Friedrich Gerstäcker
Die Blauen und Gelben
Friedrich Gerstäcker

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Gelben.

Am nächsten Morgen, lange vor Tagesdämmerung, herrschte in Caracas wilder militärischer Lärm und schreckte die der Plaza nahe Wohnenden aus dem Schlaf empor. Trommeln wirbelten, Trompeten schmetterten und Pferde galoppierten in voller Hast die Straßen auf und ab, als ob ihr Leben von ihrer Eile abhinge – und wie das auf dem Pflaster in den sonst leeren und stillen Straßen klapperte.

War die Stadt von den Blauen überrumpelt worden? – Aber es fiel kein einziger Schuß, und was es auch gewesen, es wurde friedlich abgemacht. Übrigens ließ sich auch kein Bewohner der Stadt auf der Straße sehen oder öffnete selbst nur die Fensterladen, denn dem übermütigen Soldatenvolk war nicht zu trauen, und man hielt sich lieber fern davon. Ändern konnte man doch nichts an den Vorgängen; sie mußten eben ertragen werden, und was überhaupt geschehen war, erfuhr man noch zeitig genug nach Sonnenaufgang.

Es konnte aber kein Überfall oder irgend welche feindliche Bewegung stattgefunden haben, denn ein Teil der Truppen war nur auf der Plaza aufgestellt worden und schien sich zum Marsch zu rüsten. Die Soldaten hatten einen Beutel mit Lebensmitteln umgehängt, und solche, die Cobijas oder Mäntel (Ponchos) besaßen, die selben zusammengerollt und über die Schultern oder auch zum Teil schon übergeworfen, je nach Bequemlichkeit. Der Morgen war frisch und man konnte, besonders in so dünner Kleidung eine solche Bedeckung schon vertragen.

Jetzt endlich schien alles geordnet, was übrigens sehr lange gedauert hatte. Die Offiziere verstanden ebensowenig zu befehlen, wie die Soldaten zu gehorchen, so daß immer wieder Änderungen vorgenommen werden mußten. Mitten auf der Plaza aber hielt der Neger-General Colina, der von allen Führern der »Gelben« am meisten gefürchtete Offizier, und schickte den Säumigen ein Caracho nach dem anderen über den Hals, bis sich zuletzt der Zug formierte, und nun das Zeichen zum Aufbruch gegeben wurde.

Colina selber, eine gedrungene Gestalt mit echter Neger-Physiognomie und breiten, gemeinen Zügen, ritt ein stämmiges und reichgesatteltes Maultier und hatte einen Säbel an der Seite, wie im Gürtel seine zwei Revolver, aber nur eine militärische Mütze auf und eine blaue Uniform mit einigen Goldschnüren an. Um die Mütze trug er aber, statt des gelben Bandes der Soldaten, einen breiten Goldstreifen.

Drei bepackte Maultiere, die neben ihm hielten, waren dabei das einzige Zeichen, daß es heute einen längeren Marsch galt, aber niemand von den Leuten wußte wohin; die ganze Sache war geheimnisvoll betrieben worden, und in der Stadt sollten sie vielleicht nicht einmal erfahren, daß so viel Militär auszog. Ohne Musik kann aber nun einmal kein südamerikanisches Militär ausrücken, und die Trompeter bliesen deshalb, als das Zeichen zum Abmarschieren gegeben wurde, durch die stillen Straßen von Caracas einen lustigen Tanz.

Hinter ihnen ritt Colina auf seinem Maultier, dann kamen einige andere Offiziere, ebenfalls im Sattel, und hinter diesen die Soldaten vier Mann hoch, im ganzen etwa hundertzwanzig Mann, die von der Plaza ab einbogen, um ihre Richtung jetzt nach Süden zu nehmen.

Es ging auf sechs Uhr, als sie sich in Bewegung setzten und eben dämmerte der Morgen und warf seinen grauen Schein über die noch stillen Straßen der Stadt.

Links am Weg, den die Truppe passierte, und zwar so, daß man nicht vorüber konnte, ohne sie zu bemerken, da sie mit dem Kopf auf dem Trottoir ruhte und die Füße gegen den Fahrweg ausstreckte, lag eine dunkle, unförmliche Gestalt, – ein riesiger Neger, wie ihn das matte Dämmerlicht eben erkennen ließ, und schlief auf seiner harten Steinmatratze sanft und süß, ja schnarchte, als die Trompeter, die nach ihm hinübersahen, vorbeimarschierten. Auch Colina hatte ihn bemerkt, aber nicht weiter auf ihn geachtet.

