Friedrich Gerstäcker
Die Blauen und Gelben
Friedrich Gerstäcker

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Chacao.

Kaum eine halbe Stunde von der Hauptstadt entfernt, die noch auf wellenförmigem Terrain mehr oben in das Tal hineingebaut ist, öffnet sich dieses zu einer weiten, fruchtbaren, allerdings von Bergen eingeschlossenen Ebene und hier, auf dem Wege nach Los Dos Caminos, von den herrlichsten Hacienden begrenzt, und selber von Fruchtbäumen und Palmen überschattet, liegt das freundliche kleine Städtchen Chacao.

Früher herrschte hier auch ein bedeutender Verkehr, den besonders die reichen Grundbesitzer mit der Hauptstadt unterhielten; Züge von Maultieren wie Karawanen von Karren kreuzten herüber und hinüber, und es gab kaum etwas Freundlicheres, als diesen stillen, friedlichen Platz mit seinen wohnlichen Häusern, gut gepflegten Gärten und schattigen Bäumen.

Jetzt hatte die Regierung etwa hundertfünfzig Mann »gelber« Truppen in den Ort geworfen, und wie die Revolution Handel und Verkehr zerstörte, so zerstörte diese Einquartierung den stillen Frieden des Städtchens und machte daraus ein Kriegslager. Ja, die Bewohner wagten sich kaum auf der Straße zu zeigen, während alle, die nur irgend ihr Haus verlassen konnten, es zuschlossen und sich lieber nach der Hauptstadt selber hineinzogen. Dort hatten sie doch wenigstens eine Regierung zum Schutz, und wenn es auch die »gelbe« war, während sie hier den Schikanen und Erpressungen der unteren Offiziere ausgesetzt blieben und bei niemandem dagegen Klage führen durften.

Die Soldaten übrigens sahen für südamerikanisches Militär ziemlich anständig aus und waren wenigstens uniformiert, das heißt, sie trugen Jacken und Hosen von Zwillich, ein Hemd, eine kleine Mütze oder einen Strohhut, um den ein gelbes Band mit der Bezeichnung ihrer Division befestigt war, und die meisten von ihnen sogar Sandalen, sogenannte Alpargates, an den Füßen. In Schuhe oder Strümpfe wäre natürlich kein einziger von ihnen hineinzubringen gewesen, und nur die Generale betrachteten einen solchen Luxus als Uniform.

Bewaffnet waren sie übrigens ebensogut wie die in der Hauptstadt stationierten Truppen. Sie alle hatten gute Bajonettflinten und Seitengewehre, und Colina, der hier kommandierte, obgleich er eigentlich in Caracas wohnte, hielt die Leute auch so ziemlich in Ordnung – aber ein eigentlich militärisches Leben war nicht in dem ganzen Korps, denn was hätte die Leute für den Krieg begeistern sollen? Liebe zu ihrem Oberhaupt? – Sie waren von Haus aus gewohnt, Falcon nur als einen Blutsauger bezeichnen zu hören. – Vaterlandsgefühl? Es war das ein Wort, das sie entweder gar nicht kannten, oder das sich allein auf ihre eigene Hufe Land beschränkte. – Welches Interesse hatten diese Leute auch für Falcon oder irgend einen anderen Mann, der auf dem Stuhl des Präsidenten saß? Ihnen brachte es doch keinen Nutzen, noch übte es auf ihren Erwerb einen Einfluß aus. Gedrückt wurden sie, die Armen, von der einen wie von der anderen Partei, aber nie gefragt, zu welcher sie eigentlich halten wollten, und doch lebten sie in einer Republik.

