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Achtes Kapitel

Ein heftiger Anfall von ›Pendycitis‹

Mrs. Pendyce fühlte sich sehr matt, als sie eilig den Rückweg von Chelsea antrat. Sie hatte Stunden voll starker Erregung durchlebt und den ganzen Tag noch nichts gegessen.

Wie Sonnenuntergangs-Gewölk oder wie das Farbenspiel in der Perlmutter, so seien – steht's geschrieben – die Stimmungen des Menschen – bunt durchwoben wie die Fäden einer Stickerei, unbestimmter als ein Apriltag, und doch jede von einem eigenen Rhythmus getragen, der nie versagt und in dem kein anderer ganz richtig einstimmen kann.

Es bedurfte nur einer einzigen Tasse Tees auf ihrem Heimweg, und in Mrs. Pendyce erwachte ihre Lebenskraft von neuem. Sie hatte nun plötzlich den Eindruck, als ob großer Lärm um nichts gemacht worden sei. Als ob jemand, der wußte, wie dumm Menschen sein können, mit dieser Dummheit sein tolles Spiel getrieben hätte.

Aber diese heitere Zuversicht schwand, sobald sie sich die Frage vorlegte, was sie nun zunächst zu tun hätte.

Ohne zu einem Entschluß gekommen zu sein, erreichte sie ihr Hotel. Sie setzte sich ins Lesezimmer, um an Gregory zu schreiben; und während sie dasaß, die Feder in der Hand, überkam sie die Versuchung, ihm scharfe Worte zu sagen, weil er dadurch, daß er die Menschen nicht so sah, wie sie sind, all das Ungemach über sie gebracht hatte. Aber sie besaß so wenig Übung darin, jemandem scharfe Worte zu sagen, daß ihr keine passenden einfielen, und so war sie schließlich genötigt, sie ganz fortzulassen. Nachdem sie den Brief beendet und abgesandt hatte, wurde ihr leichter. Und plötzlich fiel ihr ein, daß sie gerade noch zu dem Fünf-Uhr-fünfundfünfzig-Zug nach Worsted Skeynes zurechtkäme, wenn sie jetzt sofort packte.

Wie beim Verlassen ihres Heims, so folgte sie auch bei der Rückkehr dorthin nur ihrem Instinkt; und ihr Instinkt riet ihr, unnützes Aufheben und Leid zu vermeiden.

Die altersschwache Bahnhofsdroschke, die modrig und nach dem Stall roch, trug sie fast liebevoll dem Gutshause entgegen. Der bejahrte Rosselenker mit dem glattrasierten lustigen Gesicht, das etwas von einem Vogel hatte, fuhr mit ihr ganz stürmisch drauf los, denn, wenn er auch nichts weiter wußte, so hatte er doch die Empfindung, daß zwei ganze Tage und ein halber lange genug für ihr Ausbleiben gewesen waren. Am Parktor saß Roy, der Skyeterrier, und bei seinem Anblick überfiel Mrs. Pendyce ein Zittern, als käme es ihr erst jetzt zum Bewußtsein, daß sie wieder daheim war!

Daheim! Die lange, schmale, schnurgerade Allee, die Nebel und die Stille, der rieselnde Regen und die sonnenhellen Nachmittage, der Geruch von Holzrauch und Heu und der Duft ihrer Blumen, des Gutsherrn Stimme, der dumpfe Schlag der Grassicheln, das Bellen der Hunde, das ferne Summen der Dreschmaschine – all das kam ihr in den Sinn – und dann Sonntags-Laute: Kirchenglocken und Orgel und Pastor Barters Predigten; selbst der Geschmack der häuslichen Gerichte! Und ihr war, als seien alle diese Düfte, Laute und Geschmacksempfindungen, die Luft, die ihre Wangen streifte, schon in der Vergangenheit dagewesen, als würden sie fortdauern bis in alle Ewigkeiten.

Sie wurde abwechselnd blaß und rot und empfand weder Freude noch Traurigkeit, denn in einer gewaltigen Woge flutete das alte Leben über sie hin. Sie ging sofort in das Arbeitszimmer ihres Gatten, um hier zu warten, bis er kam. Bei dem heisern Laut, den er äußerte, begann ihr Herz heftig zu schlagen, indes der alte Roy und der Spaniel John einander leise anknurrten.

»Na, John«, murmelte sie, »freust du dich, mich wieder zu sehen, mein Alter?«

Der Spaniel John schlug, ohne sich von der Stelle zu rühren, mit dem Schwanz gegen seines Herrn Fuß.

Der Gutsherr hob endlich den Kopf.

»Na, Margery?« Das war seine Begrüßung.

Es fiel ihr auf, daß er gealtert und sehr müde aussah.

Der Abend-Gong begann zu tönen, und wie von seinen langen, einförmigen Schlägen angelockt, kam eine Schwalbe durch eines der schmalen Fenster hereingeflogen und flatterte im Zimmer umher.

Mrs. Pendyces Augen folgten ihrem Flug.

Da trat der Gutsherr plötzlich auf sie zu und faßte ihre Hand.

