Friedrich Gerstäcker
Die Blauen und Gelben
Friedrich Gerstäcker

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Der Gesellschafter.

José, um seine Eltern nicht zu beunruhigen, denn er wußte, wie sich besonders die Mutter ängstigen würde, wenn sie nur eine Ahnung von seinem immer etwas gefährlichen Unternehmen gehabt hätte, sagte ihr, daß er mit Teja einen Freund des letzteren aufsuchen würde; sie sollten sich nicht ängstigen, wenn er etwas spät nach Hause käme, und Teja selber würde überhaupt bei dem Freunde übernachten – morgen schon hoffe er ihnen dann vielleicht gute Nachrichten zu bringen.

Die alte Großmutter sah ihn scharf an, als er Abschied nahm, aber sie sagte kein Wort. Es war ihr aufgefallen, daß die beiden jungen Leute so viel heimlich miteinander sprachen – was es aber auch war, sie mochten es miteinander ausmachen. Es lag einmal eine schwere, drückende Last auf dem schönen Lande, und wenn die jungen Kräfte nicht daran gingen sie abzuschütteln, die alten wären es doch nie imstande gewesen.

Teja hatte sich, nachdem er an dem Abend das Kistchen mit den Eßwaren abgeliefert, das Terrain etwas genauer angesehen und keine Schwierigkeiten gefunden. Zwei Posten standen hinter dem Gefängnis, aber ziemlich weit voneinander entfernt, und er wußte recht gut, wie schlecht besoldet und gefüttert diese armen Teufel wurden, die fast alle nur gezwungen die Muskete trugen.

Für jetzt war noch nichts in der Sache zu tun, denn alle zwei Stunden wurde abgelöst, und die bis dahin Wachestehenden durften natürlich auch nicht das geringste Verdächtige bemerken, oder sie hätten auf der Wache davon gesprochen und damit nur größere Aufmerksamkeit erregt. Nur einmal passierten die Freunde zusammen die Straße, damit Teja genau den Platz kennen lernte, wo der Gefangene von innen ausbrechen sollte. Teja hatte sich außerdem eine Soldatenmütze und ein breites Goldband verschafft, die er später tragen wollte, ein Säbel stand bei einem in der Nähe wohnenden Bekannten, und so konnte er in der Dunkelheit recht gut für einen Offizier der Regierungstruppen gelten, da Offiziere so zahlreich waren, daß den Soldaten fast täglich neue beigegeben wurden.

Oben vor der Pulperia saßen noch etwa ein Dutzend Soldaten und besprachen die Erlebnisse des Tages, aber bis zehn Uhr ließ sich hoffen, daß diese ihr eigenes Quartier aufgesucht haben würden. Jetzt störten sie niemanden. –

Es wird aber Zeit, daß wir zu dem jungen Castilia zurückkehren, der an dem Abend in dumpfem Brüten auf seiner Matratze lag und vor sich niederstarrte.

Sein Todesurteil war ihm allerdings noch nicht verkündet worden, aber das konnte jeden Augenblick geschehen, oder – wurde auch vielleicht nicht einmal für nötig befunden – was für Umstände brauchte man mit einem Spion zu machen.

Gonzales hatte ihm wohl noch einen Trost gegeben und Versuche zu seiner Rettung versprochen – aber wohl nur, um ihm die letzten Stunden mit einer Hoffnung zu erleichtern. Es war unmöglich gewesen, und er mußte sich in sein Schicksal fügen. – – Seine arme Mutter – der Vater – die Schwestern – wie furchtbar würde sie die Kunde treffen – wie wenig vorbereitet, und er selber – so elend sollte er enden? Er fürchtete nicht den Tod, und mit Jauchzen wäre er ihm im Kampfe für sein Vaterland begegnet – aber keinen Schlag sollte er für die Freiheit desselben führen dürfen – keinen – und nicht einmal den Sturz des Mannes, den er auf der ganzen Welt am meisten haßte – den Sturz dieses Falcon erleben.

Draußen im Hof entstand plötzlich ein wildes Getümmel, Lachen und Schreien von einer Menschenmasse, auf die der Gefangene anfangs nicht achtete, bis er plötzlich seinen eigenen Namen heraushörte und erschreckt aufhorchte. – Kamen sie schon jetzt, um ihn abzuholen? Sollte er von der tobenden, jauchzenden Menge hinausgeschleppt werden auf den Richtplatz?

