Friedrich Gerstäcker
Die Blauen und Gelben
Friedrich Gerstäcker

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Die Familie Gonzales.

Die Familie Gonzales saß an jenem Morgen und in der nämlichen Zeit, in welcher sich der Justizminister Oleaga über die Vorgänge in Barcelona besonders und dann auch über die am Bord des Dampfers Bericht erstatten ließ, beim Frühstück, in einem luftigen und offenen Raum, der nach dem von den Gebäuden umschlossenen Hof hinausführte.

In dem Geschäftsteil der Stadt hatte man natürlich keinen Platz für einen wirklichen Garten entbehren können, und ebensowenig wäre es ratsam gewesen, diesen, wenn auch noch so klein, im Hof selber anzulegen, wo die Passage dann in der Regenzeit nur in nasser Erde und Wasser bestanden hätte. Aber der Venezuelaner liebt es nun einmal, grüne Bäume und Blütenbüsche um sich zu sehen, und man wußte deshalb das Angenehme mit dem Nützlichen in der einfachsten Weise zu verbinden.

Es ließ sich nicht vermeiden, den Hof zu pflastern, denn die Kinder sollten darin spielen und durch ihn hin lag die Verbindung zwischen den übrigen, durchaus einstöckigen Gebäuden. Der ganze offene und ungedeckte Raum deshalb, der sich zwischen den Gesellschafts- und Wohn- wie Schlafzimmern befand, war mit viereckigen Marmorplatten belegt, ebenso der nach der Straße hinausführende Gang, da die Reitpferde hier nach den dahinterliegenden Ställen hindurch mußten, wie denn auch Ringe, um sie anzubinden, in der einen Mauer befestigt hingen. Aber die Marmorplatten deckten nicht den ganzen Hof, denn in bestimmten Zwischenräumen waren einzelne von ihnen herausgehoben worden, und diese Stellen hatte man dann mit guter Erde gefüllt und kleine Fruchtbäume und Blütenbüsche hineingepflanzt, und so improvisierte man selbst aus dem Steinboden heraus einen wohl künstlichen, aber doch freundlichen Garten. Da standen ein paar prachtvolle Granatbüsche mit ihren in der Sonne leuchtenden roten Blüten, da standen Bananen oder Kambures, die schon einen fast zu großen Schatten warfen und eben die Fruchttrauben ansetzten; da standen Feigen- und Mandelbäume und dazwischen und wie unter dem dunklen Grün versteckt, weiße und rote Rosen in voller Blütenpracht.

Da hinaus mündete das Frühstückszimmer, das noch außerdem durch die vorn hinlaufende Veranda vollständig gegen die Strahlen der Morgensonne geschützt wurde, und der Platz lag so getrennt von dem Lärm der Straße, so freundlich und versteckt, und war weniger prachtvoll als komfortabel eingerichtet, daß man sich kaum etwas Gemütlicheres denken konnte, als die Familie hier um den Tisch versammelt zu sehen, und die Familie war nicht klein.

Gonzales, der nicht gerade zu den reichsten, aber doch recht wohlhabenden Bürgern der Stadt zählte, hatte sieben Kinder, und zwar fast jeden Alters. José war der Älteste und zählte fünfundzwanzig Jahre; dann kamen zwei Töchter, die eine von zwanzig, die andere von siebzehn Jahren, dann wieder ein Sohn von vierzehn und zuletzt drei reizende, allerliebste Mädchen von neun, sieben und fünf Jahren, die dem ganzen Hause Leben und Fröhlichkeit gaben. Auch Sennora Gonzales erfreute sich des Vorrechts vieler anderer Mütter in Venezuela: sie sah, trotz der jungen Bevölkerung um sich her, die auf ihrem Schoße aufgewachsen, noch sehr rüstig, ja fast jugendlich aus, mit rabenschwarzen Haaren, tadellosen Zähnen und frischen Wangen und kleidete sich genau wie ihre Töchter immer nach der neuesten Mode.

Außerdem befand sich noch ihre alte Mutter mit an dem Tisch, eine muntere, rüstige Dame, allerdings schon in den Sechzigern, aber noch mit keinem grauen Haar auf dem Kopfe und lebhaft in allen ihren Bewegungen, selig in den Enkeln, aber nie sich in die Sorgen des Hauses mischend, eine Schwiegermutter, wie sie eigentlich sein sollte, aber leider nur so selten wirklich ist.

Und darüber spannte sich der reine blaue Himmel Venezuelas; darüber lag die wunderbar balsamische Luft und der Duft der Blüten; auf dem Tisch prangten dabei alle Gaben, die das reiche, herrliche Land bot, und um ihn her leuchteten glückliche Gesichter und tönte das fröhliche, herzliche Lachen und Jubeln der Kinder.

Es waren glückliche Menschen, und ob es auch in dem schönen Land selber wild und verworren genug aussah, und zwei Parteien sich in Haß und Leidenschaft einander gegenüber standen, es berührte nicht den Familienkreis. So wie sie sich von der Straße und dem Gewühl der Menschen abschlossen und nur hier im Innern ihre Welt und daran Genüge fanden, so ließen sie auch das politische Lärmen und Treiben nicht herein – wenn es sich nicht gewaltsam zu ihnen seine Bahn brach.

»Du bist gestern abend spät nach Hause gekommen, José,« sagte der Vater, der sich bis jetzt mit den Kleinen beschäftigt hatte. – »Du hast wohl Freunde gefunden?«

»Allerdings, Vater, und unsere Sache steht vortrefflich. Die Ansicht, daß Falcon abtreten müsse, ist allgemein, ich habe keine Stimme dagegen gehört.«

»Weil du dich nur eben in einem bestimmten Kreise bewegt hast,« lautete die Antwort, »in anderen würdest du das Gegenteil erfahren. Aber du kennst doch unser Hausgesetz, hier in den Wohnräumen wird nichts von Politik gesprochen, und wenn du das nicht lassen kannst, so muß ich dich bitten, dich in das Gesellschaftszimmer zu bemühen.«

»Aber da ist niemand, mit dem ich mich unterhalten kann,« lachte José.