Das Schmettern der Instrumente, so dicht an seinem Ohr, mußte den Schlafenden aber doch wohl geweckt haben. Er fuhr wenigstens wie erschreckt empor, und als er die Soldaten an sich vorbeimarschieren sah, stützte er sich auf beide Arme und blickte verstört und seinen eigenen Augen kaum trauend umher.

Wo war er denn eigentlich? Was hatte er geträumt, und was war davon Wirklichkeit?

Die Soldaten, die jetzt an ihm vorüber marschierten, lachten. Er machte ein gar zu dummes und bestürztes Gesicht und sah überhaupt so schmutzig und verwahrlost aus. Hätten sie ahnen können, daß es einer ihrer Generale sei! Sie riefen ihm auch eine Menge Spottreden zu: »wie er geschlafen hätte, ob er keinen Durst habe, was er die Nacht wohl für Quartier und Bett zu zahlen hätte, und ob er sich nicht anziehen wolle, um in die Messe zu gehen.« Aber aufhalten durften sie sich nicht bei ihm, denn so locker die Disziplin auch im Quartier sein mochte, im Dienst verstand Colina keinen Spaß, und alle seine Strafen fielen hart, ja, oft grausam aus.

Samuel Brown, der neugebackene General, wurde aber jedenfalls nicht so rasch mit seinen Gedanken fertig. Der Kopf war ihm von dem gestrigen Trinken noch wüst, und es hämmerte darin wie auf einem Ambos. Hatte er denn das mit dem Generalsrang auch geträumt? Er griff in die Brusttasche und fühlte dort ein zerknittertes Papier – das mußte doch jedenfalls sein Patent sein, denn was hatte er sonst mit Papieren zu tun. – Und wohin marschierten die Soldaten, und weshalb nahmen sie gar keine Notiz von ihm? War er denn nicht General und gehörte er nicht zu ihnen?

Er barg das Gesicht ein paar Minuten in den breiten Händen und suchte noch einmal die Vorgänge des letzten Tages so klar und vollständig als irgend möglich zu überdenken – aber es ging nicht. Es war ihm, als ob er auf einer Schaukel säße, die mit ihm auf und nieder ging, während die rund umgedrehten Stricke wieder zurückschnellten und ihn so rasch herumwirbelten, daß er sich erschreckt an den Steinen festhielt, um nicht umzufallen. – Was hatte er denn getrunken? So war ihm in seinem Leben noch nicht zumute gewesen, und er konnte doch so viel vertragen als drei gewöhnliche Menschen.

Die Soldaten waren längst vorüber marschiert, und Landleute kamen die Straße herab, Milchverkäufer, andere, die Gemüse oder Hühner zum Verkauf in die Stadt brachten. Ein paar von ihnen blieben auch wohl stehen und sahen sich den wüsten, übernächtigen und mit Schmutz bedeckten Neger an, der sich da die ganze Nacht auf der Straße herumgewälzt, aber sie hatten Geschäfte und konnten sich nicht bei ihm aufhalten.

Der neue General kam endlich etwas zu sich selber. Er erinnerte sich, mit der Diligence nach Caracas gefahren zu sein – ein junges Mädchen hatte neben ihm im Wagen gesessen. Das hier war jedenfalls Caracas, und als sie ankamen, hatte er noch ein Bündel bei sich gehabt – er griff um sich her nach dem Bündel, aber es lag nicht mehr neben ihm. Er drehte sich um, ja, er sprang jetzt erschreckt auf die Füße – es war nirgends zu sehen, und sein nächster Gedanke, seine Uhr – fort – selbst mit der bronzenen Kette – und in der Westentasche hatte er noch etwas Geld gehabt – fort – alles rein ausgeplündert – und da stand General Samuel Brown jetzt in der Straße am frühen Morgen, den Kopf wüst, schmutzig, ohne Kleider, ohne Geld, mit keiner Ahnung, was er mit sich anfangen sollte, und das einzige, was er langsam und im verbissenen Grimm zwischen den Zähnen herausstoßen konnte, war das eine, alles umfassende Wort: »Carrracho!«


Im Hause des Justizministers Oleaga waren, als etwas sehr Außergewöhnliches zu so früher Stunde, schon sämtliche Bewohner auf und angekleidet, denn ein außergewöhnliches Erlebnis hatte auch das sonst so regelmäßige und formelle Leben der Familie gestört und ihr einen gänzlich unbekannten und deshalb auch natürlich nicht willkommenen Gast in das Haus geworfen.

Am vorigen Abend, bald nach Sonnenuntergang, begehrte eine in Schwarz gekleidete Dame Einlaß und verlangte den Minister zu sprechen, und der junge Oleaga, der ihr öffnete, war von der Schönheit und dem vornehmen Anstand der Fremden so frappiert, daß er sie bat einzutreten, und drin im Haus seinen Vater zu erwarten. Er sei noch beschäftigt, werde aber augenblicklich zu Diensten stehen.

