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Zehntes Kapitel

Bei Blafard

Von Zeit zu Zeit taucht an der Oberfläche unserer modernen Zivilisation einer jener großen und guten Menschen auf, die, wie alle großen und guten Menschen, ohne sich der Größe und Güte ihres Werkes bewußt zu werden, ein dauerndes Andenken an ihre Person zurücklassen, ehe sie Bankrott machen.

So erging es dem Begründer des ›Stoiker-Klubs‹.

Er tauchte im Jahre 18.. auf und nannte nichts sein eigen als die Kleider, die er trug, und eine Idee. Im Laufe eines Jahres hatte er den ›Stoiker-Klub‹ ins Leben gerufen, zehntausend Pfund erworben, noch mehr verloren und war wieder untergetaucht.

Der ›Stoiker-Klub‹ aber lebte weiter vermöge der unsterblichen Schönheit seiner Grundidee. Im Jahre 1891 war er eine stattliche, eingetragene Körperschaft, vielleicht nicht so ganz exklusiv wie früher, aber schließlich ebenso elegant und vornehm wie irgendein anderer Klub in London, abgesehen von den einen oder zweien, in die niemand je eindrang. Die Idee, auf die sein Schöpfer das Werk gebaut hatte, war, wie alle großen Ideen, einfach, von dauernder Geltung und so vorzüglich, daß man sich staunend fragen mußte, weshalb noch niemand vorher sie erdacht hatte. Sie war enthalten in Nr. 1 der Klubstatuten: ›Kein Mitglied dieses Klubs darf irgendeine berufliche Tätigkeit ausüben.‹

Daher der Name des Klubs, der in ganz London berühmt war wegen der Trefflichkeit seines Kellers und seiner Küche.

Er befand sich in Piccadilly, und seine Front war dem Greenpark zugekehrt. Und da sein Rauchzimmer zu ebener Erde lag, genoß das Publikum den Vorzug, zu allen Tageszeiten eine Anzahl ›Stoiker‹ beobachten zu können, die in verschiedenen Stellungen die Tageszeitungen lasen oder zum Fenster hinausguckten.

Einige von ihnen, die nicht in Aufsichtsräten saßen, Obstzüchtereien oder eigene Jachten hatten, schrieben ab und zu ein Buch oder waren bei einem Theater beteiligt. Die meisten von ihnen füllten ihr Dasein damit aus, daß sie Pferde laufen ließen, Füchse jagten oder auch Vögel schossen. Von einigen individuell Veranlagten unter ihnen wußte man, daß sie Klavier spielten und zum Katholizismus übergetreten waren. Viele von ihnen besuchten Jahr um Jahr zur betreffenden Saison dieselben Orte des Festlandes. Einige gehörten der Yeomanry an, andere nannten sich Anwälte; ab und zu malte einer ein Bild oder widmete sich Wohltätigkeitsbestrebungen. Alle Neigungen und Temperamente waren unter ihnen vertreten; bezeichnend für alle aber war ihr unabhängiges Einkommen; und es war von der Vorsehung oft so eingerichtet, daß sie sich dessen beim besten Willen nicht entledigen konnten.

Wenngleich die Forderung der Berufslosigkeit alle Klassenunterschiede aufhob, so setzte sich der ›Stoiker-Klub‹ doch zumeist aus Angehörigen des begüterten Landadels zusammen. Bei der Wahl ihrer Mitglieder ließen sie sich von dem Instinkt leiten, daß der Geist des Klubs am besten gewahrt bleibe bei Angehörigen dieser Klasse; und die ältesten Söhne, für die es fast selbstverständlich war, dem Klub beizutreten, beeilten sich, ihre jüngeren Brüder zur Mitgliedschaft heranzuziehen. Auf diese Weise erhielten sie den Wein so rein wie möglich und bewahrten ihm jenes zarte, altbeliebte Herrenhaus-Aroma, das nirgends so geschätzt ist wie in London.