Die Konstitution von Venezuela sagt ausdrücklich, daß niemand wider seinen Willen zum Kriegsdienst gezwungen werden könne; wer aber fragte in Zeiten, wo gerade Soldaten gebraucht wurden, nach einem solchen Gesetz? Wer nach dem, was die Konstitution dem Volk an Rechten sicherte. Man griff die jungen Burschen auf, wo man sie eben fand, und nicht einmal die gesetzliche Löhnung bekamen sie ausgezahlt, die sie notwendig zum Leben brauchten. Aber Hunger hatten sie, und um ihn zu stillen, mußten sie entweder stehlen oder betteln, und taten denn auch redlich beides, wo sich ihnen irgend die Gelegenheit dazu bot. Machten es doch die Offiziere nicht um ein Jota besser.

Und wie sah eben dieses Offizierkorps aus? – Zu den hundertfünfzig Mann schienen wenigstens einige dreißig Offiziere zu gehören, von denen auch sicher zwanzig Generalsrang bekleideten. Mit schmutzigen, abgetragenen Uniformen, die sie Tag und Nacht nicht auszogen, einen Säbel oder Degen oder Pallasch, was sie sich gerade verschaffen konnten, umgeschnallt, oder die Waffe in der Hand tragend, wenn sie keinen Gurt besaßen, hier und da noch mit einem Revolver an der Seite, schlenderten sie müßig in dem Ort umher, lagen hier und da auf einer Veranda in ihrer eigenen oder auch einer fremden Hängematte und rauchten ihre selbstgedrehten Zigaretten.

Manchmal traf eine kleine Truppe von Soldaten ein, die ein paar mit Futter (meist Zuckerrohr) beladene Esel vor sich her trieben. Sie hatten aber die Esel wie das Futter gestohlen und ließen die Tiere gewöhnlich nach dem Gebrauch wieder laufen, damit sie sich selber nach Hause finden könnten. Der arme Teufel aber, dem die Tiere gehörten, keuchte gar häufig hinter ihnen drein, und wurde dann von den übrigen tapferen Kriegern, an denen er vorüber mußte, noch überdies ausgelacht. Daß er für die Ladung Zuckerrohr und den Gebrauch seiner Esel nichts bezahlt bekam, verstand sich von selbst. Er fragte auch nicht einmal danach.

In dem Soldatenleben der kleinen Stadt herrschte aber, wie es schien, vollkommene Ruhe. Man wußte allerdings, daß sich einzelne Banden sogenannter »Blauer« im Land gebildet und vorzugsweise an der Lagune von Valencia festgesetzt hatten, aber sie brauchten von diesen nichts direkt zu fürchten, denn kleine Pikets waren auf der Straße vorgeschoben und konnten jedenfalls rechtzeitig Kunde bringen.

Hier und da wurden ein paar unglückliche Rekruten eingeübt, und besonders ungeschickt stellten sich diese in der Führung der Schußwaffe an, denn mit Gewehren wissen alle diese Leute nur selten umzugehen. Die Offiziere überließen dies Exerzitium aber allein ihren Unteroffizieren – was sollten sie sich selber damit abquälen. Höchstens stand einer oder der andere von ihnen einmal eine kurze Zeit zum Zusehen daneben und schlenderte dann, wenn er es satt bekam, langsam wieder die Straße hinab.

Chacao selber wurde eigentlich nur durch eine breite Hauptstraße gebildet, die ziemlich von Norden nach Süden lief. Nicht ganz am äußeren Ende, aber kaum hundert Schritt davon entfernt, lag ein kleines freundliches Häuschen, weiß angestrichen und ziemlich ordentlich in seinem Äußeren gehalten. Ein großer, aber jetzt verwilderter Garten schloß sich daran – und welcher Garten in Chacao wäre nicht verwildert gewesen, wo die »Gelben«, wenn sie eben Lust hatten, ihre Tiere hineintrieben. Auch ein kleines, mit Zuckerrohr bepflanztes Feld gehörte dazu – jetzt freilich ohne eine Stange darauf, und außerdem ein schmaler Streifen Land mit Kaffeebäumen bepflanzt, in dem aber das Unkraut hoch aufwucherte und umsonst eine sichtende Hand verlangte. Wer hätte sich in dieser Zeit die Mühe genommen, Unkraut auszurotten, wo das »gelbe« Unkraut ja doch alles um sich her erstickte.