Die Tür seiner Zelle wurde aufgerissen und mit totenbleichen Zügen richtete er sich auf seinem Lager empor. – Die Masse wälzte sich gegen die Tür an, aber um ihn bekümmerte sich niemand. Ja, er mußte sogar zurückweichen, soweit es die Mauer gestattete, denn rücksichtslos genug traten die Eindringenden in dem engen Raum hin, wohin sie die Füße setzen konnten. Jetzt erst bei dem matten Dämmerlicht, das noch durch die offene Tür fiel, erkannte er einen dunklen Klumpen, den sie zwischen sich trugen und ohne weiteres in die andere Ecke und auf die Kuhhaut warfen, die der Schließer für Gonzales hereingeschafft und noch nicht wieder weggenommen hatte.

»Daß Ihr Euch nicht untersteht und den Burschen losbindet,« rief ihm dann noch der Schließer zu. »Ihr verderbt Euch sonst morgen den Spaß, denn er dreht Euch jedenfalls den Hals um,« – und damit warf er die Tür wieder zu, und volle Dunkelheit deckte alles.

Castilia hatte keine Ahnung wer ihm da plötzlich als Leidensgefährte zugeteilt wurde, und der Zwischenfall [hatte] wenigstens das Gute, ihn für kurze Zeit von seinen eigenen trüben Gedanken abzulenken. Der neue Gefangene lag aber da und rührte und regte sich nicht. War er tot? Und auch diese Qual wurde ihm noch auferlegt, nicht einmal die letzten ihm gestatteten Stunden durfte er allein und ungestört verbringen, oder war auch das ein Opfer, das morgen gleiches Schicksal mit ihm teilen sollte?

Wieder hörte er draußen sprechen und noch einmal wurde der Schlüssel in das Schloß gestoßen. Der Schließer schob ihm das Kistchen hinein, das ihm Teja gebracht, und das Herz hörte dem Gefangenen fast auf zu schlagen, denn jetzt im letzten Augenblick, wo er sich schon rettungslos verloren gegeben hatte, durchzuckte ihn plötzlich aufs neue ein Gedanke an Hilfe, an Rettung. Aber wie sollte er im Dunklen wissen, ob ihm das Zeichen gegeben sei: das rote Band? In der Dunkelheit ließ sich ja nichts erkennen. Er bat nur für einen Augenblick um Licht – der Schließer aber verweigerte es. Er durfte den Gefangenen kein Licht geben. Doch er verriet selber, was Castilia wissen wollte: »Es sind lauter gute Sachen, und alles hübsch mit roten Bändchen zugebunden,« sagte er im Weggehen. – Mit roten Bändern? Und mit zitternden Händen tappte Castilia nach dem Kasten, um den ihm bezeichneten Schieber daran zu finden, – Er war da – er konnte ihn aufziehen und das Eisen darin fühlen – aber was jetzt? – Wer war sein Mitgefangener, und durfte er wagen, ihn in seinen Fluchtversuch zu ziehen?

»Caballero,« sagte da eine dumpfe, tiefe Stimme aus der anderen Ecke – »wie ich vorhin hörte, habt Ihr Lebensmittel geschickt bekommen. Ist vielleicht etwas Nasses dabei? – Mir klebt die Zunge am Gaumen.«

»Ich will sehen, Compannero,« erwiderte Castilia, dem jetzt besonders daran liegen mußte, seinen Gefährten, wer es auch sei, bei guter Laune zu erhalten, – »ja – ich fühle eine Flasche – es wird Wein darin sein – soll ich Euch ein Glas geben?«

»Gott vergelt's Euch,« knurrte die Stimme wieder, »und wenn Ihr auch eigentlich die Schuld tragt, daß ich hier wie ein wildes Vieh gebunden liege – Ihr könnt nichts dafür und es geschieht mir eigentlich ganz recht.«

»Ich soll die Schuld tragen?« fragte Castilia erstaunt, – »ein Gefangener hinter Schloß und Riegel?«

»Seid Ihr nicht der Castilia, der morgen früh erschossen oder gehangen werden soll? Ich dächte doch, ich hätte die Schufte draußen davon reden hören.«

»Der bin ich allerdings,« erwiderte Castilia mit einem Seufzer, und ein eigenes Gefühl, das ihm den Atem zu nehmen drohte, drückte ihm das Herz.