Nachdem er Gregory auf dem Deck des Omnibusses hatte vorüberfahren sehen, ging George Pendyce ins Spielzimmer, und als er es noch leer fand, begann er, die Bilder an den Wänden näher zu betrachten. Sie stellten Porträts jener Mitglieder des ›Stoiker-Klubs‹ dar, die gelegentlich von bekannten Karikaturisten in irgendeinem der vornehmen illustrierten Blätter veröffentlicht worden waren. Sobald ein ›Stoiker‹ auf diese Weise Unsterblichkeit gewann, wurde sein Bild ausgeschnitten, unter Glas und Rahmen gesetzt und an der Seite seiner Ruhmesgenossen in diesem Zimmer aufgehängt. Und George ging von einem zum andern, bis er zum letzten kam. Das war er selbst. Er war in einem Anzug von tadellosem Schnitt dargestellt, mit leicht gekrümmten Ellbogen und umgehängtem Feldstecher. Auf seinem verhältnismäßig großen Kopf saß ein schwarzer runder Filzhut mit sehr flacher Krempe. Der Künstler hatte lange und sorgsam über das Gesicht nachgedacht. Die Linien um Mund und Kinn sollten den Eindruck geistloser Lebensfreude erwecken, aber der Form und Farbgebung haftete etwas von Eigensinn und Heftigkeit an. Den Augen war ein glasiger Blick verliehen, und zwischen ihnen stand eine kleine Furche, als ob ihr Besitzer den Gedanken hegte:

›Schwer, schwer – aber ›noblesse oblige‹. Ich muß es durchhalten!‹

Darunter stand: ›Der Ambler.‹

George blickte lange auf die Apotheose seines Ruhmes. Sein Stern stand im Zenit. Im Geist sah er eine lange Reihe von Siegen auf dem Turf vor sich, einen weiten Ausblick auf Tage und Nächte, und in ihnen, mit ihnen, zu ihnen gehörig – Helen Bellew. Und seltsam! Während er dastand, sein Bild betrachtend, kam jener glasige Blick, den der Künstler ihnen gegeben hatte, in seine Augen, und zwischen ihnen erschien plötzlich dieselbe kleine Furche.

Bei dem Geräusch von Stimmen wandte er sich ab und ließ sich in einem Sessel nieder. Sich dabei ertappt zu sehen, wie er sein eigenes Bild anstarrte, hätte durchaus sein Anstandsgefühl verletzt.

Es war zwanzig Minuten nach sieben, als er im Gesellschaftsanzug den Klub verließ, um einen Wagen nach Buckingham Gate zu nehmen. Hier schickte er das Coupé fort und zog den breiten Pelzkragen seines Mantels höher hinauf. Zwischen der Krempe seines Hutes und dem Rand des Kragens waren nur seine Augen sichtbar. Mit zusammengepreßten Lippen wartete er und blickte forschend in jeden vorüberfahrenden Wagen. Im schwachen Licht eines schnell heranrollenden Gefährts sah er eine Hand, die dem Kutscher oben ein Zeichen gab. Der Wagen hielt; George trat aus dem Schatten hervor und stieg ein. Der Wagen fuhr weiter, und Mrs. Bellews Arm drückte sich an den seinen.

Es war für sie beide die einfachste Art, gemeinsam in ein Restaurant zu kommen.

Im dritten der kleinen Zimmer, wo das Lampenlicht durch Schirme abgedämpft war, nahmen sie in einer Ecke an einem Tische Platz, jeder von ihnen einer Wand gegenüber, und unter dem Tisch schob sie leise ihren Fuß nach vorn, bis er seinen Lackschuh berührte. In den Augen beider glomm, so sehr sie auch auf der Hut sein mochten, ein Feuer, das nicht zu unterdrücken war. Ein Habitué, der auf der andern Seite des kleinen Raumes an einem Tischchen seinen Rotwein schlürfte, beobachtete die zwei im Spiegel, und es stieg heiß auf in seinem alten Herzen, halb Weh, halb Sympathie. Ein verständnisinniges Lächeln kräuselte die Krähenfüße unter seinen Augen. Aber das Gutmütige verschwand, und es blieb nur ein leises Grinsen um die glattrasierten Lippen zurück. Hinter dem Türbogen im anstoßenden Zimmer kamen zwei Kellner aufeinander zu, und in ihrem Nicken und ihren Mienen lag jene gleiche wissende Sympathie, jenes gleiche wissende Grinsen. Und der alte Habitué dachte:

›Wie lange wird's dauern:‹... »Kellner, einen Kaffee und meine Rechnung!«

Er hatte eigentlich ins Theater gehen wollen, aber er blieb, um noch ein Weilchen Mrs. Bellews weiße Schultern und leuchtende Augen in dem freundlichen Spiegel zu genießen. Und wieder dachte er:

›Das ist junge Liebe. Ja, junge Liebe!‹ ... »Kellner, einen Benediktiner!«

Und als er sie lachen hörte, tat das alte Herz ihm weh.