»Desto schlimmer für dich und desto besser für uns, aber was ich dich fragen wollte: wie sieht es denn auf unserer Hacienda aus?«

José schüttelte mit finsteren Blicken den Kopf. »Schlecht, Vater,« antwortete er, »die Gelben wirtschaften da nach Herzenslust; in unseren Zuckerfeldern werden ihre Tiere und das Vieh ausgenommen, was wir noch bis jetzt vor ihnen verstecken konnten, haben sie so ziemlich alles abgeschlachtet.«

Sennor Gonzales zuckte mit den Achseln. »Wir dürfen uns nicht beklagen, denn die armen Leute sind noch viel schlimmer daran als wir. Ihnen wird auch das letzte genommen, uns nur ein Teil von unserem Überfluß, und einmal muß dieser Zustand doch auch ein Ende nehmen.«

»Du findest dich sehr kaltblütig hinein.«

»Ich tue das gescheitetste, was man unter solchen Umständen tun kann – ich winde mich so ehrlich wie möglich hindurch.«

»Wie möglich, Vater?«

»Wie man's nimmt. Den oft krummen Wegen der Gegner ist es in manchen Fällen gar nicht möglich, gerade zu begegnen, oder man müßte die ihrigen kreuzen – immer ein sehr undankbares und oft gefährliches Geschäft.«

»Dann läßt du mit dir machen, was sie wollen.«

»Doch nicht.«

»Aber du duldest doch mehr, als ich an deiner Stelle dulden würde,« rief der junge Mann heftig aus. »Das Joch wird unerträglich!«

»Dürfte ich dich vielleicht ersuchen, in das Gesellschaftszimmer hinüberzugehen?«

José konnte nichts darauf erwidern, denn die Kinder lachten jetzt so laut und herzlich bei dem Gedanken, daß er sich dort mit sich selber unterhalten müsse, und Serafine, die Jüngste, rief, von ihrem Stuhl herunterkletternd:

»Komm, José, Fine wird dich hinüberbringen.«

»Apropos,« sagte der Vater, trägst du noch immer die blaue Kokarde?«

»Ja, weshalb?«

»Ich würde sie ablegen, José,« bat auch die Mutter, »man kann in jetziger Zeit nie wissen, in welche Unannehmlichkeit man gerät, und gerade dieser hier ganz nutzlose Schmuck könnte dir große Verlegenheit, ja große Gefahr bereiten.«

»Also aus Furcht sollte ich sie ablegen, Mama?« rief José kopfschüttelnd, »törichte Besorgnis, und außerdem brauche ich sie bei den Freunden als Legitimation, die mir rasch Türen und Herzen öffnet.«

»Und wenn es die Tür eines Gefängnisses wäre, José?« fragte die Großmutter.

José lachte. »Mit der Gegenpartei habe ich nicht zu verkehren und komme deshalb auch nicht mit ihr in Berührung, und von der anderen brauche ich sicher nichts zu fürchten.«

»Mein lieber Sohn,« meinte der Vater, »ich glaube, ich kenne Venezuela besser als du, und in solcher Zeit, wie der jetzigen, ist es oft außerordentlich schwer zu sagen, zu welcher Partei ein Mann gehört. Er weiß es oft selber nicht, und es hängt eben von Umständen ab. – Aber pochte es da nicht am Außentor?«

Die Familie horchte hinüber und ein leises Klopfen wiederholte sich, dem einer der aufwartenden Knaben rasch Folge leistete. Man kümmerte sich indessen nicht darum, denn um diese frühe Tagesstunde kam noch kein Besuch und nur Verkäufer gingen von Haus zu Haus, besonders Gemüsehändler, um ihre Waren loszuwerden.

»Aber der Leute, lieber Vater,« sagte José, »mit denen ich verkehre, bin ich gewiß. Du kannst dich darauf verlassen, daß ich da vorsichtig zu Werke gehe.«

Der Vater antwortete ihm nicht, sondern blickte erstaunt nach dem Gang hinüber, dem er zugewandt saß, denn er erkannte in demselben eine schwarz gekleidete Dame, die eben in den Hof und querüber zu ihrem Frühstückstisch schritt.

»Ana Castilia,« rief er aber plötzlich, von seinem Stuhl emporfahrend – »mein liebes Fräulein – das ist eine Überraschung!«

»Ana,« riefen die beiden jungen Mädchen jetzt ebenfalls und flogen ihr entgegen, »meine liebe gute Ana – wie lange haben wir einander nicht gesehen – aber wie bleich du aussiehst – bist du krank – nimm dir den Stuhl hier, Herz. – Um Gottes willen, was ist vorgefallen?« so klangen die Fragen durcheinander, ehe die junge Fremde nur zu Atem kommen konnte. José hatte ihr auch augenblicklich einen Stuhl hingeschoben, und diesen Moment allgemeiner Verwirrung benutzte die Großmutter, die ruhig zu der Stelle ging, wo Josés Hut lag, mit diesem in ein Nebenzimmer trat und dort rasch und geschickt mit einer kleinen Schere, die sie immer bei sich trug, die blaue Kokarde heraustrennte und in die Tasche steckte. Dann schob sie ein Stückchen Weißes Zeug unter das Band, daß es sich etwa so anfühlte, als ob die Kokarde noch darunter wäre, und legte den Hut wieder auf seine vorige Stelle. Das Ganze dauerte nur wenige Minuten, und niemand hatte indessen auf sie geachtet.

Ana sollte jetzt erzählen – und es wurde ihr schwer, das Entsetzliche noch einmal zu wiederholen – lebte sie es ja dadurch auch noch einmal wieder von neuem durch. – Doch es half nichts – sie erhoffte ja auch von den Freunden hier Hilfe oder wenigstens einen guten und treuen Rat, und mit kurzen, gedrängten Worten beschränkte sie sich auf die Tatsachen. Sie erzählte ihre Erlebnisse an Bord, das Schicksal ihres Bruders und ihr Entree im Hause Oleagas, wie die freundliche Aufnahme, die sie dort gefunden, und ihre Audienz heute morgen mit dem Minister, aus der sie allerdings auch einige Hoffnung geschöpft. Seit sie ihn aber verlassen und allein durch die fremde Stadt geschritten, habe sich wieder eine unsagbare Angst ihrer bemächtigt, und sie wisse nicht was sie tun, wie sie handeln solle.