Die Fremde betrat das Haus, aber ihre Kniee schwankten, der junge Mann bemerkte es und bot ihr den Arm, sie schrak zurück und wollte die Hilfe ablehnen, aber sie hatte sich zu viel zugemutet. Sie wäre zu Boden gesunken, wenn er sie nicht unterstützt hätte, und behielt eben noch Kraft, das nächste Zimmer zu erreichen.

»Wenn ich Sie um ein Glas Wasser bitten dürfte,« flüsterte sie.

Oleaga eilte hinaus, um einen Diener zu rufen, als er aber zurückkehrte, fand er die Fremde auf der Matte ohnmächtig ausgestreckt und hielt sie in seiner ersten Angst für tot. Natürlich rief er augenblicklich nach der Mutter, nach den Schwestern, und die Verwirrung, die jetzt in der Dämmerung entstand läßt sich denken.

Es mußte Licht gebracht werden. Aber wer war die junge Fremde? Niemand wußte es, niemand kannte sie; die Damen jedoch die sich jetzt mit ihr beschäftigten und sie zum Leben zurückzurufen suchten, fanden bald an ihrer Kleidung und Wäsche, daß sie den höheren Ständen angehören müsse. Und wie bleich sahen diese wunderbar schönen und edlen Züge aus! Allerdings kam sie nach einiger Zeit wieder zu einem halben Bewußtsein, aber eine solche Müdigkeit hatte sich ihrer bemächtigt, daß sie nicht imstande war, die Augen aufzuhalten.

Der Minister, der von dem Zufall gehört und erfahren hatte, die Kranke sei nur in das Haus gekommen, um ihn zu sprechen, fragte nach ihrem Befinden und was man beschlossen habe, mit ihr zu tun. Es war aber gar nichts zu beschließen. Die Fremde gab auf alle an sie gerichteten Fragen keine Antwort und winkte nur manchmal abwehrend mit der Hand. Auf die Straße konnte man sie natürlich nicht setzen, so blieb denn nichts übrig, als sie in eines der Fremdenzimmer zu schaffen und für die Nacht dazubehalten – wenn nicht vorher nach ihr geschickt wurde. Eine der Dienerinnen mochte dann bei ihr schlafen.

Indessen hatte man auch nach einem Arzt gesandt, der aber bald erklärte, vorderhand nichts tun zu können. Der Puls ging regelmäßig, aber außerordentlich matt – also keine Spur von Fieber – jedenfalls trug übermäßige körperliche Anstrengung oder geistige Aufregung – vielleicht beides zusammen – die Schuld dieses eigentümlichen, halb wachenden halb träumenden Zustandes. Er werde morgen in aller Frühe wieder vorfragen und hoffe dann eine bestimmte Erklärung geben zu können. Übrigens riet er, bevor er ging, der Kranken etwas Stärkendes und Nährendes vor das Bett zu setzen – möglich, daß sie lange nichts genossen und daß Hunger sie so geschwächt habe.

Die Vorschriften wurden pünktlich befolgt. Der Doktor hielt Wort, und nach einer ruhigen Nacht erwachte die Kranke am Morgen neu gestärkt. Von der Dienerin erst erfuhr sie, wo sie sich eigentlich befinde und empfing bald darauf den Besuch der liebenswürdigen Frau vom Hause. – Aber etwas schien sie zu beunruhigen: alle Angst und Sorge, die auf ihrer Seele lag, war mit dem grauenden Morgen auch wieder erwacht, und sie bat nur, aufstehen zu dürfen, um eine Unterredung mit Sennor Oleaga zu haben, bei dem sie eine dringende Bitte vorzubringen habe. Zugleich fragte sie, ob es nicht möglich sei, einen zuverlässigen Boten zu finden, den sie in das innere Land senden könne. Er sollte für seinen Weg reichlich entschädigt werden.

Sennora Oleaga versprach, sich danach erkundigen zu wollen, und kaum eine Viertelstunde genügte der jungen Fremden, notdürftig ihre Toilette, wenigstens ihr Haar, zu machen und ihre jetzt glühenden Wangen, ihre brennende Stirn in frischem Wasser zu kühlen.