»Lauf mir nicht wieder davon, Margery!« sagte er; und sich neigend küßte er ihr die Hand.

Ihr war das so fremd an ihrem Gatten, daß sie errötete wie ein junges Mädchen. Und ihre Augen blickten auf seinen grauen, kurzgeschorenen Kopf fast dankbar herab, daß er ihr keinen Vorwurf gemacht hatte, und auch froh über jene ungewohnte Zärtlichkeit.

»Ich habe dir einige Neuigkeiten zu berichten, Horace. Helen Bellew hat George den Abschied gegeben!«

Der Gutsherr ließ ihre Hand sinken.

»Das war auch die höchste Zeit«, meinte er. »Ich nehme an, George hat sich nicht so ohne weiteres in diese Verabschiedung gefügt; er ist eigensinnig wie ein Esel.«

»Ich fand ihn in einem jammervollen Zustand.«

Mr. Pendyce fragte beunruhigt:

»Wie? Was heißt das?«

»Er sah so verzweifelt aus.«

»Verzweifelt?« fragte der Gutsherr in einer Art von ängstlichem Zorn.

Mrs. Pendyce fuhr fort:

»Es tat einem weh, ihn nur anzusehen. Ich war heute nachmittags bei ihm –«

Hastig unterbrach sie der Gutsherr:

»Er ist doch nicht etwa krank?«

»Nein, krank nicht. Ach, Horace, begreifst du denn nicht? Ich hatte Angst, er könnte irgendeine Unbesonnenheit begehen. Er war so – unglücklich.«

Der Gutsherr begann auf und nieder zu gehen.

»Ist jetzt – keine Gefahr mehr?« stieß er hervor.

Etwas hastig ließ sich Mrs. Pendyce auf dem nächsten Sessel nieder.

»Nein«, entgegnete sie langsam, »ich – denke nicht.«

»Denke! Was nutzt das? Was – ist dir nicht wohl, Margery?«

Mrs. Pendyce, die die Augen geschlossen hatte, entgegnete:

»Doch, Lieber, ganz wohl.«

Mr. Pendyce trat zu ihr; und da sie vor allen Dingen Luft und Ruhe brauchte, beugte er sich über sie und versuchte mit allen erdenklichen Mitteln, sie aufzumuntern. Und sie, die sich danach sehnte, allein zu sein, war gerührt von seinem Bemühen, denn sie wußte, daß er all dies tat, weil er seiner Natur nach nicht anders konnte. Trotz seiner Anstrengungen ging das Ohnmachtsgefühl vorüber, und sie faßte seine Hand und streichelte sie dankbar.

»Was soll nun geschehen, Horace?«

»Geschehen?« rief der Gutsherr. »Du meine Güte, wie sollt' ich das wissen? Du gerätst mir da in diese Verfassung, nur wegen des verd... Burschen, dieses Bellew und seiner verd... Frau! Vor allen Dingen mußt du jetzt etwas essen.«

Dabei legte er den Arm um ihre Gestalt und brachte sie, indem er sie halb führte und halb trug, auf ihr Zimmer.

Beim Dinner redeten sie nicht viel und auch nur von gleichgültigen Dingen, von Mrs. Barter, Peacock, den Rosen und Beldames Häcksen. Nur einmal gerieten sie allzu nahe an das, was zu meiden eine unbewußte Empfindung ihnen riet; das war, als der Gutsherr plötzlich sagte:

»Ich nehme an, du hast die Frau gesprochen?«

Und Mrs. Pendyce entgegnete leise:

»Ja.«

Sie ging sehr bald auf ihr Zimmer, und kaum lag sie zu Bett, als Mr. Pendyce erschien.

»Ich komme ein bißchen zeitig«, sagte er, gleichsam entschuldigend.

Sie lag wach da, und von Zeit zu Zeit fragte Pendyce in der Hoffnung, daß sie eingeschlummert sei: »Schläfst du, Margery?« Denn er selbst vermochte keinen Schlaf zu finden. Und sie wußte, daß er gern lieb sein wollte; sie wußte auch, daß, während er sich wachend von einer Seite auf die andere wälzte, er ebenso wie sie selbst immer wieder das eine dachte: ›Was soll nun zunächst geschehen?‹ Und auch daß in seinen Vorstellungen jenes Gespenst spukte mit hohen Schultern, den glühenden, kleinen Augen, dem roten Haar und blassen, sommersprossigen Gesicht. Denn abgesehen davon, daß George nun unglücklich war, hatte sich nichts geändert, und das Gewölk der Rache hing immer noch schwer über Worsted Skeynes. Gleich einer ermüdenden Lektion wiederholte sie sich immer wieder von neuem: ›Jetzt kann Horace den Brief von Hauptmann Bellew beantworten, kann ihm sagen, daß George sie nicht wiedersehen wird. Er muß ihm antworten. Aber wird er's auch?‹

Sie spürte nach den verborgenen Triebfedern in ihres Gatten Wesensart, sann und sann und bemühte sich, ihn zu begreifen, um herauszufinden, auf welche Art sie ihn am besten dazu bringen könnte. Aber sie sah keine Gewißheit, denn hinter all jenen kleinen Äußerlichkeiten seiner Natur, die ihr so ›wunderlich‹ schienen, die sie aber begreifen konnte, lag etwas, das ihr so fremd, so unergründlich schien wie das Dunkel – eine Art Seelenpanzer, eine Art Härte, eine Art unerbittlicher – ja, Was nur?