»Dachte so,« brummte der Neger, »geht doch manchmal wunderlich in der Welt zu, aber der Teufel soll sie alle holen, wenn ich nur erst die Fäuste wieder freibekomme. Einen Schluck, Kamerad, mir trocknet sonst die Kehle zusammen.«

Castilia öffnete die Flasche, die zum raschen Gebrauch nur leicht verschlossen war, fand auch bei weiterem Herumfühlen ein Glas und schenkte, es vor dem eingeschnittenen Türloch gegen den noch hellen Himmel haltend, den Wein ein. Er hatte einige Schwierigkeit, den Kopf seines Kameraden zu finden und diesen so weit emporzuheben, daß jener imstande war zu trinken. Er hätte den wolligen Kopf nicht erst zu fühlen gebraucht, schon die scharfe Ausdünstung verriet ihm deutlich genug, mit welcher Menschenrasse er es hier zu tun hatte – und doch, wie gleich standen sich beide – ja der Neger hatte noch einen großen Vorteil vor dem Weißen, denn ihn bedrohte nicht am nächsten Morgen ein schimpflicher Tod.

Der Neger sog noch an dem Glas, als er schon lange den letzten Tropfen hinunter hatte.

»O, das tut gut – Caracho,« stöhnte er, »das war ein guter Tropfen; noch einen Schluck, Compannero, und dann tue mir die Liebe und binde mir die Hände los. Die Hunde haben mich so fest geschnürt, daß mir das Blut in den Armen stockt.«

»Und wenn der Schließer zurückkommt, was geschieht mit mir? Er hat es streng verboten.«

»Gott verdamm' ihn,« knurrte der Neger, »wenn ich die Arme wieder freihabe, solle er nicht wagen, sein gelbes Gesicht hier hereinzustecken. Caracho, ich drückte ihn zu Brei zusammen.«

»Was können wir gegen die bewaffnete Überzahl machen,« entgegnete Castilia: »aber ich will Euch etwas sagen, Compannero, da wir doch nun einmal Leidensgefährten sind. Ich werde Euch die Stricke lockern, damit sie Euch nicht mehr weh tun. Ihr versprecht mir aber, sie bis neun Uhr an Euren Armen zu lassen. Nachher kommt niemand mehr zu uns, das Tor vorn wird geschlossen, glaub' ich, sie lassen wenigstens niemanden mehr herein, und gegen Morgen kann ich Euch dann wieder binden. Seid Ihr damit zufrieden?«

»Gern,« brummte der Neger, »kann nicht mehr von Euch verlangen und würde selber nicht mehr für einen anderen tun; aber noch einen Schluck, Kamerad, wie?«

»Ich will gern das Wenige, was ich habe, mit Euch teilen,« seufzte Castilia, »wer weiß, ob ich es noch brauche.« Er fühlte dabei an den Stricken herum, die um die Armgelenke des riesigen Negers gewunden waren, und es gelang ihm bald den Knoten zu finden.

»Wenn ich nur den einen Arm herausbekommen könnte,« sagte der Gefesselte; »kommt jemand, so schieb' ich ihn geschwind zurück, und daß sich mir niemand mehr heute abend in den Bereich meiner Beine wagt, dafür steh' ich Euch, Amigo.«

Castilia lächelte. – »Nun denn in Gottes Namen, aber haltet Euch ruhig, wenn jemand kommt, wir sind nun doch einmal in ihrer Gewalt. So, jetzt könnt Ihr den rechten Arm herausziehen, und nun wartet einen Augenblick, ich schenke Euch noch einmal ein.«

»Dios lo paga – Dios lo paga« – knurrte der Neger, »wunderlich genug geht es in der Welt zu, das weiß der Himmel. Vor kaum einer Stunde ging ich in das verwünschte Nest, um eine Bittschrift mit zu unterzeichnen, daß sie Euch nicht erschießen, sondern hängen sollten.«

»Um der heiligen Jungfrau willen,« rief Castilia entsetzt, »und was hatte ich Euch getan?«

»Und jetzt,« fuhr der Neger fort, ohne die Frage zu beantworten, »seid Ihr gerade der, der mir die einzige Wohltat erweist, während mich das andere Gesindel wie einen räudigen Hund behandelt hat. Wenn ich Euch nur einmal wieder einen Dienst erweisen könnte, aber ich werde keine Zeit dazu haben.«

»Ihr gehört zu den Gelben?« fragte Castilia.

