, während sie sprach, aus einer Karaffe ein halbes Wasserglas voll. Er leerte es, und der feurige Wein fuhr ihm durch den ganzen Körper.

»Seit langer, langer Zeit wieder das erste Glas Wein,« flüsterte er, »Gott lohne es Euch. Ich habe Euch im Herzen vielleicht manchmal Unrecht getan – ich sehe jetzt doch, daß Ihr es gut meint – Gott lohne es Euch.«

»Und Ihr kehrt gleich nach Chacao zurück?«

»In einer Stunde bin ich wieder zu Hause – läßt es mir doch hier in der weiten Stadt selber keine Ruhe – lebt wohl!« – Mit einer ehrfurchtsvollen Verbeugung entfernte sich der Indianer, und als die Tür draußen geschlossen wurde, hörte Sennora Corona, wie er mit langsam gemessenen Schritten die Straße hinabschritt.

Regungslos verharrte sie selber aber noch in derselben Stellung, in der sie Tadeo verlassen hatte, – nur den Blick hatte sie, als er an den Fenstern vorbeiging, dem Klang der Schritte zugewandt, und dorthin starrte sie noch. – Ihre ganze Gestalt schien wie aus Stein gehauen, nur die Brust hob sich unter dem schweren Atem.

Sennora Corona war aber keine Frau, die sich lange hätte von irgend einem Eindruck bewältigen lassen. Langsam hob sie die rechte Hand und strich sich über die Stirn, als wolle sie alle die Gedanken und Erinnerungen, die sie quälten, fortwischen. Und sie verschwanden; ein kaltes, trotziges Lächeln legte sich um ihre Lippen, und mit fester Hand nahm sie die Lampe und schritt wieder hinüber zu den Damen – zu ihrer Tochter.



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