»Mein liebes Fräulein,« sagte der alte Gonzales, der ihr aufmerksam zugehört hatte, wahrend sie die Kinder dicht geschart umstanden, »ich glaube gar nicht, daß Sie vorderhand irgend etwas tun dürfen und handeln können. Die Hauptsache ist geschehen. Sie haben dem Justizminister selber die Tatsachen erzählt und – wenn ich nicht ganz irre – wie Sie die Audienz schildern, ihn auch dafür interessiert. Ich glaube demnach, daß Sie für das Leben Ihres Bruders nichts zu fürchten haben, denn Falcon selbst ist gutmütiger Natur. Eine Gefangenschaft würde aber, wie unsere politischen Verhältnisse jetzt stehen, vielleicht nicht einmal von langer Dauer sein, und selbst eine solche wäre es möglich zu mildern – wenn man sich nur an die rechten Quellen wendet.«

»Aber ich kenne hier niemanden.«

»Davon nachher. Haben Sie schon Ihren Eltern Mitteilung gemacht?«

»Sennora Oleaga hatte sich anfangs dazu erboten mir einen Boten zu besorgen, aber ich wagte nachher nicht, wieder danach zu fragen.«

»Das wären auch nicht die passenden Leute, die Ihnen Oleaga verschaffen könnte, um sie jetzt als Boten nach der Lagune von Valencia zu senden, wo das ganze Land in Aufruhr ist,« meinte José. »Aber ich verschaffe Ihnen einen zuverlässigen Menschen und werde ihm selber zugleich einen Paß geben, der ihn sicher durch die Vorposten bringt.«

»Damit der nachher von den Gelben aufgefangen wird und man deinen Namen – oder, was fast ebensoviel bedeutet, den meinigen unter der Schrift findet. Du wärst leichtsinnig genug dazu. Der Bote braucht gar keinen Paß und kann den offenen Brief mitnehmen, dem sie keine Schwierigkeiten machen werden, und als Boten schicken wir den einarmigen Felipe, der gerade in der Stadt ist und dort draußen wohnt. Weißt du sein Haus?«

»Gewiß, der wäre vortrefflich –«

»Und der ist auch zuverlässig und dabei mit allen Hunden gehetzt. Liegt Ihnen daran, den Boten rasch – ungesäumt nach Hause zu schicken?«

»O, so rasch als möglich – so rasch als möglich.«

»Aber Ihr Vater kann hier gar nichts nützen – ich – weiß nicht einmal recht, ob er sich hier in der Stadt wird dürfen blicken lassen, denn der General en chef der Blauen wohnt in Ihrem Hause.«

»O, diese unglückselige Revolution!«

»Du kannst nachher gleich einmal mit an der Diligence nachfragen, José, ob heute kein Wagen nach Victoria geht. Ist dem so, so setzen wir den Felipe darauf, und er kommt rascher von der Stelle. Der Bursche ist aber selbst zu Fuß flüchtig wie ein Hirsch, und den können sie nicht unterwegs zum Soldaten pressen. Und nun, mein liebes Fräulein, essen Sie vor allen Dingen etwas. Sie haben doch noch nicht gefrühstückt, wie? Nein? Nun sehen Sie wohl, dann schreiben Sie nachher Ihren Brief nach Hause und indessen besorgt Ihnen José den Boten. – Du brauchst ihn nur zu mir zu schicken, José; den Auftrag will ich ihm nachher schon selber geben. Aber wo sind Ihre Sachen? Ihr Gepäck?«

»Unser Diener sollte es von La Guayra heraufbesorgen – ich habe mich um gar nichts bekümmern können. Er hat den Auftrag es in das Hotel zu schaffen und dort auf mich zu warten.«

»Gut, dorthin werde ich selber gehen und die Sachen mit dem Burschen hierher dirigieren. Wie heißt er?«

»Luis – o, ich bin Ihnen so dankbar.«

»Nichts zu danken, mein liebes Kind. Sie haben große Sorgen genug zu tragen, daß wir Ihnen die kleineren recht gut abnehmen können. Du gehst, José?«

»Ja, Vater – ich habe noch mehrere Wege in der Stadt zu besorgen und kehre vielleicht nicht sogleich wieder zurück. Den Boten schicke ich aber vor allen Dingen her.«

»Gut – aber halt, noch eins – vielleicht könntest du noch einen Weg besorgen. Ich sagte Ihnen vorher, mein liebes Fräulein, daß man manches in der Stadt auszurichten vermag, wenn man sich an die richtige Quelle wendet. Es lebt eine alte Dame hier in der Stadt, die, wie ich ziemlich bestimmt weiß, ohne freilich die Ursache zu kennen, großen Einfluß bei Falcon oder, was gleichbedeutend ist, bei der Regierung hat. Wenn Sie sich an diese wenden wollten, so wäre es möglich, falls Sie imstande sind ihr Interesse zu erwecken, eine nicht unbedeutende Fürsprecherin in ihr zu gewinnen. Ich kann aber nicht sagen, ob sie sich gegenwärtig in Caracas aufhält, denn vor acht Tagen sah ich sie unten in La Guayra, und du könntest vielleicht einmal vorfragen, ob sie sich noch in ihrem Hause befindet, José.«

»Recht gern, Vater – wie heißt sie?«

»Sennora Corona.«

»Sennora Corona?« rief José erstaunt aus – »eine starke Dame mit einem etwas tiefen Organ und einem kleinen leichten Schnurrbart auf der Oberlippe?«

»Die nämliche – aber wo hast du die Dame kennen gelernt?«

José errötete, er wollte der Frage ausweichen und rief rasch:

»Und Sennora Corona soll Einfluß bei der Regierung haben, Vater? Da bist du aber in einem großen Irrtum befangen, denn sie gehört mit Leib und Seele den Blauen an. Ihr Haus ist ja der Mittelpunkt aller revolutionären Elemente in ganz Caracas, und sie scheint nicht einmal ein großes Geheimnis daraus zu machen.«

»Willst du einmal so gut sein und mir die Zeitung, den Federalista, herübergeben, der dort auf dem Seitentisch liegt – ja da – ich danke. Nun bitte, lies einmal hier. Was steht da?«

José las die bezeichnete Stelle: »Wir bringen hiermit zur Kenntnis des Publikums, daß Se. Exzellenz der Präsident Falcon geruht hat, der sehr ehrenwerten Sennora Teodora Corona den Rang als Generala beizulegen und ihr die Medaille wie die damit verbundene Pension von dreihundert Pesos monatlich zu verleihen. – Hahahaha – aber Vater, das ist ein Scherz, den sich die Redaktion gemacht hat, wenn auch ein etwas unzarter. Du hörst doch, daß der ganze Artikel ironisch geschrieben ist.«

»Er mag ironisch geschrieben sein,« sagte der alte Gonzales, »denn die Sache hat allerdings ihre sehr komische Seite, aber nichtsdestoweniger ist jedes Wort daran wahr, und ich habe es schon gestern abend bei unserer Whistpartie erzählen und bestätigen hören.«

»Aber ich gebe dir mein Wort, daß ich aus sehr guter Quelle und sehr genau weiß, daß die alte Dame durchaus revolutionär gesinnt ist.«

»Du wirst doch nicht glauben, daß ihr Falcon einen Generalsrang bei den Blauen verschafft hat?«

»Dann fürchtet die Regierung den Einfluß, den sie hier in der Stadt ausübt, und will sie damit kirren,« rief José nach kurzem Überlegen – »doch sie wird nicht in die Falle gehen und die Ehre jedenfalls zurückweisen.«

»Das wird sie nicht tun, denn sie hat sie schon angenommen,« sagte der Vater. »So wenigstens wurde es gestern abend erzählt, und ich weiß nur nicht, ob das mündlich oder brieflich geschehen ist – ich vermute aber danach fast, daß sie sich gegenwärtig in der Stadt befindet – doch das wirst du bald genug in ihrem Hause erfahren.«

José hätte ihm nun gern darauf erwidert, daß er die ganze Geschichte nicht glaube, denn er sei gestern erst bei ihr gewesen, und sie habe kein Wort davon gegen ihn erwähnt – von einer Auszeichnung hatte sie allerdings gesprochen, aber er selber hatte kein reines Gewissen und – er wollte sich nicht gern in Verlegenheit bringen.

»Gut,« sagte er nach kurzer Pause – »ich werde die nötigen Erkundigungen einziehen, aber Fräulein Castilia ginge da einen vollkommen vergeblichen Weg. Die alte Dame wird sich damit – besonders wenn das Gerücht begründet wäre, nicht befassen wollen. Näherte sie sich doch dadurch selber der feindlichen Regierung, und so darf und wird sie sich nicht kompromittieren.«

»Ich könnte dir einen anderen Beweis bringen,« sagte der alte Gonzales, »aber – es ist vorderhand nicht nötig – überlaß das auch mir, denn ich werde die Dame doch in der nächsten Zeit einmal zu sehen bekommen und kann mich dann selber bei ihr verwenden. Also jetzt schick' uns vor allen Dingen den Felipe her; die ganze Sache ist ohnedies nicht übers Knie zu brechen, und ein paar Tage werden wir immer abwarten müssen.«

Die Damen und Kinder hatten sich indessen ausschließlich mit der jungen Fremden beschäftigt, und die venezuelanische Gastfreundschaft steigerte sich nur noch in dem Gefühl des Mitleids für die Arme. Man sann und dachte an weiter nichts, als wie man sie hier behaglich und freundlich einrichten könne, und während Beatriz, die älteste Tochter, sie bei dem Frühstück bediente und ihr alles zuschob, was sie nur glaubte, daß es sie stärken könne, hatte die Mutter mit der zweiten Tochter schon das kleine sehr hübsch eingerichtete Fremdenstübchen für sie in Ordnung gebracht, und daß sie dort zu Hause war, solange sie eben in Caracas blieb, verstand sich ja ganz von selbst.

José verließ indes das Haus, und wenn ihm auch selber eine ganze Menge der verschiedensten Dinge im Kopfe herumgingen, besorgte er doch vor allem den Boten für die junge Fremde. Ihre Wünsche mußten so rasch wie irgend möglich befriedigt werden, und dann gedachte er sich selber in der Stadt bei einigen politischen Freunden Rat zu holen, wie dem jungen Castilia, der ja doch ihrer Sache angehörte, geholfen werden könne. Ging es nicht im guten, so ging es vielleicht mit Gewalt, und der junge Hitzkopf verlachte dabei alle Schwierigkeiten. Ihm hatte das Leben auch bis jetzt noch keine in den Weg geworfen, und er, wohin er auch ging, die Bahn überall frei gefunden – aber das ändert sich freilich zuweilen.

Es war jetzt etwa elf Uhr geworden und damit Zeit, um Isabel aufzusuchen. Hatte sie es ihm nicht angedeutet? – Und wie lieb und gut sie gestern war. Er schritt rascher aus, denn der Bursch, der Felipe, wohnte am äußersten Ende der Stadt, und er brauchte von da an eine gute Viertelstunde Zeit, um der Sennora Corona Haus zu erreichen. Unterwegs aber gingen ihm eine Menge wunderliche Gedanken im Kopf herum, und besonders das, was sein Vater heute morgen über die Sennora Corona geäußert hatte und was ihm selber ganz unglaublich schien – das Geschenk oder die Auszeichnung Falcons nämlich. Daß sich sein Vater in seinem politischen Urteil über die Dame geirrt, verstand sich von selbst. Der alte Herr hielt sich nur mit seinen Geschäften au fait und war darin zu Hause, aber in der hohen Politik schwamm er herum wie ein Süßwasserfisch in der See, und darin hatte José jedenfalls mehr Scharfblick, soweit er auch an Jahren hinter ihm sein mochte. Über den Generalsrang der Dame – die Sache war überhaupt absurd – schüttelte er also den Kopf und begriff nicht, daß es Sennora Corona angenommen haben könnte – es war das auch gewiß nur ein in der Stadt verbreitetes Gerücht, und er wollte sich jetzt selber davon überzeugen.