»Ich gehörte dazu,« brummte der Neger, »und mit Leib und Seele; aber der schlimmste Streich, den sie sich spielen konnten, war, daß sie mich mit Füßen traten. Caracho, mir tritt die Galle ins Blut, wenn ich nur daran denke, wie sie mich behandelt haben. Jetzt ist's aber vorbei. Unter solch einer Bande möchte ich auch nicht General sein – verdammt will ich sein, wenn ich's möchte.«

»Aber was wollt Ihr tun?«

»Zu den Blauen übergehen, sowie ich erst wieder den Boden unter meinen Füßen fühle, und dann wollen wir einmal sehen, ob Samuel Browns Knochen kein Gewicht in die Wagschale werfen.«

»Aber was ist Euch geschehen?« fragte Castilia, der aus diesen Reden neue Hoffnung schöpfte, denn in einer solchen Stimmung verhinderte sein Gefährte vielleicht seine Flucht nicht, sondern teilte sie vielleicht.

»Was mir geschehen ist? – Nun, Compannero, zu versäumen haben wir gerade nichts, und ich glaube, ich kann Euch ebensogut die Geschichte erzählen. Erbaulich ist sie jedenfalls, und mir tut's gut, wenn ich doch gegen einen Menschen das Gift ausleeren darf, das in mir kocht.«

»Wollt Ihr nicht erst noch einmal trinken?«

»Von Herzen gern. Jetzt fangen mir auch die Arme an wieder gelenk zu werden. Heilige Jungfrau, wenn ich in diesem Augenblick in die Schufte hineinfahren könnte!«

Er tappte dabei nach dem ihm entgegen gehaltenen Glas, leerte es und erzählte dann mit vorsichtig gedämpfter Stimme, um den Schließer nicht aufmerksam zu machen, seinem Mitgefangenen seine letzten Abenteuer, seit er General geworden. Er milderte auch nicht etwa die Behandlung die er erfahren, sondern schmückte so viel eher noch in seinem Ingrimm und in der Erinnerung an all die erlittene Schmach mehr aus. Er verschwieg nicht das kleinste, selbst nicht, daß er sich in der Erbitterung oder Aufregung wohl dann und wann einen kleinen Rausch angetrunken habe, aber das war jetzt vorbei. Er wollte nüchtern bleiben, um nur erst einmal wieder freizukommen, und nachher? – dem Teufel wolle er verfallen sein, wenn er nicht so schnell desertierte, wie ihn nur seine Füße tragen könnten.

Castilia traute dem Neger noch nicht. – Die Erzählung seiner Mißhandlungen konnte ihn augenblicklich in schlechte Laune versetzt haben, und er verschwor sich vielleicht zu etwas, was er in der nächsten Viertelstunde widerrief. – Er ging darum vorsichtig zu Werke und fragte ihn bald über das, bald über jenes; der Neger aber hatte sich nie in seinem Leben um Politik bekümmert, wie sich eben niemand um ihn bekümmert zu haben schien. Die Ernennung zum General hatte ihn natürlich für die Sache der Gelben ganz gewonnen, der er, unter anderen Umständen, bis zum letzten Blutstropfen gedient haben würde. – Konnte man das aber eine Behandlung für einen General nennen? – Und vom Kriegsminister hinab bis zum gemeinen Soldaten? – Das ertrug er nicht länger, und darum war er fest entschlossen, sein Glück jetzt einmal unter den Blauen zu versuchen.