Der Minister erwartete sie in seinem Arbeitszimmer, und mit Zagen betrat sie das hohe, luftige Gemach, das aber nicht im entferntesten dem glich, das wir gewöhnlich unter einem Studierzimmer verstehen. Von Büchern war fast keine Spur darin zu sehen, und nur auf dem mittleren Tisch lagen zerstreut einige Papiere und Zeitungen um ein riesiges Tintenfaß her, und daneben stand eine Kerze und lag ein großes Petschaft. Sonst aber war das Zimmer mit jedem erdenklichen europäischen Luxus ausgestattet, mit geschliffenen Spiegeln in breiten Goldrahmen, mit einer dunklen Bronzewanduhr und eben solchen Armleuchtern, mit feingemalten Vasen und verschiedenen Marmorbüsten auf geschnitzten Konsolen, mit plüschüberzogenen Mahagonimöbeln, gestickten Gardinen und zahlreichen kleinen Luxusgegenständen, die allerdings weit eher in das Boudoir einer Dame gepaßt hätten – aber Sennor Oleaga liebte nun einmal dergleichen Kleinigkeiten.

Die junge Fremde sah freilich, als sie das Gemach betrat, von alledem nichts, sondern nur die hohe, aber nicht unfreundliche Gestalt des Ministers selber, der ihr artig entgegenkam und ihr einen Stuhl, sich gegenüber, anbot.

»Sennorita,« begann er, ehe jene nur ein Wort zur Einführung finden konnte, – »ich bedaure unendlich, daß Sie gestern in meinem Hause ein Unfall betroffen hat, aber ich sehe zu meiner Freude, daß Sie sich wieder vollkommen erholt haben.«

»Ich muß beschämt um Entschuldigung bitten, verehrter Sennor,« erwiderte die junge Dame mit weicher, aber zitternder Stimme, »Sie solcherart in ihrer Häuslichkeit gestört zu haben – und bin den Ihrigen unendlich dankbar für –«

»Bitte, bitte, liebes Fräulein,« unterbrach sie der Minister in der höflichen Weise Südamerikas – »reden Sie nicht davon. Das ganze Haus steht zu Ihrer Disposition – verfügen Sie darüber, wie Sie wollen. Aber bitte, nehmen Sie Platz – Sie scheinen mir doch noch etwas aufgeregt – und dann erzählen Sie mir, was Sie zu mir geführt hat. – Ich muß Sie jedoch ersuchen,« setzte er, auf seine Uhr sehend, hin – »sich so kurz und bündig als möglich zu fassen, denn meine Zeit ist insofern beschränkt, als ich mehrere Berichte erwarte und dann hinauf zu Sr. Exzellenz dem Präsidenten beordert bin. Mit wem habe ich die Ehre?«

»Mein Name ist Ana Castilia.«

»Castilia, Castilia,« wiederholte Oleaga, »sind Sie verwandt mit der Familie Castilia an der Lagune von Valencia?«

»Es sind meine Eltern,« antwortete Ana leise.

»Caramba,« rief der Minister etwas erstaunt, »gegenwärtig hat der Chef der Rebellen, Miguel Antonio Rojas, bei Ihrem Vater sein Hauptquartier. Und was führt die Tochter dieser Familie zu mir?«

»Ich weiß nicht, was zu Hause geschehen ist,« erwiderte das junge Mädchen, um einen Schatten bleicher werdend, »ich komme nicht von dort. Ich war mehrere Monate mit meinem Bruder in der Nähe von Barcelona, und kehre eben zurück, um mich wieder der Heimat zuzuwenden.«

»Und was, wenn ich bitten darf, verschafft mir also die Ehre Ihres Besuchs?« fragte der Minister, um vieles kälter als vorher, denn die Verwandtschaft mochte ihm nicht allzu angenehm sein.

Ana schwieg eine kurze Zeit, ihr fehlte der Atem, zu beginnen, endlich fragte sie schüchtern:

»Haben Sie noch keinen Bericht von dem gestern von Barcelona eingelaufenen Dampfer erhalten?«

»Gewiß – Depeschen – weshalb?«

»Aber noch keine Privatnachrichten über – über einzelne Vorfälle an Bord?«

»Nein, die unwichtigen Sachen werden wohl erst heute morgen eintreffen. Aber was ist vorgefallen – Sie scheinen –«

»Etwas Furchtbares,« unterbrach ihn zusammenschaudernd das junge Mädchen; »darf ich es Ihnen mit kurzen Worten – so wahr, als ob ich vor meinem Erlöser stände – erzählen?«

»Ich bitte darum – so wahr und so – kurz als Sie können.«

»Als wir von Barcelona abfuhren – Sie wissen, was dort vorgefallen ist?«

»Allerdings – ein toller Streich von ein paar Hitzköpfen, die ihren Übermut teuer bezahlen werden – nun? –«