»Vielleicht treffen Sie mich morgen früh – es sollte mich recht freuen, Sie wiederzusehen,« hatte Isabel ihm gestern gesagt. Die Worte klangen ihm wieder und wieder in den Ohren, und ein eigenes Gefühl erfaßte ihn, als er jetzt den Klopfer an der Tür hob und ihn zweimal langsam ertönen ließ.

Es wurde ihm rasch geöffnet, und als er den Gang hinaufschreiten wollte, begrüßte ihn Isabel selber am Eingang vom Hofe, indem sie ihm freundlich lächelnd die Hand entgegenstreckte.

»Das ist hübsch von Ihnen, daß Sie Wort halten.«

»Mein liebes, liebes Fräulein,« rief der junge Mann tief erregt, »wenn Sie wüßten, wie ich diese Zeit, in Ihrer Nähe zu sein, herbeigesehnt habe –«

»Pst! – keine Schmeicheleien,« wehrte sie lächelnd ab – »wir haben viel zu ernste Dinge zu besprechen.«

»Ernste Dinge?«

»Ist unser ganzes Leben jetzt nicht ernst? Aber bitte, treten Sie hier ein. Mutter wird bald kommen. Sie hat nur noch einige notwendige Briefe zu schreiben, und Sie müssen sich schon indessen mit mir genügen lassen.«

»Sie sind grausam, Sennorita.«

»Wirklich?« fragte Isabel, und um ihre Lippen zuckte es wie ein Lächeln, dem sich aber auch ein eigentümlich bitterer Zug beimischte. José aber bemerkte das nicht. Er sah nur in die klaren, wunderbar schönen Augen des Mädchens, sah nur die reinen, tadellosen Züge, die volle, blühende Gestalt und vergaß darüber die Welt.

»Und wie haben Sie die Zeit Ihres Aufenthalts in Caracas verbracht?« nahm Isabel das Gespräch wieder auf – »glauben Sie, daß alles günstig geht?«

»Ich hoffe es bestimmt. Wenn sich die besten Kräfte fest vereinigen, so kann ein so von Lügen und Falschheit aufgebautes System doch nicht siegen – es ist nicht möglich.«

»Wenn Ihre Partei nur nicht zu weit geht!« sagte Isabel nachdenkend. »Lieber Gott, ich verstehe mich ja nicht auf Politik und weiß nicht einmal, welche gegründete Klagen das Land gegen diese Regierung hat oder zu haben glaubt, aber was ich von dem Präsidenten höre – und hier im Haus gewiß nicht das beste – drängt mir immer den Gedanken auf, daß er von Herzen gut ist, es auch wirklich gut mit dem Lande meint, und vielleicht nur irregeleitet oder über den ewigen Widerstand erbittert sei. Denken Sie an das furchtbare Blutvergießen, das bei einem Bürgerkrieg ja unvermeidlich ist, und sollte es denn nicht der Mühe wert sein, erst noch einmal zu versuchen, ob nicht alles in Frieden beizulegen wäre?«

»Und hat das nicht Falcon in der Hand?« rief José. »Er braucht ja nur abzutreten, wie es das Volk verlangt, und niemand denkt mehr an einen Bürgerkrieg. Die Tausende von Generalen aber, die er geschaffen« – er schwieg und Isabel errötete leicht, denn sie wußte, was jetzt folgen mußte – »aber beantworten Sie mir eine Frage, Sennorita: Ist es wahr, daß Ihre Mutter eine Auszeichnung von Falcon –«

»Erhalten? Allerdings. Es steht ja schon in der Zeitung.«

»Und angenommen?«

»Und weshalb nicht? Mutter zögerte allerdings, kann sie aber nicht vielleicht gerade dadurch der Partei, der sie sich nun einmal angeschlossen, mehr und bedeutender nützen, und wäre es nicht vielleicht möglich, durch ihre Vermittlung eine Versöhnung herbeizuführen, die alle Teile befriedigte und dem Lande den Frieden erhielte? O, wenn ich Sie auch dafür gewinnen könnte, wie glücklich wollte ich mich preisen.«

»O, Sennorita,« rief José, von dem herzlichen Ton tief ergriffen, »Ihr gutes, reines Herz täuscht sich in der Beurteilung kalter, berechnender Staatsmänner, die kein Gefühl für das Volk, sondern nur für ihren eigenen Ehrgeiz haben. – Versprechungen würden wir bekommen, – Versprechungen die Hülle und Fülle, aber in der Sache selber würde nichts geändert, nur Zeit – kostbare, unwiederbringliche Zeit verloren, und deshalb muß auch gehandelt werden. Doch überlassen Sie das den Männern, die darin rauher und rücksichtsloser verfahren. Auch die Politik selber, Isabel, ist nichts für Sie, und es kommt mir immer so vor, als ob es Ihre Lippen entweihte. – O, wie habe ich mich manchmal nach einer Stunde gesehnt, in der ich Ihnen allein, Auge in Auge gegenüberstehen dürfte – jetzt ist sie gekommen, und ich darf nicht länger schweigen. Isabel, ich liebe Sie recht von Herzen; meine ganze Seele gehört Ihnen – und Sie wissen das – es konnte Ihnen ja nicht verborgen bleiben.« –