Das Haus und Grundstück gehörte einem Indianer, namens Tadeo Vasquez, der hier allein mit seiner Frau lebte, und wohl hatte er sein kleines Besitztum wacker bestellt und sich auch außerdem ein paar Kühe gehalten, die ihm Milch und Butter gaben – aber die Soldatenwirtschaft machte dem bald ein Ende. Seine Felder wurden geplündert, seine Kühe weggetrieben und geschlachtet, und wie er früher in einem gewissen, wenn auch sehr bescheidenen Wohlstand lebte, geriet er jetzt mehr und mehr in Dürftigkeit – ja sogar Not.

Und doch hatte der Indianer noch einen Gast im Hause – und zwar einen unheimlichen Gast, einen blödsinnigen, weißen Mann, den er, als er nach Chacao vom Süden heraufkam, mit hierher gebracht hatte. Dieser Mann von weißen Haaren, aber anscheinend noch nicht von sehr hohem Alter, bewohnte eines der kleinen Zimmer vorn hinaus und hatte bis jetzt eine vollkommen harmlose Natur gezeigt, die sich nur, abwechselnd, bald dieser, bald jener fixen Idee hingab, sie für einige Monate festhielt, bis er auf etwas anderes verfiel. – So hielt er sich augenblicklich für einen sehr reichen Mann, befahl Tadeo jeden Morgen, seine Kutsche anzuspannen, weil er ausfahren wolle, und wartete dann den ganzen Tag auf das nie eintreffende Fuhrwerk, bis die Nacht anbrach und er sich in seine Hängematte warf, um am nächsten Morgen dasselbe Spiel zu wiederholen. Er sprach dabei mit keinem Menschen, gab wenigstens nur selten auf eine an ihn gerichtete Frage Antwort, hatte aber besonders Kinder – und unter diesen vorzüglich kleine Mädchen – lieb, streichelte ihnen, wenn sie zu ihm kamen, den Kopf und nannte alle, mit den süßesten Schmeichelnamen, Manuelita.

Er mußte auch jedenfalls früher einmal in besseren Verhältnissen gelebt haben, denn außer dem Befehl mit der Kutsche gab er dahin manche andere Andeutungen. Fremde verkehrten aber wenig oder gar nicht mit ihm, denn er zog sich jedesmal scheu von ihnen zurück, und Tadeo selber war fast ebenso schweigsamer Natur, ließ sich wenigstens nie auf ein Gespräch über den alten Mann ein.

Der Unglückliche, der sich selber den Namen Perdido (Verlorener) gegeben, hatte seine Hängematte und seinen Wasserkrug in seinem Stübchen, und verbrachte auch dort den größten Teil seiner Zeit; aber seine Tür war nicht verschlossen, und er konnte im ganzen Haus herum, ja, auf die Straße gehen und saß dann oft stundenlang vor der Tür, nickte den vorübergehenden Kindern zu und griff, wenn sie bei ihm stehen blieben, in die Tasche, wobei er tat, als ob er ihnen Geld gäbe. Die Kinder wußten das auch und fürchteten sich nicht im mindesten vor ihm, ja, sie lachten über ihn und liefen oft zu ihm, um ihn anzubetteln.

»Perdido – un realito – bitte, bitte.« – Und dann nickte er freundlich und verschenkte eingebildetes Geld nach allen Seiten.

Früher hatte er dabei viel auf sein Äußeres gehalten. Er ging allerdings auf das ärmlichste gekleidet, war aber außerordentlich stolz auf reine Wäsche. Er kämmte sich halbe Stunden lang den vollen, schneeweißen Bart, der ihm bis auf die Brust reichte, und das lange, lockige, graue Haar. In der letzten Zeit aber fing er an, nachlässig zu werden. Er sprach viel mit sich selber, wurde mürrisch gegen andere und kümmerte sich sogar nicht mehr um die Kinder, ja, zeigte sogar Ungeduld, daß die Kutsche nicht vorfuhr, die er nun schon seit langen Jahren erwartete, und zankte mit Tadeo. Er müsse, wie er sagte, zum Präsidenten und dürfe nicht über seine Zeit ausbleiben.