Wer weiß, ob nicht zu diesem Entschluß das auch viel beitrug, daß er auf sein Generalspatent hin einen ziemlichen Kredit in Caracas bekommen und benutzt hatte. Wie sollte er alle die Schulden jetzt bezahlen – und wohin war überhaupt sein Patent gekommen? Das mußten ihm die Schufte an der Plaza gestohlen haben; er erinnerte sich noch deutlich, wie er es bei dem Überfall in der Hand gehalten. Was konnte er jetzt überhaupt noch machen, wie beweisen, daß er General geworden? Das Papier war fort, und er wieder gemeiner Soldat, wie vorher, wenn er nämlich bei den Gelben blieb.

Daß von solchen Ernennungen eine Kontrolle geführt wird, und daß der Kriegsminister den Befehl aller Ausfertigungen mit seinem Namen in seinen Büchern haben mußte, fiel ihm nicht ein, und er dachte gar nicht an solche Spitzfindigkeiten.

Jetzt hielt es Castilia geraten, ihn in seinen Fluchtplan einzuweihen, und ihn aufzufordern, mit ihm zu fliehen. Er versprach, wenn er ihm behilflich sei, dafür zu sorgen, daß er eine anständige Stellung im Revolutionsheer erhielt, wo überhaupt der Sold pünktlich ausgezahlt wurde – und Samuel Brown ging mit Jubel auf das Anerbieten ein.

Aber wie wollten sie hier fortkommen? Sollte Samuel die Tür einbrechen? – In zwei Minuten hätte er sie aus ihren Angeln gehabt.

Castilia stellte ihm das Wahnsinnige eines solchen Unternehmens vor, denn nur bei den ersten Versuchen würden sie die ganze Wache mit geladenen Musketen und aufgepflanzten Bajonetten vor der Tür gehabt haben, und keine Möglichkeit, zu entkommen.

Und wie dann?

Jetzt erst machte ihn der junge Venezuelaner mit seinem Plan bekannt. – Diese Mauer mußte auf eine Straße oder auf einen offenen Platz – ja, vielleicht gar in einen Hof führen, denn sonst würden ihm die »Freunde« nicht das Zeichen gesandt haben. Die mußten sie durchbrechen und dann sehen, wie sie, von jenen unterstützt, ihre Flucht bewerkstelligten. Gefahr war freilich immer dabei.

»Gefahr?« lachte der Neger, indem er die rechte riesige Faust vor Entzücken ballte, »o, laßt mir nur einen der Schufte oder einen ganzen Haufen von ihnen in den Weg kommen, und seht, was ich mit ihnen mache, – Aber mit was für Werkzeug bohren wir uns durch? – Nicht einmal ein Taschenmesser habe ich bei mir.«

Castilia hatte die Kiste hervorgezogen und den Schieber geöffnet – er enthielt einen etwa anderthalb Fuß langen starken Meißel und ein schmales, aber scharfes Dolchmesser. Er nahm das erste Instrument und legte es in des Negers Hand.

»Genügt das?«

»Caracho!« rief der Bursche mit vorsichtig gedämpfter Stimme. »Jetzt bin ich nicht mehr wehrlos, und verdammt will ich sein, wenn einer der gelben Schufte mir zu nahe kommen darf, ohne den Schädel eingeschlagen zu kriegen. Das ist vortrefflich und hat gerade das richtige Gewicht. – Wollen wir nicht gleich anfangen?«

»Wir würden alles verderben, denn jeden Augenblick kann der Schließer noch einmal hereinkommen, und fände er uns bei der Arbeit, so wären wir verloren. Gebt mir das Eisen wieder, Amigo, daß ich es an dem alten Platz verberge, bis wir vollkommen sicher sind.« –

»Eher lasse ich mich in Stücke reißen,« knurrte der Neger »als ich die Waffe wieder aus den Fingern gebe. Nein, Compannero, vertraut sie mir, sie ist in besten Händen, und wenn sie Euch jetzt an den Kragen wollen, müssen sie mich vorher ebenfalls totschlagen. Lächerlich ist's aber,« flüsterte er lachend vor sich hin, »daß hier ein wirklicher General der Gelben liegt, der sich eben die größte Mühe gibt zu den Blauen hinüberzukommen. Doch es ist ihre eigene Schuld; die mögen es verantworten, die es eingebrockt. Und nun habt keine Furcht weiter, Compannero, das Fell nehmen sie in dieser Nacht nicht wieder heraus, können es auch nicht bekommen,« setzte er ingrimmig hinzu, »und unter dem Fell liegt das Eisen, so sicher wie in einer Kirche. Ich will auch Geduld haben. Ihr sollt Euch in keiner Weise über mich beklagen dürfen, aber wenn es Zeit ist, dann sagt's, und dann sollt Ihr auch erleben, wie wacker ich mich durch die erbärmliche Mauer arbeite. Das Maurerhandwerk war immer meine Passion und Ihr hättet keine bessere Hilfe zu solcher Arbeit in ganz Venezuela gefunden.«