»Sennor –«

»Ich will vorderhand keine entscheidende Antwort, Isabel,« wehrte aber José jede Erklärung ab. – »Nur um die Hoffnung flehe ich Sie an, daß auch Sie mich liebgewinnen können – und um die kleine Versicherung bitte ich Sie, daß auch ich Ihnen nicht ganz gleichgültig wie ein Fremder bin. Dann will ich froh mein schweres Werk beginnen, und wenn ich auch weiß, daß ich vielen Gefahren entgegengehe und die Möglichkeit vor mir habe, zu unterliegen, doch in dem seligen Gefühl meine Pflicht erfüllen, mir dereinst Ihren Besitz zu erringen und so glücklich zu werden, wie überhaupt ein Mensch nur werden kann.«

Isabel hatte ihn ruhig ausreden lassen, und so von Leidenschaft hingerissen, flossen seine Worte, daß er kaum selber wußte, was er sprach. Wieder auch zuckte jener eigentümliche Zug um ihre Lippen, und nur das Auge hielt sie zu Boden gesenkt. Sie duldete auch, daß José ihre Hand nahm, daß er seinen Arm um ihre Taille legte und sie leise an sich zog; dann aber, wie das Gefühl abschüttelnd, das sie erfaßt hatte, sagte sie, indem sie sich von dem sie haltenden Arm freimachte:

»Ach, Sennor, ich fürchte, ich fürchte, Sie sind auch nicht besser als alle anderen. Sie schwärmen jetzt und schwören und beteuern und haben in der nächsten Stunde, was Sie geschworen, wieder vergessen.«

»Isabel!« rief José mit schmerzlichem Vorwurf im Ton.

»Vielleicht meinen Sie es wahr,« sagte das junge Mädchen nach einer Pause, in der sie still vor sich niedergesehen, »aber ich selber kann jetzt kein Versprechen geben.«

»Das sollen Sie ja auch nicht, Isabel,« bat José, »nur sagen, ob Sie mir ein klein wenig gut wären.«

»Und wenn ich Ihnen das sagte?« erwiderte Isabel, ohne aber irgend welche Aufregung zu zeigen.

»Dann würde ich dem Tod mit Jubel entgegenfliegen,« rief José begeistert aus, »denn ich wüßte, daß ich dem höchsten Ziel entgegenstrebte.«

»Sie sind ein wunderlicher Mensch. Glauben Sie, daß irgend einer Seele mit Ihrem Tode gedient wäre? Sie sollen leben, aber leben, um der Menschheit zu nützen, und die Liebe eines unbedeutenden Mädchens wäre das wenigste, was Sie sich damit erringen könnten.«

»Und ist das nicht mein Streben?« rief der junge Mann, »opfere ich nicht meine ganze Zeit nur dem einen Ziel, der Freiheit meines Vaterlandes?«

»Aber ich fürchte in verkehrter Weise. Freiheit – das Wort muß immer und ewig dazu dienen, die rohe Masse zu begeistern, sei es unter der Tyrannei eines Königs, sei es in einer Republik. Der wirklich gebildete Mann sollte sich nicht von einem solchen Trugbild, von einer Phrase täuschen lassen, denn eine wirkliche Republik selbst, eine Regierung des Volkes ist ja doch ein undenkbares Ding und findet sich auf der ganzen Welt nicht. Den Klugen wird es immer überlassen bleiben, die Massen zu bewegen, und nur, daß sie es zu deren eigenem Glück und Bestem tun, ist das höchste, was man von ihnen verlangen kann.«

»Aber wenn das nicht geschieht?«

»Dann ist es Pflicht wackerer Männer, sie darauf aufmerksam zu machen und, zeigen sie wirklich ein Streben zum Besseren, sie darin zu unterstützen, aber sie nicht zu verdrängen und das Land aufs neue den Chancen auszusetzen, dasselbe Ungemach noch einmal durchzumachen, ohne ihm irgend welche Sicherheit dafür bieten zu können.«

»Ich verstehe Sie nicht, Isabel,« sagte José, sie erstaunt ansehend.

»Sie verstehen mich nicht? Dann sagen Sie einfach, welches Ziel Sie anstreben? Nur um jeden Preis die jetzige Regierung zu stürzen, oder dem Lande wirklich den Frieden zu geben?«

»Dem Lande den Frieden zu geben, gewiß, was aber meiner Meinung nach nur durch den Sturz der jetzigen Regierung geschehen kann.«

»Ihrer Meinung nach,« wiederholte Isabel, und wieder zuckte, aber fast unbemerkbar, ihre Unterlippe, »und würden Sie Ihre Meinung ändern, wenn man Sie überzeugen könnte, daß sie falsch wäre?«

»Gewiß und sicher, aber wie ist das möglich?«

»Sehen Sie, José,« fuhr Isabel fort, und es war das erstemal, daß sie ihn bei seinem Vornamen nannte, »Sie gehören zu den wenigen braven und uneigennützigen Männern im Lande, die mit ihrer Politik kein eigenes Interesse verbinden. Sie wollen Ihre Landsleute wirklich glücklich machen, sehen aber dabei nicht, daß Sie nur als Werkzeug in der Hand anderer ehrgeiziger Männer arbeiten, für die bei dieser Regierung kein Raum ist, und denen deshalb nichts übrig bleibt, als sie – unter jeder Bedingung – zu stürzen, wenn sie selber vorwärts kommen wollen.«

»Ich begreife Sie nicht, Isabel; wenn ich nicht wüßte, wie fest Sie und Ihre Mutter an der Partei der Freiheit hängen, ich könnte jetzt ganz irre an Ihnen werden.«

»Wieder das Wort Freiheit als Abwehr gegen alles andere?« sagte das schöne Mädchen kopfschüttelnd, »und doch, wenn wir solche Männer mit im Rat des Präsidenten hätten, so glaube ich, daß vieles, ja daß alles besser werden könnte. Kennen Sie Falcon persönlich?«

»Nein, das heißt nur von Ansehen.«

»Wenn Sie ihn nun näher kennen lernten, wenn Sie sich überzeugten, daß er es wirklich gut mit dem Lande meint?«

»Und wären Sie imstande, mich da einzuführen?« fragte José, sie erstaunt ansehend.