»Als wir von Barcelona abfuhren, hatten wir eine Anzahl von Regierungsbeamten und Offizieren an Bord, die den – dortigen Verhältnissen auswichen, vielleicht auch gewaltsam aus ihrer bisherigen Stellung vertrieben waren, ich weiß es nicht, da wir auf der Hacienda draußen wenig von den Tagesereignissen erfuhren. Wir hörten nur, daß sich Barcelona für die Revolution erklärt habe.«

»Bitte, verweilen Sie nicht dabei, mir sind die Tagesereignisse völlig bekannt.«

»Einige von diesen Herren,« fuhr Ana fort, »schienen in großer Aufregung. Sie hatten Flaschen und Gläser vor sich stehen und tranken viel. – Ich war mit meinem Bruder an Bord. In der von Passagieren gedrängt vollen Kajüte unten, denn es befanden sich auch viele Damen auf dem Dampfer, konnten wir es nicht aushalten und gingen auf das Deck, wo wir uns abgesondert von den übrigen hielten, bis ich unglücklicherweise meinen Bruder bat, mir ein Glas Wasser zu besorgen. Ich konnte ja nicht ahnen, welche Folgen es für uns haben würde.«

»Das Glas Wasser?« fragte Oleaga.

»Mein Bruder,« fuhr Ana nach einer kurzen Pause, in der sie tief Atem schöpfen mußte, fort, »blieb lange aus; er hatte das Wasser wohl nicht gleich von dem Mozo bekommen können. Einige der Offiziere waren schon längere Zeit auf und ab und mehrmals an mir dicht vorbeigegangen. Ich drückte mich so eng als möglich zusammen, um ihnen nicht im Weg zu sein. Ihre Gänge wurden immer kürzer; es konnte mir nicht mehr entgehen, daß sie sich über mich unterhielten und dabei lachten. Mir wurde der Zustand unerträglich. Ich stand auf, um in die Kajüte hinunterzugehen und Schutz bei meinem Bruder zu suchen, als einer der Herren, jedenfalls im halben Rausch, mir in den Weg sprang, mich umfaßte und ausrief: »Halt, mein schönes Kind, so kommen Sie uns nicht davon – Sie gehören doch auch zu den Rebellen und müssen sich mit einem Kuß auslösen. – – Ich bat ihn, mich loszulassen,« flüsterte Ana jetzt mit kaum hörbarer Stimme, während Totenblässe ihre Züge deckte, »ich versuchte mein Bestes, mich von dem Arm frei zu machen, der Bube zog mich gewaltsam an sich, und während die anderen, die sich um uns gesammelt hatten, lachten, stieß ich in Todesangst einen lauten Schrei aus. – In dem Moment aber war ich frei und sah, wie mein Bruder meinen Feind gefaßt hatte und beiseite schleuderte. Scheu flüchtete ich an seine Seite, aber der Offizier, den er so rauh behandelte, war – vielleicht weniger durch meines Bruders Kraft, als dadurch, daß er sich nicht mehr fest auf seinen Füßen fühlte – der Länge lang hingefallen. Er sprang jetzt wütend empor, riß seinen Säbel aus der Scheide und führte, ohne daß ihn jemand daran verhindert hätte, einen Schlag mit der scharfen Klinge nach meinem Bruder, der ihm aber den Säbel entwand und die Waffe über Bord schleuderte. Der unglückliche Mensch wurde dadurch zur Raserei entflammt. Er entriß einem der anderen Offiziere den Säbel, und jetzt wäre mein Bruder verloren gewesen, wenn er nicht in demselben Augenblick einen Revolver gezogen und den Buben niedergeschossen hätte.«

»Tot?« fragte Oleaga rasch.

»Ich fürchte, ja,« flüsterte Ana – »er fiel, und alle stürzten jetzt mit gezogenen Säbeln über meinen armen Bruder her, den sie zu Boden warfen, ihm den Revolver entrissen und unter den entsetzlichsten Verwünschungen und Flüchen die Hände auf den Rücken banden. Ich wollte mich über ihn stürzen, aber der Kapitän des Dampfers hinderte mich daran. Er ergriff meinen Arm und zog mich fast gewaltsam der Kajüte zu, indem er mir zuflüsterte, nur jetzt nicht den Wütenden entgegenzutreten; ich hätte gesehen, wessen sie fähig wären, und es könne meine Lage nur verschlimmern. Ich rief, sie würden ihn umbringen. »Nein,« antwortete einer mit teuflischem Lachen, ich sehe ihn noch vor mir mit den kleinen tückischen Augen – »dann hätten wir den Spaß nicht, ihn in Caracas hängen zu sehen!«