›Niemand‹, dachte er, ›wird je wieder mit mir so lachen!‹ »He, Kellner, was heißt das? Sie haben mir ja ein Eis aufgeschrieben!«

Aber als der Kellner fort war, blickte er wieder in den Spiegel und sah, wie sie ihre Gläser mit dem goldenen, schäumenden Wein aneinanderklingen ließen, und er dachte:

›Viel Glück! Für ein Aufblitzen dieser Augen, mein Lieber, da gäbe ich –‹

Aber sein Blick fiel auf die künstlichen Blumen, die seinen kleinen Tisch schmückten – sie waren rot, gelb und grün; leblos, steif und schäbig. Plötzlich sah er sie so, wie sie wirklich waren, und sah ebenso die Weinhefe in seinem Glas, die Saucenflecke auf dem Tischtuch, die Überreste von den Nüssen, die er gegessen hatte. Hustend und sich räuspernd dachte er:

›Es ist hier nicht mehr, wie es früher war; ich werde nicht mehr herkommen.‹

Mit einiger Mühe zog er seinen Überrock an, blickte aber noch einmal in den Spiegel und begegnete dabei den Augen der beiden, die auf ihm ruhten. Er las darin das gleichmütige Mitleid der Jugend mit dem Alter. Und seine Augen antworteten: ›Wartet nur, wartet! Bei euch ist's noch Frühling! Ich wünsch' euch nichts Böses, meine Lieben!‹ Und hinkend – denn er hatte ein lahmes Bein – ging er davon.

Aber George und seine Gefährtin blieben sitzen, und mit jedem Glase Wein leuchteten ihre Augen tiefer. Denn wer war jetzt noch in dem Raum, auf den sie Rücksicht zu nehmen hatten? Keine lebende Seele! Nur ein schlanker, dunkler, junger Kellner, der ein wenig schielte und schwindsüchtig war; nur der kleine Weinkellner mit dem bleichen Gesicht und einem Ausdruck, als ob er Schmerzen litte. Und die ganze Welt schien von der Farbe des Weines, den sie getrunken hatten. Aber sie plauderten von gleichgültigen Dingen, und nur ihre schwimmenden, schillernden Augen redeten wirklich. Der dunkle, junge Kellner stand ganz still abseits, und in seinem schielenden Blick, der an ihren Schultern haftete, war etwas von der schwärmerischen Andacht eines Heiligen auf einem Kirchenbild. Hinter dem Wandschirm goß sich der kleine Weinkellner unbemerkt Wein aus einer herrenlosen Flasche in sein Glas und schlürfte es langsam aus. Durch einen Spalt in den roten Fenstervorhängen starrte von draußen aus der feuchten Kälte ein Auge scharf und neugierig herein und verschwand nach einer kleinen Weile wieder.

Es war lange nach neun, als die beiden aufbrachen. Der dunkle, junge Kellner legte ihr mit leisen Händen den Mantel um. Sie blickte nach ihm zurück und in ihren Augen war eine unendliche Milde. ›Gott weiß‹, schienen sie zu sagen, ›wenn ich dich auch glücklich machen könnte, ich tät's. Weshalb soll jemand leiden? Das ganze Leben ist stark und gut!‹

Der junge Kellner senkte vor ihr den schielenden Blick und verneigte sich über dem Gelde in seiner Hand. Diensteifrig eilte der kleine Weinkellner, das leidende Gesicht zu einem breiten Lächeln verzogen, ihnen voraus an die Tür.

»Guten Abend, gnädige Frau; guten Abend, der Herr! Danke ergebenst!«

Und auch er blieb, über seine Hand gebeugt, stehen, und sein Lächeln erstarb langsam.

Im Wagen schlang George den Arm um sie unter ihrem Mantel, und sie wurden rasch weitergetragen in dem Strom der dahineilenden Droschken, in denen Paare, gleich ihnen, saßen, losgelöst von der übrigen Welt, eines nur das andere sehend, eines nur das andere fühlend. Und die Augen ins Halbdunkel gewandt, sprachen sie mit leisen Stimmen zueinander.

 


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