Draußen wurden wieder Schritte und Stimmen laut, und beide lagen still und regungslos, um zu warten, ob der Besuch ihnen gelte. Diesmal aber wurde eine der Nachbarzellen aufgeschlossen, und ein paar Leute zankten sich dort herum. Was es aber war, konnten sie nicht verstehen, und bald darauf wurde es auch wieder still. Sie hörten, wie sich die Leute entfernten, und nur der regelmäßige Schritt der Wachen, die auf und ab gingen, um nicht einzuschlafen, störte noch die Ruhe.

Jetzt schlug es draußen acht; noch zwei volle Stunden, ehe sie ihre Arbeit beginnen durften; denn wenn sich auch nach neun Uhr wohl niemand mehr um sie bekümmerte, so war es doch sicherer, lieber jede Vorsicht zu gebrauchen.

Der Neger hatte auch munter bleiben wollen, aber der heute getrunkene Branntwein und die Aufregung dazu, schienen ihn ermüdet zu haben. Er streckte sich auf seiner Kuhhaut aus, und an ein ähnliches Lager von Jugend auf gewöhnt, war er auch bald fest eingeschlafen und schnarchte laut. Castilia ließ ihn ruhig gewähren, denn ging der Schließer noch vorüber und hörte das Schnarchen, so wurde er um so sicherer gemacht, und konnte nicht vermuten, daß ein Mensch, der so gesund schlafe, an einen Fluchtversuch oder sonst etwas Ungesetzliches denke. Ihn selber aber ließ die Aufregung nicht ruhen. Halbe Stunden lang zählte er die fliehenden Minuten selbst an seinen Pulsschlägen ab, und konnte bald genau die Zeit bestimmen, wann der Klöppel, der wahrscheinlich im Abfertigungszimmer hängenden Wanduhr wieder aushob.

Endlich fehlte nur noch eine halbe Stunde an zehn Uhr, Die neunte Stunde war vorüber und niemand gekommen, um zu revidieren. Sollten sie noch länger warten? – Er beschloß, jedenfalls den Neger zu wecken, um ihn erst vollständig munter zu bekommen, und legte ihm deshalb die Hand auf die Schulter. Samuel Brown aber hatte einen gesunden Schlaf, und es bedurfte stärkerer Mittel um ihn wach zu bekommen. Castilia fing an, ihn leise zu schütteln, dann etwas rauher, und erreichte endlich, daß er wenigstens mit Schnarchen aufhörte. Ein eigener Gedanke durchzuckte ihn – sollte er ihn ruhig fortschlafen lassen und seine Flucht allein versuchen? Das Eisen fühlte er unter dem oberen Rand der Kuhhaut und konnte es leicht entfernen. Wenn der Bursche nun, nachdem er ausgeschlafen, vielleicht anderer Meinung wurde als vorher? Wenn er ihn verhinderte?

Vorsichtig zog er das Eisen hervor und der Riese, nicht weiter belästigt, fing schon wieder an zu schnarchen. – Er wollte jedenfalls den Versuch machen, wie leicht sich die Mauer bearbeiten ließ, tappte sich nach der Rückwand und fing an das Instrument einzusetzen. Stoßen oder schlagen durfte er freilich nicht, sonst hätte er zu viel Geräusch gemacht, also nur bohren; wo er es aber auch versuchte, bald hier, bald da, er war nicht imstande das Werkzeug auch nur einen Zoll tief in die feste Steinmasse hineinzubringen, und die kleinen Stücke, die er hier und da abbröckelte, konnte er nicht einmal sehen. Jetzt überkam ihn die Angst; draußen hob die Uhr wieder aus und schlug dreiviertel auf zehn. Er hatte eine volle Viertelstunde gearbeitet – der Schweiß stand ihm in Perlen auf der Stirn, und noch nichts, noch gar nichts ausgerichtet. Draußen harrten vielleicht seine Retter – sie konnten, sie durften ihm ja nicht helfen, und hier mühte er sich umsonst ab, während schon die Gewehre geladen waren, die seinem Leben mit Sonnenaufgang ein Ende machen sollten.