»Bei diesen Worten schwanden mir die Sinne, aber der Kapitän schaffte mich in die Damenkajüte hinunter, die ich nicht wieder verlassen durfte, bis wir La Guayra erreichten. In La Guayra endlich, aber noch an Bord, bat ich einen der Beamten flehentlich, mich zu meinem Bruder zu lassen; ich wurde höhnisch und rauh abgewiesen, ja bedroht, wenn ich sie länger belästigte; und nun in Todesangst, nachdem ich unseren Diener beauftragt, bei unserem Gepäck zu bleiben, und nachdem mich der Kapitän hatte in seiner eigenen Jolle an Land rudern lassen, eilte ich zu dem Bureau der Diligence, warf mich in den Wagen, und nach einer furchtbaren Fahrt mit einem trunkenen Neger kam ich hier, zum Tod erschöpft, an. Zwei Tage war kein Bissen Essen über meine Lippen, zwei Nächte kein Schlaf in meine Augen gekommen, und als ich Ihr Haus erreicht, Sennor, schwanden mir die Kräfte.«

»Kein Wunder, kein Wunder,« erwiderte Oleaga nicht unfreundlich, »ich bedauere Sie in der Tat, Sennorita, und werde die Sache auf das strengste untersuchen lassen. – Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«

»O, weisen Sie mich so nicht ab!« bat Ana in Todesangst, als sie sah, daß er sich erheben wollte. »Mein Bruder liegt gebunden in der Gewalt seiner Feinde, vielleicht verwundet und in Ketten, ihren Mißhandlungen ausgesetzt. Sie haben die oberste Gewalt im Staat in Händen. Dulden Sie es nicht, daß er wie ein Verbrecher behandelt wird, wo er ja nur die Ehre seiner Schwester und das eigene Leben gegen ruchlose Buben verteidigte.«

»Es ist immer eine fatale Sache,« meinte Olaga verlegen. »Er hat einen Offizier der Armee getötet, und wenn auch angegriffen, – angenommen, daß sich alles so verhält, wie Sie nur sagen –«

»Auf die Hostie kann ich es Ihnen schwören.«

»Ich glaube Ihnen – ich glaube Ihnen – aber doch blieb ihm vielleicht noch ein anderes Mittel, sich zu verteidigen, als gleich das äußerste – und – verzweifeltste zu wählen. – Doch wir wollen sehen, was sich tun läßt. Ich muß jeden Augenblick Bericht erstattet bekommen, denn General Bajo, der mit Ihnen auf dem Dampfer in La Guayra und wohl in der Nacht in Caracas eingetroffen ist, hat sich schon bei mir melden lassen. Ich werde ihn augenblicklich hören, und Sie können sich darauf verlassen, daß Ihr Bruder mit jeder Rücksicht behandelt werden soll, die der Fall und das Gesetz erlaubt, – sind Sie damit zufrieden?«

»Wie soll ich Ihnen danken, Sennor?«

»Eigentlich hat es Ihr Vater nicht um uns verdient, aber ich will vorderhand – und bis ich eines Besseren unterrichtet werde – annehmen, daß er den Generalstab der Rebellen nur als Einquartierung, also gezwungen, in sein Haus bekommen hat, und« – fügte Oleaga gutmütig hinzu – »ehe ich das Gegenteil erfahre, kann vielleicht diese fatale Sache erledigt sein. Wo wohnen Sie?«

»Ich habe gestern abend,« erwiderte Ana errötend, »mein kleines Paket, ehe ich zu Ihnen kam, in einer nur ein paar Häuser entfernten Pulperia abgelegt. Das andere wissen Sie. Ihrer Güte verdanke ich das Obdach dieser Nacht.«

»Ich würde Ihnen mein Haus zum Aufenthalt anbieten, wenn uns da nicht die eigentümlichen Verhältnisse im Weg ständen. Haben Sie keine Freunde in Caracas?«

»Die Familie Gonzales ist unserem Hause befreundet. An sie werde ich mich wenden, bis ich meinem Vater Botschaft nach Maracay senden kann. – Und darf ich mir Antwort holen?«

Oleaga sah sinnend vor sich nieder. – »So rasch wird die Sache nicht gehen,« meinte er endlich. »Schon die Untersuchung kann längere Zeit in Anspruch nehmen, aber ich hoffe, Ihnen in wenigen Tagen wenigstens meine Meinung über den Tatbestand mitteilen zu können. Das ist aber auch jetzt alles, was ich Ihnen in der unangenehmen Sache sagen kann, und Sie werden mich entschuldigen, wenn ich –«

»Ich fühle, daß ich Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen darf,« sagte Ana, sich erhebend, »gestatten Sie mir nur noch, daß ich Ihrer Frau Gemahlin, ehe ich Ihr gastliches Haus wieder verlasse, mit vollem Herzen für die liebevolle Pflege danken darf, die sie gestern der Fremden angedeihen ließ.«

Oleaga winkte ihr freundlich mit der Hand, und doch wenigstens mit einem schwachen Hoffnungsstrahl im Herzen verließ sie das Zimmer.