Die Soldaten kannten ihn ebenfalls. Wenn er draußen saß, nickten sie ihm zu. – »Buenos dias, Perdido« – aber er achtete nicht auf sie und starrte sie nur manchmal mit einem so wilden Blick an, daß sie sich wohl hüteten, ihn weiter zu belästigen. Das ungebildete Volk betrachtet ja überhaupt sehr häufig derartige Menschen mit einer Art abergläubischer Furcht, und würde es nie wagen, sie zu reizen.

Heute abend saß der Alte wieder vor der Tür, nach der Straße zu, hatte das eine Knie heraufgezogen, das er mit beiden zusammengefalteten Händen hielt, und stierte dabei gedankenlos in die Weite. – Gedankenlos? Wer kann sagen, was in dem Hirn eines solchen Unglücklichen arbeitet und bohrt und drängt, und welche Bilder da vorübergleiten! Aber diese schienen jetzt wenigstens harmloser Natur. Seine Züge hatten fast ganz das Wilde, Unheimliche verloren, was sie sonst entstellte, und nur ein tiefer Schmerz gab sich in ihnen kund. War das Bewußtsein seiner Lage ihm zurückgekehrt?

Ein kleines, etwa siebenjähriges Mädchen kam die Straße herab und blieb neben ihm stehen.

»Perdido,« sagte sie lächelnd –, »un realito,« und hielt ihm die schmale Hand entgegen. Der »Verlorene« drehte den Kopf nach ihr um, und wie ein lichter Sonnenschein glitt es über seine Züge.

»Manuelita,« sagte er leise und herzlich, indem er die Hand des Kindes ergriff und dieses freundlich an sich zog – »meine liebe, liebe Manuelita! Nicht wahr, du hast deinen alten Vater nicht verlassen? – Du willst bei ihm bleiben und ihn pflegen, wenn Krankheit in seine Glieder zieht, und mit deinen lieben Augen über ihn wachen – mit deinen lieben Händen die bösen Träume fortscheuchen, die ihn sonst niederdrücken?«

Dabei nahm er das Kind, dem es bei der Liebkosung doch etwas ängstlich wurde, hob es auf das Knie und preßte einen heißen Kuß auf seine Backen.

»Perdido,« sagte die Kleine, »laß mich los. Ich muß fort. Mutter wartet auf mich daheim.«

»Du hast auch nie ein böses Wort für deinen alten Vater gehabt,« fuhr der Unglückliche leise fort – »du warst immer lieb und gut mit ihm, und wenn du nur jetzt bei ihm bleibst, dann kann er alles andere entbehren – Glück und Reichtum, Glanz und Pracht, die uns hier umgeben.«

»Perdido, laß mich gehen,« – bat die Kleine, die anfing, sich zu fürchten, »du tust mir ja weh.«

»Komm – laß uns zusammen fortgehen in die weite Welt, Manuelita – die Mutter braucht nichts davon zu wissen« – fuhr der Alte flüsternd fort, indem er das Kind fester an sich preßte, »sie hat nie ein Herz weder für dich noch mich gehabt.– Stolz ist sie nur und hochmütig, aber kalt wie der Schnee der Cordilleren. Laß uns fortgehen, Manuelita – ich weiß den Weg – ich führe dich, und draußen, weit, weit fort von hier, werden wir wieder glücklich sein.«

Die Kleine fing jetzt an zu schreien, und Tadeo kam aus dem Haus gesprungen und fuhr den Alten an.