»Ich? Wie käme ich dazu?« entgegnete Isabel, und ein leichtes Rot färbte ihre Wangen, – »aber es wäre doch vielleicht möglich, es zu bewerkstelligen. O, alles, nur nicht diese furchtbare Revolution, die dem Lande schon so viele edle Leben gekostet hat und immer noch mehr, immer mehr verschlingen wird.«

José schüttelte mit dem Kopf. »Ihr gutes Herz führt Sie da irre, Isabel,« sagte er freundlich. »Falcon hat kein weiteres Interesse als seine Geldtasche, als die Beute, die er aus dem Lande herausziehen kann. Aber wo sind wir hingeraten? Von Ihnen wollte ich in der kurzen, mir gestatteten Zeit sprechen – von Ihnen und meiner Liebe zu Ihnen, und jetzt –«

Draußen ging eine Tür, und als sich José danach umsah, stand Sennora Coronas breite Gestalt selber auf der Schwelle und nickte dem jungen Mann freundlich zu.

»Nun? Noch in Caracas, Sennor Gonzales? Ich glaubte, Sie ›Allerwärts und nirgends‹ wären schon wieder in das Land hinein, um die Revolutions-Armee organisieren zu helfen?«

Die Worte klangen ebenso spöttisch als freundlich, José aber, wenig darauf achtend, warf nur einen wehmütigen Blick nach Isabel hinüber. Wie hatte er sich auf sein erstes Alleinsein mit ihr gefreut, und jetzt war alles wieder dahin, denn Sennora Corona ließ sich, noch während sie sprach, ganz breit in ihren Stuhl am Fenster nieder – ein Zeichen, daß sie nicht daran denke, den sobald wieder zu verlassen.

»Ich hatte noch Geschäfte, Sennora, die mich hier zurückhielten; es ist möglich, daß ich sogar noch einige Tage in Caracas bleiben muß,« setzte er hinzu und suchte dabei Isabels Blick zu begegnen; das junge Mädchen aber suchte in einer Arbeit herum, die auf ihrem Nähtisch lag, und schien selber über die Störung verdrießlich zu sein, – »wenn ich wüßte, daß ich hier nicht störte, so würde ich mir vielleicht morgen noch einmal erlauben –«

»Stören? – Sie stören nie,« bemerkte die alte Dame gleichgültig, schob sich die Brille zurecht und nahm die vor ihr liegende Zeitung auf – Isabel aber nickte leise vor sich hin, doch ohne aufzusehen, mit dem Kopf, und José hätte laut aufjauchzen mögen über diese ihm verstohlen gegebene Zustimmung. Jetzt aber litt es ihn auch nicht länger hier – ein Gespräch mit der alten, immer sehr kategorisch sprechenden Dame gehörte nicht zu dem angenehmsten, was das Haus bot – besonders nicht in seiner jetzigen Stimmung. Er nahm seinen Hut, empfahl sich der Sennora, reichte noch Isabel die Hand, deren leisen Gegendruck er fühlte, und verließ dann, mit neuer frischer Hoffnung im Herzen, das Haus.

»Du kamst zu früh, Mutter,« sagte Isabel, als sie hörte, daß die Haustür draußen geschlossen wurde – »Du hast mir nicht Zeit gelassen.«

»Ich glaube, ich kam gerade zur rechten Zeit,« erwiderte die alte Dame, über die Brille hinweg nach der Tochter hinübersehend, ohne aber die Zeitung fortzulegen. »An dem Burschen ist auch nichts,« fuhr sie dann fort, das Papier vor sich ärgerlich auf dem Knie glättend – ein Faselhans und weiter nichts, und er kann nur dadurch gefährlich werden, daß er keinen Menschen zu Ruhe kommen läßt.«

»Aber er meint es gut.«

»Bah, so viel für seine gute Meinung!« und sie schnappte verächtlich mit den Fingern, »die Hauptsache aber ist, daß er uns hier gefährlich werden könnte, und das möchte ich mir doch verbeten haben. – Du weißt was ich meine –, und das lohnt der sehr zweifelhafte Gewinn seiner werten Person wahrhaftig nicht. Übrigens,« setzte sie, indem sie ihre Brille zurechtschob und ihre Lektüre wieder aufnahm, hinzu, »glaube ich, daß er uns wenigstens auf andere, wenn auch unfreiwillige Weise helfen soll, und dann ist er doch zu etwas gut gewesen.«

»Wie meinst du das, Mutter?«

»Laß es gut sein, das verstehst du doch nicht,« – und während sie in etwas determinierter Art das rechte Bein über das linke Knie legte, vertiefte sie sich, ohne daß Isabel das Gespräch weiter verfolgt hätte, in das vor ihr liegende Blatt.


José ging die Straße hinab und war dabei so mit seinen Gedanken beschäftigt, daß er gar nicht bemerkte, wie ihm zwei junge Leute, die sich indessen gegenüber im Schatten der Häuser aufgehalten, folgten und eine Strecke lang mit ihm gleichen Schritt hielten. An der nächsten Ecke standen zwei Polizeidiener, als Abzeichen ihre Degen in der Hand haltend, in einer Art von Offiziers-Uniform, die sich miteinander unterhielten und dadurch das ohnedies sehr schmale und durch den eisernen Vorbau der Gitterfenster noch beschränkte Trottoir unpassierbar machten.

José sah wohl, daß jemand dort im Wege stand, achtete aber nicht darauf, wer es sei, oder kümmerte sich wenigstens nicht darum. Er bemerkte nur eine schmale Passage, die er noch benutzen konnte, und wollte vorüber, als der eine der Leute zur Seite fuhr und ausrief:

»Hallo, Sennor, was soll denn das heißen? Wie können Sie mich hier vom Trottoir hinunterstoßen?«

»Ich habe Sie nicht gestoßen,« brummte José und wollte vorüber.