Kaum zehn Minuten früher war einer der gewöhnlichen Karren, auf denen die Produkte des Landes: Kaffee, Kakao etc. nach der Hafenstadt geschafft und andere Waren daher heraufgeholt werden, an dem Haus vorbeigerasselt, und auf ein paar Kaffeesäcke ausgestreckt, den Kopf mit blutigen Tüchern umwunden, die Hände auf dem Rücken zusammengeschnürt, lag ein junger Mann, das bleiche, blutige Antlitz dem Himmel zugekehrt, die Augen geschlossen und die Lippen wie in peinlichem Schmerz zusammengepreßt. Aber kein Laut kam über seine Lippen, und nur so fest er konnte, stemmte er sich gegen die Karrenwände, um nicht zu sehr durch das Rütteln des Fuhrwerks auf dem Pflaster hin und her geworfen zu werden.

Der Karren erreichte endlich das Gefängnis, rollte in den Torweg ein und verschwand im Innern, und die davorstehenden Posten lachten zusammen über die Jammergestalt, die da eben angelangt war.

Draußen auf der Landstraße marschierte indessen General Colina mit seiner kleinen Truppe dem Süden entgegen. Am Ende der Stadt hatte sich der Schar noch ein mit Waffen und Munition beladener Karren angeschlossen, der sich neben den Packtieren und immer etwa hundert Schritt hinter den Soldaten hielt. Die Kompagnie von Chacao war außerdem noch zu ihnen gestoßen, und ein paar Eseltreiber, die nach Caracas wollten, fanden sich plötzlich, mit einer Muskete auf der Schulter, in Reihe und Glied, während man ihren Tieren einen Teil der Cobijas aufpackte, die den Soldaten anfingen zu warm zu werden. Die Treiber wollten dagegen protestieren, aber Kolbenstöße belehrten sie bald, daß sie keinen eigenen Willen mehr haben durften, wo General Colina befahl, und so wuchs die Schar allmählich an. Wo man in einzelnen Hütten oder in den kleinen Ortschaften noch junge Leute antraf, die nicht rasch genug aus dem Weg kommen konnten oder auch wohl keine Ahnung von solchem gewalttätigen Verfahren hatten, wurden sie eingereiht, ihnen ein gelbes Band um den Hut gebunden und ein Gewehr oder eine Lanze in die Hand gedrückt. Wenn sie dann jammerten, daß sie wenigstens nur noch einmal nach Hause müßten, um den Ihrigen Bescheid zu sagen, lachte man sie aus. Ein Soldat hat kein »zu Hause« mehr, und die Familie erfuhr schon zeitig genug, was aus ihnen geworden, oder konnte es sich doch wenigstens denken.

So zog Colina durch das Land – immer gen Süden, und der Schreckensruf ging bald vor ihm her. Wenn man von fern die aufwirbelnde Staubwolke erkannte, die den von Tag zu Tag wachsenden Zug verriet, flüchteten die jungen Leute in die unwegsamsten Berge hinein, und trieben die Alten mit zitternden Händen ihr Vieh aus dem Bereich der Räuber. In den kleinen Städten wurden alle Läden geschlossen, und keine Seele fast ließ sich in den Straßen blicken – aber den Händlern half das doch nichts. Selbst die Gepreßten wollten wenigstens leben, und da sie überall in den Straßen bekannt waren, brauchten sie nur die Stellen zu bezeichnen, wo sonst Lebensmittel oder Getränke feilgehalten wurden. Im Nu waren dann Türen oder Läden erbrochen, und man nahm, was man gerade brauchte, ja, oft was man vorfand, um wieder Vorrat auf den Weg zu haben. Ob der Verkäufer dabei war oder nicht, blieb sich ja auch vollkommen gleich, denn Bezahlung hätte er doch auf keinen Fall bekommen – ja, war es ein noch brauchbarer Mann, so wäre er sogar der Gefahr ausgesetzt gewesen, selbst mit fortgeschleppt zu werden, und da verlor er doch lieber einen Teil seiner Waren und hielt sich aus dem Weg.

Es hieß auch nicht mehr: »El Colina kommt!« wenn sich die Banden einem der stillen Binnenstädtchen näherten, sondern das Volk griff den alten Beinamen El Cólera auf, und man floh ihn wie die Krankheit selber.