»Schämst du dich nicht, Perdido! Willst du das Kind gleich gehen lassen? Da kommt deine Frau, die wird schön zanken, wenn sie dich mit der Kleinen sieht. Du weißt, wie oft sie es dir schon verboten hat.«

Der Alte ließ erschreckt das Kind los, das weinend und bleich vor Furcht die Straße hinablief – und blieb mit gesenktem Kopf auf der Bank sitzen. Dann murmelte er leise vor sich hin. »Sie ist wieder fort – o, wie mir mein Kopf brennt! Wie mir mein Kopf brennt!« Er leistete aber keinen Widerstand, als ihn Tadeo in sein Zimmer führte, legte sich dort auch gleich in seine Hängematte, barg das Gesicht in den Händen und stöhnte laut.

Nach Chacao sprengte ein Reiter mit verhängten Zügeln herein. Es war ein Offizier der Regierungstruppen, der nur sein schaumbedecktes Tier einzügelte, als er die ersten Soldaten in der Straße antraf.

»Wo ist der General Jefe (en chef)?« fragte er diese, die stehen blieben, aber gar nicht daran dachten, zu salutieren.

»In der Calle Piedra – gleich rechts das dritte Haus.«

»Komm mit, mein Bursche, und bringe mich zu ihm. Ich muß ihn sprechen. Wieviel Truppen seid ihr hier im Ort?«

»Quien sabe,« sagte der Mann, mit den Achseln zuckend, indem er aber doch dem Befehl Folge leistete und neben dem jetzt langsam gehenden Tiere hinschritt. Er hatte sich auch wohl schwerlich je darum gekümmert oder danach gefragt, und die beiden verfolgten schweigend ihren Weg, bis sie vor dem bezeichneten Hause anhielten. Und eine wichtige Meldung mußte es gewesen sein, denn der General Jefe ließ sich augenblicklich sein Pferd satteln und ritt selber die Hauptstraße hinauf, wo man die meisten Soldaten einquartiert hatte, und wo sich auch die befestigte Wache befand.

Jedenfalls ging irgend etwas im Lager der Gelben vor, – aber was kümmerte das die Bewohner von Chacao. Waren sie doch schon daran gewöhnt, daß unter den Truppen fortwährend Bewegungen stattfanden, über welche die Offiziere nicht einmal immer Rechenschaft geben konnten.

Tadeo nun gar, mit Sorgen genug im Haus, dachte nicht einmal daran, was die Soldaten vorhatten: ob sie einen Feind erwarteten oder ihn im Gegenteil angreifen wollten. Bei ihm plünderten sie nichts mehr, denn was sie gebrauchen konnten, hatten sie schon mitgenommen.

Tadeo war ein stiller, ruhiger Mann, wie es eigentlich fast alle Indianer sind, und in Chacao von den Bewohnern der kleinen Stadt schon wegen seines Fleißes wie der Sorgfalt für den Kranken geachtet.

Woher er kam, hatten sie auch bald erfahren: – vom Orinoco, denn er brachte von dort her eine Frau mit, die aus der nächsten Nachbarschaft, aus Mariperez stammte. Nur der Frau zuliebe, die sich nach ihrer Heimat sehnte, war er auch hierhergezogen, aber selbst die Frau, so oft sie auch darum gefragt wurde, wußte nicht, wer der alte weiße Mann eigentlich sei, denn jahrelang hatte ihn Tadeo schon in seinem Hause gehabt, ehe sie selber dort einzog. Sie fragte ihn allerdings mehrmals danach, erhielt aber nie eine andere Antwort, als: »Der Mann, der mich vor dem Tod und der Schande gerettet hat« – und demnach konnte nur Dankbarkeit der Grund sein, daß er sich eine so furchtbar schwere Pflicht auferlegt hatte. Das begriff aber die Frau wieder nicht, und obgleich sie selber sonst gutmütig und weichen Herzens war und mit großer Liebe an ihrem Gatten hing, konnte sie sich doch nicht denken, daß irgend jemand einzig und allein aus Dankbarkeit sein ganzes Leben lang eine solche Last tragen würde.