Ein Zittern überlief seinen ganzen Körper, eine Angst, wie er sie nie gekannt, erfaßte ihn, und sich zu dem Schlafenden niederbeugend, schüttelte er ihn aus Leibeskräften, während er ihm in das Ohr flüsterte: »Kommt, kommt! die Zeit verfliegt. Um Gottes willen, oder wir sind verloren.«

Samuel erwachte und fuhr empor. Er wußte wohl in dem Augenblick weniger, wo er sich befand, als daß er eine Waffe gehabt, und mit den Händen gierig danach umher tappend, rief er aus: »Wo ist das Eisen – wer hat mir –«

Castilias Hand lag auf seinen Lippen.

»Ruhe, um der heiligen Jungfrau willen, hier – hier ist es, Amigo, nehmt es, aber helft mir, die Mauer ist felsenfest, ich bin nicht imstande sie zu öffnen.«

Der Neger verstand kaum die Worte, er war noch schlaftrunken und bedurfte Minuten, um sich wieder zu sammeln. Aber er fühlte das Eisen in der Hand, und mit dem Gefühl kehrte ihm auch wohl die Erinnerung dessen, was geschehen mußte, zurück.

»Caracho,« murmelte er leise vor sich hin, »ich glaube, ich bin eingeschlafen. Wie spät ist's, Compannero?«

»Es muß gleich zehn Uhr schlagen; die Mauer ist steinhart, wir werden die günstige Zeit versäumen, um hindurchzukommen.«

»Bah,« sagte der Neger lachend vor sich hin, indem er sich den Schlaf aus den Augen schüttelte, »habt keine Furcht. Ist noch ein Tropfen in der Flasche?«

»Da nehmt sie,« drängte Castilia und drückte ihm die Flasche in die Hand. Samuel konnte sie allerdings nicht sehen, aber er verließ sich auf sein Gefühl, schüttelte sie leise, und als er merkte, daß sie noch genug enthielt, um ihm einen guten Trunk zu gestatten, setzte er sie an die Lippen und leerte sie auf einen langen Zug.

Jetzt aber war es auch, als hätte ihm der Wein neue Kraft und Energie gegeben! »Nun an die Arbeit,« flüsterte er, und sich auf den Knieen emporrichtend, begann er nicht wie Castilia vorher, blind und auf das Geratewohl den Versuch, sondern tastete erst vorsichtig mit der breiten Hand über die Wand hin, um vor allen Dingen eine Stelle zu suchen, an der er den Anfang machen konnte.«

»Caracho,« murmelte er dabei, »habt Ihr denn hier schon herumgekratzt – heda – das wird gerade recht sein; da ist schon ein halber Stein herausgebrochen – nun laßt mich machen.«

Er sagte kein Wort weiter, Castilia hörte auch fast kein Geräusch; nur leise über die Steine kratzte der Neger, wie es schien, mit dem Eisen hin, und Castilia stand mit klopfendem Herzen daneben, denn wie es ihm vorkam, machte sein Gehilfe nicht größere Fortschritte in der Arbeit als er selber.

Jetzt bröckelte etwas und der Neger lachte leise vor sich hin: »Anstatt Mörtel haben die Schufte Sand zu der Mauer genommen; die Steine fallen fast von selber heraus. Da habt Ihr den ersten, Amigo – stellt ihn dort in die Ecke, daß er uns nachher nicht im Wege ist,« und damit schob er Castilia einen der Steine zu.

»Aber wie um Gottes willen habt Ihr den herausbekommen?« fragte Castilia, »ich hielt es nicht für möglich.«

»Bah, die anderen folgen fast von selber, wenn man sie mit dem Ding hier nur ein wenig lüftet. Haben wir weiter keine Schwierigkeiten als die Mauer, so sind wir in zehn Minuten frei – hier ist noch einer.«

Jetzt hob die Uhr wieder aus und schlug zehn, und es war ihnen, als ob sie da draußen das Aufstoßen von Gewehrkolben hören könnten.