Allerdings befanden sich hier und da unterwegs kleine Rekognoszierungstrupps der Blauen, die vorgeschoben waren, um sich zu rekrutieren und dann den Feind zu beunruhigen. Diese fühlten sich aber nie stark genug, um der jetzt schon fast zu dreihundert Mann angewachsenen Macht der Gelben die Stirn zu bieten, oder ihnen nur standzuhalten, und wichen ihnen fortwährend aus. Jedoch Boten nach Boten wurden nach der Lagune gesandt, um den Durchzug der Feinde zu melden; vielleicht war es dann möglich, ihnen den Rückweg abzuschneiden und sie so lange von der Hauptstadt getrennt zu halten, bis man sich stark genug fühlte, sie anzugreifen und aufzureiben.

So passierte Colinas Schar das ganze bergige Terrain von Caracas, brandschatzte die kleinen Städte Villa da Cura, Ortiz, San Juan del Morro und wandte sich dann direkt in die Llanos hinab, gegen Calabozo, wo die Nachricht von dem Nahen der Regierungstruppen nicht geringe Bestürzung verbreitete. Allerdings war alles dort für die Reconquistadoren, und es wären auch Männer und Waffen genug in der Stadt gewesen, um diese gegen eine stärkere Macht als die Colinas zu halten, aber der Südamerikaner ist entsetzlich indolenter Natur und wenn auch nichts weniger als feige, doch zu unentschlossen und träumerisch zu raschem Handeln.

Die Bürger und Einwohner von Calabozo traten zusammen, und von den jungen Leuten stimmten manche dafür, die Stadt augenblicklich in Verteidigungszustand zu setzen. Belagerungsgeschütz führte der Negergeneral keines bei sich, und wenn sie auch die dritte SchlachtSchon in den Freiheitskriegen gegen die Spanier wurden bei Talabozo zwei blutige Schlachten geschlagen. hier schlagen sollten, so wollten sie sich doch ihre Unabhängigkeit wahren und am wenigsten dem Neger den Zutritt in die Stadt erlauben. – Aber es blieb bei den Redensarten. Die ruhigeren und älteren Leute hatten ihre Bedenken, die Reicheren fürchteten die Zerstörung ihrer Besitzungen, und ehe sie nur einig wurden, in welcher Weise sie handeln könnten, meldeten schon ausgeschickte Kundschafter, das Heer des gefürchteten Generals sei in Sicht.

Es war an der Sache nichts mehr zu ändern, und Colina rückte in Calabozo, obgleich ihm die Straßen offen standen und keine Demonstration auch nur versucht wurde, wie in eine feindliche Stadt ein. Er schrieb Kontributionen aus, setzte andere Behörden ein, nahm verschiedene Häuser an der Plaza in Besitz, um von da aus im Notfall die ganze Stadt zu beherrschen, und wirtschaftete dort, als ob er sie eben erobert und sie ihm nicht ohne den geringsten Widerstand ihre Tore geöffnet habe.

Er erreichte dadurch vollkommen seinen Zweck, denn wenn auch in den nächsten Wochen eine große Anzahl der reicheren Familien, ja man kann sagen die Mehrzahl, auswanderte und sich lieber direkt nach Caracas hineinzog, als hier den Schikanen einer gar nicht kontrollierbaren Militärbande ausgesetzt zu sein, so verhinderte diese rasche Bewegung des gefürchteten Generals und die Rücksichtslosigkeit, mit der er gegen alle und gegen alles auftrat, doch ein Zusammengehen der revolutionär gesinnten Massen. Man konnte nicht anders glauben, als daß er noch eine starke Reserve hinter sich wußte, die ihn im Notfall unterstützen würde und dann das Übel nur noch schlimmer machte, und selbst die kleineren von der Lagune ausgesandten Piketts wagten sich nicht so weit vor, ebenfalls aus Furcht vor einem Hinterhalt.

So standen die Verhältnisse in diesen Wochen, und scheinbar hielt die Regierung das Heft noch immer fest in den Händen – aber auch nur scheinbar. Ihre eigenen Soldaten, die einzigen, auf die sie sich noch verlassen mußten, standen im Herzen auf Seite der Reconquistadoren und desertierten, wo sie irgend konnten, natürlich nicht zu den »Blauen«, wenn es sich irgend vermeiden ließ, denn sie wollten überhaupt nicht totgeschossen werden. Die Schwärme der Blauen wuchsen aber trotzdem, wenn auch langsam, doch von Tag zu Tag. Sie lagen allerdings noch zerstreut, und oft selbst im Busch versteckt umher, aber sie waren doch da, und die Zeit mußte kommen, wo sie endlich vereint auch vorbrechen konnten gegen den gemeinsamen Feind.



 << zurück weiter >>