Tadeo hatte wirklich schon recht viel Sorge mit dem alten Mann ausgestanden, aber die schwerste schien eigentlich erst anzugehen, denn so ruhig er sich sonst das ganze Jahr hindurch gezeigt hatte, so unruhig wurde er jetzt. Der Indianer stand noch an seinem Fenster und schaute auf die Straße hinaus, als er die Stimme Perdidos hörte, der laut und heftig seinen Namen rief.

»Es geht wahrhaftig bei ihm los,« seufzte der Indianer vor sich hin, indem er stehen blieb und dem ganz ungewohnten Laut horchte – »was soll ich nur in aller Welt anfangen, um ihn ruhig zu halten.«

»Tadeo! Tadeo!« rief die Stimme wieder, »hörst du nicht, Halunke? Meinen Wagen will ich haben, aber rasch. Schon heute morgen hab' ich ihn bestellt, und er ist noch nicht da. Nach der Moriche muß ich hinaus und Manuelita abholen. Mach' rasch, die Zeit vergeht – es wird schon dunkel.«

Tadeo eilte zu ihm hinüber und fand den alten Mann in der furchtbarsten Aufregung, denn dieser hörte gar nicht, was der Indianer zu ihm sagte, sondern rief nur immer nach seiner Manuelita und daß der Fluß stiege und er am Ende, wenn er zögerte, nicht mehr über den Lagunenarm könne. Er war im Geiste jedenfalls bei anderen Szenen und Örtlichkeiten, und Tadeo hatte die größte Mühe, ihn nur endlich wieder in seine Hängematte zu bringen, wo er – heute abend wenigstens – die Kutsche und Manuelita vergaß.

Indes wirbelten im Städtchen die Trommeln und schmetterten die Trompeten, und die Soldaten liefen mit ihren Gewehren, die gefüllten Patronentaschen mit der Hand haltend, herbei, denn sie glaubten nicht anders, als daß die »Blauen« im vollen Anrücken wären und der Kampf jeden Augenblick beginnen könne.

Der Sammelplatz war natürlich auf der Hauptstraße, und der eben angekommene Offizier hielt dort schon mit dem General. Es sollte aber heute nichts weiter als eine Musterung sein, und die Soldaten wurden einzeln aufgerufen, ob sie alle da seien. Es fehlten auch in der Tat nur vier, die jedenfalls desertiert sein mußten – aber das schadete nichts und kam fast alle Tage vor.

Im ganzen, die Offiziere mitgerechnet, lagen hier etwa hundertsechsundfünfzig Mann, denn man hatte erst gestern wieder einen kleinen Trupp Freiwillige, mit auf dem Rücken gebundenen Händen, eingebracht. Die meisten Soldaten waren aber mit Schießwaffen versehen, und fünfzig wurden jetzt ausgesucht und zu einer Kompagnie zusammengestellt, dann bekamen sie ihre Offiziere und die Order, sich morgen früh mit Tagesanbruch bereit zum Abmarsch zu halten.

»Wohin geht's?« fragte einer der Soldaten, denn von Disziplin und Subordination haben diese Leute nur einen sehr unbestimmten Begriff. Die Antwort lautete:

»Quien sabe! Außerdem geht es euch nichts an, und haltet euch alle fertig, denn ihr wißt recht gut, General Colina spaßt nicht und hat schon manchen nichtsnutzigen Burschen erschießen lassen.«

Dann durften die Leute wieder abtreten, um an dem Abend noch irgend woher – es blieb sich gleich – Lebensmittel für den morgenden Marsch aufzutreiben. Die ausrückende Mannschaft bekam außerdem, und zwar sehr zu ihrem Erstaunen – jeder zwei Real in barem Gelde ausbezahlt.

Die in Garnison blieben, erhielten nichts.