Der Neger hielt einen Augenblick mit seiner Arbeit inne, aber es blieb alles ruhig, und eifrig ging er wieder von frischem daran. Stein nach Stein kam jetzt heraus – die oberen fielen ihm fast von selber in die Hand, wichen wenigstens dem leichtesten Druck mit dem Brecheisen, und er hatte jetzt schon ein großes Loch durchgearbeitet. Aber noch war die äußere Schicht zu durchbrechen, und der erste Stein bot jetzt wieder die größte Schwierigkeit – und zwar jetzt noch größer als vorher, da man nicht wissen konnte, wer da draußen stand und auf das Ausbrechen vielleicht aufmerksam wurde. Zeit war aber nicht mehr zu verlieren – sie mußten vorwärts, und da Samuel nach einem vorsichtigen Versuch gefühlt hatte, daß er wirklich keine weitere Steinlage mehr nach der Straße zu vor sich hatte, verließ er sich auf seine riesige Körperkraft. Wurden sie jetzt entdeckt, so stieß er die vorderen Steine mit Gewalt heraus, und kam er dann nur erst einmal auf die Füße, dann wehe dem, der es gewagt hätte ihm in den Weg zu treten.

Draußen blieb aber alles ruhig – nichts regte sich, und endlich gelang es dem Neger – gerade als es Viertel auf elf schlug, den ersten Stein von der Außenmauer langsam hereinzuziehen. Als er die Hand hindurchsteckte, fühlte er keinen Widerstand mehr und die frische Nachtluft darüberhinziehen, und nun galt es scharf zu arbeiten, denn wie sich das Loch vergrößerte, waren sie auch der Gefahr ausgesetzt, daß ein draußen vorbeigehender Posten es bemerken mußte.

So groß wurde es schon, daß Castilia vielleicht hätte hindurchschlüpfen können. Samuel brauchte aber einen breiteren Raum für seine Schultern. Aber jetzt war es auch nicht mehr nötig, Rücksicht zu nehmen, wo die Steine im Innern der Zelle blieben. Rechts und links warf er sie neben sich, wie er sie mit seinen eisernen Fäusten von dem allerdings erbärmlichen Mörtel losbrechen konnte – und schon fiel das Licht einer schrägüber angebrachten Laterne in den offenen Raum.

Jetzt schob er vorsichtig den Kopf hinaus, um zu sehen, ob die Straße frei sei, und zog ihn erschreckt wieder zurück, denn kaum zehn Schritte von der Öffnung entfernt stand eine Schildwache, das Gewehr im Arm, und vor ihm zwei Männer. Er bog sich zu Castilia nieder und flüsterte leise:

»Wißt Ihr den Weg, den wir zu nehmen haben?«

»Links hinauf, rechts ist die Plaza, die von Soldaten wimmelt.«

»Da gerade links stehen zwei Menschen und ein Posten.«

»Es müssen Freunde sein, oder hätten sie unser Arbeiten gehört?« drängte Castilia, dem das Herz so heftig schlug, daß er kaum die Worte über die Lippen brachte. Der Neger antwortete auch nichts weiter; nur noch wenige Steine brauchte er herauszunehmen, um selber mit Leichtigkeit hinauszukönnen – aber wieder hielt er erschreckt in seiner Arbeit inne, denn gerade gegenüber sah er eine dunkle Gestalt die Straße hinabgehen. Sollte er warten, bis die vorüber war?

»Hinaus!« drängte ihn da Castilia, dem die Aufregung die Sprache zu benehmen drohte – »hier drinnen können wir uns nicht wehren – nur ins Freie – laßt mich voraus!«

»Caracho!« knirschte der Neger zwischen den Zähnen, »Ihr habt recht, hier sitzen wir in der Falle – vorwärts denn!« Und sich mit dem rechen Bein stützend, das Eisen fest in der Hand, hob er das linke Bein zur Öffnung hinaus, schob zugleich sich überbiegend den Kopf durch und warf sich mit einem Schwung hinaus auf die Straße, wohin ihm Castilia, das Dolchmesser in der Hand, mit gleicher Schnelle folgte.



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