»Na, das fehlte auch noch, daß sich die Polizei sollte so behandeln lassen!« rief der andere, eilte ihm nach und faßte ihn am Arm. »Wer sind Sie denn eigentlich, doch nicht etwa der Präsident?«

»Was wollen Sie von mir? Ich habe Sie nicht gestoßen,« sagte José mürrisch – »lassen Sie mich los, ich habe zu tun.«

»Ja, er hat ihn gestoßen,« mischte sich jetzt einer der jungen Leute, die ihre Schritte beschleunigt hatten, in den Streit – »ich habe es selber gesehen.«

»Die Unverschämtheit ist doch zu groß,« rief der erste wieder – »kommen Sie einmal mit.«

»Das ist einer von den Blauen,« rief da der andere Fremde, »die zum Spionieren in die Stadt kommen und schon so übermütig sind, als ob sie die Herren von Caracas wären.«

»Lassen Sie mich los,« bat jetzt José, dem die Sache anfing, fatal zu werden. »Wenn ich Sie gestoßen habe, ist es aus Versehen gewesen. Ich wohne hier in der Stadt und habe Geschäfte.«

»Hören Sie einmal,« sagte der zweite Polizeidiener, der jetzt ebenfalls seinen Arm ergriffen hatte, »die Sache kommt mir verdächtig vor; der Bursche hat kein gutes Gewissen.«

»Und was hat er denn da am Hut?« fragte der andere und riß ihm, ehe es José verhindern konnte, den Hut vom Kopf. – »Caracho – was steckt denn da unter dem breiten Band?« Er fuhr mit dem Finger darunter, und José wurde bleich. – Sein Vater hatte recht gehabt und er sich selber in eine ganz unnötige Gefahr gebracht.

Der Polizeidiener schob indessen sehr rücksichtslos das Band beiseite, fühlte etwas darunter und zog es heraus, betrachtete es aber verblüfft, denn was er auch darunter erwartet haben mochte, er fand nichts als einen kleinen, zusammengedrückten, weißbaumwollenen Lappen.

»Hallo!« rief er, den Lappen erstaunt betrachtend, »was ist denn das, und weshalb tragen Sie das unterm Hutband?«

»Das ist jedenfalls ein geheimes Zeichen,« sagte der erste wieder. »Der Teufel soll alle die Lumpereien kennen, die sie jetzt treiben, um das Land aufzuwiegeln.«

»Aber zum Henker, ihr Leute,« rief José jetzt, dem sich eine Zentnerlast abwälzte, als er den Fund des Polizeidieners bemerkte, ob er auch vielleicht selber so erstaunt darüber war wie dieser, »wenn mir das Band zu weit ist, werde ich doch einen Lappen darunter stecken dürfen?«

»Na, das mag der Präfekt entscheiden,« antwortete der zweite. »Jetzt kommen Sie erst einmal mit, und dort können Sie sich nachher legitimieren.«

»Aber auf welchen Grund hin werde ich verhaftet?« fragte José, und eine Anzahl von Menschen fing schon an sich auf der Straße zu sammeln.

»Gefangenen wird kein Grund angegeben,« lautete die Antwort, indem ihn die Leute nur fester anfaßten, und während die beiden jungen Fremden laut lachten, drängten sie José die Straße hinab.

»Was hat denn der Sennor verbrochen, daß er hier so behandelt wird?« fragte jetzt ein hinzutretender Herr.

»Und haben Sie was danach zu fragen?« rief der eine Polizeidiener ihn höhnisch an. »Sie wollen ihm wohl Gesellschaft leisten?«

Der Bursche war übermütig geworden, denn eine Anzahl von Soldaten schlenderte die Straße gerade herab und kam, als sie die versammelten Menschen dort bemerkte, rasch darauf zu.

»Es ist wahrhaftig weit gekommen,« meinte der andere, »daß Beamte nicht einmal mehr ihre Pflicht tun können, ohne gestört zu werden.«

»Wer will Sie denn daran hindern, he?« riefen ein paar der Soldaten, hinzudrängend, so daß der Frager sich rasch zwischen die übrigen zurückzog, um nicht ebenfalls Unannehmlichkeiten zu bekommen.

José sah wohl ein, daß er hier durch Widerreden nicht das geringste ausrichten, ja viel eher seine Sache verschlimmern würde; überdies wuchs die Ansammlung der Menge mit jedem Augenblick, und die Präfektur befand sich ja gar nicht weit entfernt, an der Plaza. Dort konnte er seine Klage gegen das rücksichtslose Betragen der Polizeibeamten vorbringen, und es verstand sich von selber, daß er dann gleich wieder entlassen werden mußte.

»So lassen Sie uns gehen,« sagte er zu den Polizeidienern, – »ich bin bereit, Ihnen zu folgen, und Sie brauchen mich nicht so fest zu halten, ich laufe Ihnen nicht davon.«

»Sicher ist sicher,« entgegnete der Mann des Gesetzes, welcher der sich ansammelnden Volksmenge nicht besonders zu trauen schien. »Bleibt ihr ein wenig bei uns, bis wir an die Präfektur kommen,« rief er dabei den nächsten Soldaten zu, und seine Vorsicht schien nicht so ganz nutzlos gewesen zu sein.

»Na, die Schinderei wird ja doch auch einmal ein Ende nehmen«, rief eine Stimme aus der Menge heraus, »und dann paßt auf, wie sie euch auf den Trab bringen!« – »Wenn nur die Blauen erst hereinkommen,« rief ein anderer, »dann wollen wir einmal sehen, wer eingesperrt wird.« – »Das ist der Sohn von dem reichen Gonzales,« rief ein dritter, »den stecken sie bloß ein, damit sie den Alten schröpfen können.«

Die Stimmung wurde eine immer erbittertere, und einige machten ganz offen den Vorschlag, den Gefangenen zu befreien und die Polizei »abzuprügeln«. Da kam die Patrouille von etwa zwanzig Mann die Straße herunter marschiert – die Präfektur war auch schon in Sicht, und die Leute, unbewaffnet wie sie waren, zogen es doch vor, sich zurückzuhalten. Die Gerichtsdiener konnten ihren Weg bis auf das Präfekturgebäude ungestört fortsetzen.



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