Während die Soldaten gemustert wurden und einige der einfachsten Evolutionen machen mußten, hatte ein kleiner, sehr anständig aussehender Herr einen Spaziergang aus der Stadt hierher gemacht, dem Exerzitium mit dem augenscheinlichsten Vergnügen zugesehen und sich, seinen Spazierstock unter dem Arm, vor lauter Entzücken die Hände gerieben. Ausrufe voller Befriedigung entschlüpften ihm zuweilen dabei, wie: grandioso! magnifico! delicioso! Und er schien wirklich in Bewunderung aufgelöst. Von Zeit zu Zeit nur nahm er schnell ein Blatt Papier und einen Bleistift aus der Tasche und notierte sich etwas, das aber doch zuletzt die Aufmerksamkeit des Generals erregte, dem der kleine Mann von einem anderen Offizier gezeigt wurde.

Die Regierung – wenn sie auch nicht die gegen sie herrschende Stimmung in ihrem ganzen Umfange kannte oder glauben wollte – wußte doch recht gut, daß es viele »Böswillige« im Lande gab, die gemeinsame Sache mit der Revolution machten oder ihr doch jeden möglichen Vorschub leisteten, und daß sich unter diesen viele wirkliche und vielleicht gefährliche Spione fanden, unterlag ebensowenig einem Zweifel. Gehörte dies Individuum aber zu der Klasse, so trieb er sein Geschäft mit einer außergewöhnlichen Frechheit und es war deshalb schon der Mühe wert, ihm einmal auf die Finger zu sehen.

Der General behielt ihn auch im Auge, bis die Musterung vorüber war, – denn entwischen konnte er ihm jetzt nicht mehr – beobachtete ihn jedoch aus der Ferne, ohne daß der Fremde etwas davon bemerkte. Dieser schien aber auch wirklich in den Anblick des »pompösen Heeres« so vertieft, daß er auf weiter gar nichts achtete und noch viel weniger an Flucht dachte, denn kaum war das Exerzieren zu Ende, als er, mit dem Papier noch immer in der Hand, einige Schritte zurückging, wo eine hohe Kokospalme stand, unter dieser, nachdem er vorher – der Ameisen wegen – sein Taschentuch ausgebreitet hatte, Platz nahm und dann emsig weiter schrieb.

»Caracho!« sagte der General zu seinem Adjutanten, »der Bursche da drüben nimmt es kühl, und wir wollen doch einmal zusehen, was für wichtige Notizen er sich da – noch dazu vor unseren Augen – aufschreibt. Kommen Sie, Toques – er soll uns einmal die Papiere zeigen.«

Er gab dabei seinem Pferde die Sporen und sprengte auf den Schreibenden zu, der aber so vertieft in seine Arbeit war, daß er die herangaloppierenden Pferde erst bemerkte, als sie dicht vor ihm hielten. Dann aber schob er auch, wie erschreckt, die Papiere, ohne sich nur die Mühe zu nehmen, sie ordentlich zusammenzufalten, in seine Brusttasche, stand jedoch zugleich auf, zog sehr artig den Hut und sagte:

»Guten Abend, meine Herren – es war wirklich ein Genuß, zu sehen, wie sich diese tapferen Soldaten schon so kriegstüchtig benahmen. Mit einem solchen Heer werden Sie die Rebellen zerstreuen wie Spreu vor dem Winde.«

»Hat es Ihnen gefallen?« fragte der General trocken, indem er den kleinen Mann von oben bis unten aufmerksam betrachtete.

»Ausnehmend – ausnehmend, Sennor General,« rief der Höfliche, »und mein Spaziergang ist mir heute überreich bezahlt worden.«

»In der Tat? Aber in welcher Weise?«

»Nun, durch den Genuß diesem Exerzitium beiwohnen zu dürfen.«

»Durch weiter nichts?«

»Wieso?« entgegnete der kleine Mann, durch die Frage stutzig gemacht, denn sie wurde mit einem ganz besonderen Ton gestellt. Der General hatte aber keine Lust, sich lange mit dem Menschen einzulassen, sondern direkt zur Sprache kommend, fragte er ihn und nicht einmal besonders artig:

»Wer sind Sie, und wie heißen Sie?«

Der kleine Sennor wurde mehr durch den barschen Ton als die Frage selber überrascht und zögerte deshalb vielleicht einen Moment mit der Antwort. Endlich sagte er:

»Ich heiße Enano – Horacio Enano.«

»Und mußten Sie sich darauf so lange besinnen?«

»Bitte – ganz und gar nicht,« lautete die jetzt schon nicht mehr so sehr höfliche Antwort, denn weshalb fuhr ihn der General so an – »ich werde jederzeit meinen eigenen Namen im Gedächtnis haben.«

»Und wer sind Sie? – Welchem Beruf folgen Sie?«

»Ich arbeite im Finanzministerium,« erwiderte Sennor Enano mit Würde.