Und wie sie bei ihrer Stickarbeit mit der Nadelspitze oft haltmachen mußte vor dem undurchdringlich harten Leinen, so mußten die Fühler ihrer Seele jetzt haltmachen vor der Seele ihres Mannes. ›Vielleicht‹, so dachte sie dabei, ›hat Horace mir gegenüber die gleiche Empfindung.‹ Der Gedanke war überflüssig, denn der Squire machte keine Stickarbeiten, noch gingen die Fühler seiner Seele auf Forschungsreisen aus.

Bis zur Frühstücksstunde des nächsten Tages hatte sie sich nicht zu reden getraut. ›Wenn ich nicht davon spreche‹, dachte sie bei sich, ›wird er vielleicht aus eigenem Antrieb den Brief schreiben.‹

Ohne seine Aufmerksamkeit zu erregen, beobachtete sie ihn den ganzen Morgen. Sie sah ihn an seinem Schreibtisch sitzen mit einem zerknitterten, verknüllten Brief und wußte, daß es der von Bellew war; und sie machte sich geräuschlos um ihn zu schaffen, ging leise ein und aus, rückte hier und da etwas zurecht im Zimmer und draußen in der Halle. Aber der Gutsherr rührte sich so wenig wie der Spaniel John, der, die Nase zwischen den Pfoten, ausgestreckt am Boden lag.

Nach dem Frühstück konnte sie nicht länger an sich halten.

»Was meinst du, daß jetzt geschehen müßte, Horace?«

Der Gutsherr sah sie scharf an.

»Wenn du glaubst«, begann er endlich, »daß ich mich mit Bellew, diesem Burschen, irgendwie einlassen werde, dann irrst du dich gewaltig.«

Mrs. Pendyce ordnete gerade die Blumen in einer Vase, und dabei zitterte ihre Hand so heftig, daß sich etwas von dem Wasser auf die Tischdecke ergoß. Sie nahm ihr Taschentuch heraus und tupfte die Tropfen auf.

»Du hast ihm auf seinen Brief gar nicht geantwortet!« sagte sie.

Der Gutsherr lehnte sich mit dem Rücken gegen die Anrichte; in seiner etwas steifen Erscheinung mit dem dünnen Hals und den zornigen Augen, deren Pupillen wie Nadelspitzen waren, lag eine gewisse Würde.

»Nichts in der Welt bringt mich dazu!« sagte er, und seine Stimme klang hart und fest, als ginge es hier um Größeres als sein eigenes Ich. »Den ganzen Morgen lang habe ich es mir überlegt, und hol mich der T..., wenn ich's tue! Der Kerl ist ein Schurke. Ich ducke mich nicht vor ihm!«

Mrs. Pendyce schlang die Hände ineinander.

»Ach, Horace«, sagte sie, »aber es geschieht doch für uns alle! Du brauchst ihm ja nur jene Zusicherung zu geben.«

»Damit er über mich triumphiert!« rief der Gutsherr. »Nein, bei Gott, nein!«

»Aber Horace, ich dachte, das war's gerad, was du von George verlangtest. Du wolltest ja in deinem Brief eben jenes Versprechen von ihm haben!«

»Das verstehst du nicht, Margery«, entgegnete der Squire; »du verstehst auch mich nicht! Glaubst du, ich würde ihm sagen, seine Frau hätte meinem Sohn den Laufpaß gegeben? Glaubst du, ich hätte diese ganze Zeit über wie ein Fisch an seiner Angel gezappelt, nur damit er schließlich recht behält? Nicht, wenn ich deswegen von meinem Gut fort müßte, nicht wenn ich –« aber als hätte er bereits die bitterste aller Möglichkeiten in Erwägung gezogen, hielt er inne.

Mrs. Pendyce hatte ihre Hände auf seine Rockaufschläge gelegt und stand mit gesenktem Kopf vor ihm. Ihre Wangen waren von Glut übergossen, in ihren Augen schimmerten Tränen. Und in ihrer Erregung ging eine Wärme und Frische, ein Zauber von ihr aus, als sei sie wieder jung, wie das Bild, unter dem sie beide standen.

»Auch nicht, wenn ich dich darum bitte, Horace?«

Des Gutsherrn Antlitz überzog sich mit dunkler Glut; er ballte die Hände und schien zu überlegen und zu schwanken.

»Nein, Margery«, sagte er dann heiser; »es – es ist – ich kann's nicht!«

Er riß sich von ihr los und verließ das Zimmer.

Mrs. Pendyce blickte ihm nach; ihre Finger, denen er seinen Rock entrissen, begannen sich unruhig ineinanderzuschlingen.

 


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