»Im Finanzministerium?« sagte der General kopfschüttelnd und noch halb ungläubig – »und was hatten Sie sich da hier so eifrig zu notieren? Etwa Geschäftssachen? – Wie?«

Der kleine Mann wurde bis hinter die Ohren rot und erwiderte nur zögernd: »Nein – Geschäftssachen allerdings nicht.

»Und was sonst, wenn ich fragen darf?«

»Sie werden mich entschuldigen,« sagte Enano, aber ziemlich bestimmt, »das sind Privatangelegenheiten, die mich ganz allein angehen.«

»Glauben Sie?« fragte lachend der General – »Lassen Sie mich einmal die Papiere sehen – die da, meine ich, die Sie in Ihrer Brusttasche stecken haben.«

»Ich bedaure sehr,« erwiderte Sennor Enano, »Ihnen damit nicht dienen zu können, denn es sind einzig und allein Privatangelegenheiten.«

»So? Bitte, Toques, rufen Sie doch einmal ein halbes Dutzend von den Leuten her – irgendwelche, es ist einerlei. Wenn der Herr die Papiere nicht gutwillig herausnehmen will, werden wir ihm wohl den ganzen Rock abziehen müssen.«

»Aber, Herr General,« rief Enano jetzt empört, »ich begreife nicht, welches Recht Sie haben, mich gewaltsam meiner Schriften zu berauben.«

»Ich will Sie nicht berauben, wenn ich nicht das finde, was ich vermute; nur sehen, welche Notizen Sie sich über unser Militär gemacht haben.«

Das Gesicht des kleinen Mannes klärte sich auf.

»Ach,« sagte er, »das ist etwas anderes – Sie glauben in mir einen Spion zu finden – Sie tun mir allerdings da bitteres Unrecht, denn Se. Exzellenz hat vielleicht keinen treueren Verehrer als mich – aber jetzt muß mir selber daran liegen, Sie über meine Gesinnungen aufzuklären. Herr General, die Papiere sind zu Ihrer Disposition« – und noch während er sprach, hatte er in die Tasche gegriffen und sämtliche Blätter dem General hingereicht. Wenn er aber geglaubt – und möglicherweise sogar gehofft hatte, daß der General sie lesen würde, so sah er sich darin getäuscht. Er entfaltete sie zwar, hatte aber kaum einige flüchtige Blicke darauf geworfen, als er in ein lautes Lachen ausbrach.

»Gedichte, Toques,« rief er dabei – »kostbar – der Herr ist ein Dichter!« und ohne sich weiter auch nur die Mühe zu nehmen, dem Eigentümer die Papiere zurückzugeben, öffnete er nur die Hand, stieß dann seinem Tier die Sporen wieder ein und sprengte, von seinem Adjutanten gefolgt, die Straße hinab.

Enano sah ihm erstaunt und empört nach. – »Allerdings ein sehr unhöfliches Benehmen für einen Offizier,« meinte er dann – »ich habe von Falcons Generalen etwas anderes erwartet – aber weshalb soll es unter so vielen weißen Schafen nicht auch ein schwarzes geben!«

»Die lieblichste Rose muß Dornen verstecken –
Das Licht hat den Schatten – die Sonne selbst Flecken.«

und mit einem Seufzer, denn das Bücken wurde ihm etwas schwer, suchte er sich die durch den Luftzug zerstreuten Papiere wieder zusammen und folgte dann den vorangesprengten Reitern langsamer in die Stadt hinein.



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