Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Kapitel

Mr. Pendyces Kopf

Wer Mr. Pendyce an seinem Schreibtisch, an dem er die Morgenstunden von halb zehn bis elf, oft sogar bis zwölf zuzubringen pflegte, und seinen Kopf von hinten sah, dem mochte diese Kopfform bedeutsamen Aufschluß geben über Pendyces Gesellschaftsklasse und Persönlichkeit. Seine Umrisse konnte man fast national nennen. Rückwärts gewölbt, ging die Kopflinie unmittelbar über in den sehnigen, hageren Hals; zwischen den Ohren und über der Stirn verschmälerte sich der Kopf, während die Kiefer kräftig ausgebildet waren. Eine Linie, von der hinteren Wölbung bis zur Spitze des Kinns gezogen, wäre von ungewöhnlicher Länge gewesen. Dem Beobachter mußte sich die Überzeugung aufdrängen, daß dieser Schädel da durch sein Übermaß an Länge große Charakterfestigkeit und gesunden Tatendrang verriet, und, bei seinem Mangel an Breite, ein beschränktes Festhalten an einmal gefaßter Meinung, die zeitweilig in Querköpfigkeit ausarten mochte. Der dünne, herrische Nacken, den kleine Härchen bedeckten, und die klugen Ohren befestigten diesen Eindruck. Und wenn man nun sein Gesicht mit dem kurzgeschnittenen Backenbart sah, mit seinen rosigen, etwas verschrumpften Wangen, in die der Ostwind einen Hauch von Gelb und die Sonne einen Hauch von Braun gemischt hatte, und wenn man der grauen, etwas mißvergnügten Augen ansichtig wurde, dann durfte man getrost annehmen, daß man einen Engländer vor sich hatte, einen landbegüterten Engländer und – trotz Mr. Pendyces tiefster Überzeugung vom Gegenteil – einen Individualisten. Sein Kopf war mit nichts anderem besser zu vergleichen als mit dem Hafendamm von Dover – jenem wunderlich langen, schmalen Ding mit der kleinen Wendung oder Biegung an seinem Ende, das gleich zuerst den Fremden, die an diesem Teil der Küste landen, störend in die Augen fällt und ein Gefühl von Verwunderung und Unbehagen in ihnen weckt.

Mr. Pendyce saß sehr still an seinem Schreibtisch, ein wenig geneigt über seine Schriftstücke, wie jemand, der mit den Dingen nicht gar leicht fertig wird. Dann und wann unterbrach er sich, um in dem Kalender zu seiner Linken etwas nachzusehen, oder in irgendwelchen Papieren aus einem der vielen Schreibtischfächer.

Aufgeschlagen lag in einiger Entfernung ein älterer Jahrgang des ›Punch›‹, des Witzblattes, von dem er als echt englischer Grundbesitzer eine fast fachmännische Kenntnis besaß. In müßigen Augenblicken war es eine seiner liebsten Zerstreuungen, jene alten Zeichnungen zu durchblättern, und bei dem Abbild John Bulls dachte er jedesmal: ›Komische Idee, einen Engländer als so einen dicken Kerl darzustellen.‹

Es war, als ob der Künstler ihm eine persönliche Beleidigung zugefügt hätte, indem er ihn selbst, als Typus, überging und diese Auszeichnung jemandem zuteil werden ließ, der kaum noch in Mode war. Wenn der Pfarrer eine solche Äußerung von Mr. Pendyce hörte, widersprach er ihm eifrig, denn er selbst war vierschrötig und breit gebaut und wurde immer stärker.

Bei all ihrem Ehrgeiz, in ihrer Person den echten Typ eines Engländers zu verkörpern, hielten sowohl Mr. Pendyce wie der Pastor sich weit entfernt von den Roastbeef-, Porter- und Pudding-Typen der Georgianischen und Früh-Victorianischen Ära. Sie waren beide Männer von Welt, auf der Höhe der Zeit, die sich vermöge ihrer Schul- und Universitätsbildung eine Lebensart, eine Kenntnis von Menschen und Dingen, eine geistige Reife angeeignet hatten, die ihnen der Vervollkommnung nie nötig erschienen war. Jeder von ihnen, besonders aber Mr. Pendyce, hielt sich auch ständig auf dem laufenden durch die Besuche, die sie der Hauptstadt etwa sieben- bis achtmal im Jahre abstatteten. Bei diesen Gelegenheiten nahmen sie selten ihre Ehefrauen mit, da sie immer gar wichtige Angelegenheiten vorhatten – wie Dinners der ehemaligen Studienfreunde, Zusammenkünfte der Konservativen, Cricketwettkämpfe, Kirchenkongresse, Operetten-Theater und für den Pfarrer das ernste Schauspiel. Beide gehörten auch verschiedenen Klubs an; der Pfarrer einem behaglichen, altmodischen, wo er sein Spielchen machen konnte, ohne zu hasardieren, und Mr. Pendyce der Loge zur ›Guten Alten Zeit›‹, wie es sich für einen Mann geziemt, der, nachdem er in seinem Geist alle sozialen Probleme gründlich erwogen, zu dem Schluß gekommen ist, daß das wahre Heil nur in der Vergangenheit zu suchen sei.

Sie gingen stets mit Murren nach London; und das war auch sehr geboten, ja notwendig, mit Rücksicht auf ihre Frauen. Und stets kamen sie mit Murren zurück, wegen ihres Magens, den aber glücklicherweise die gesunde Lebensweise auf dem Lande immer wieder herstellte, bis es Zeit war für den nächsten Besuch der Hauptstadt. Auf diese Weise meinten sie, der Gefahr zu versimpeln aus dem Wege zu gehen.

In dem stillen Arbeitszimmer seines Herrn hatte der Spaniel John den Kopf, der auch lang und schmal war, auf seine Pfote gelegt, als ob er unter jene Stille leide; und als sein Herr sich räusperte, da wedelte er mit dem Schweif und blinzelte mit dem einen Auge, von dem man nur das Weiße sah, zu ihm hinauf, ohne dabei den Kopf zu rühren.

Irgendwo am Ende des langen, schmalen Zimmers tickte eine Uhr; das Sonnenlicht fiel durch die langen, schmalen Fenster auf die langen, schmalen Buchrücken in dem Bücherschrank mit den Glastüren, der eine ganze Wand einnahm. Und dieses Zimmer mit seinem leisen Ledergeruch schien der geeignete Ort, an dem irgendein langes, schmalbrüstiges Ideal seinem langen, schmalbrüstigen Ende entgegenreifen konnte.

Aber Mr. Pendyce würde spöttisch gelächelt haben über die Idee, daß Ideale, die auf ererbten Grundsätzen beruhen, überhaupt ein Ende haben könnten.

›Laßt mich meine Pflicht tun und meinen Besitz so weiterführen, wie ihn mein guter, alter Vater geführt hat, damit ich ihn, wenn möglich, vermehrt, meinem Sohn überantworten kann‹, das war manchmal seine Rede, sehr, sehr oft sein Gedanke, nicht selten sein Gebet. ›Mehr als das will ich nicht erreichen.‹

Es waren schlimme und gefahrvolle Zeiten. Man mußte damit rechnen, daß die Radikalen wieder ans Ruder kamen und das Land damit ›vor die Hunde‹ ging. Es war natürlich und menschlich, daß er den lieben Herrgott um den Sieg der sozialen Ordnung bat, die ihm vertraut war und an deren Rechtmäßigkeit er glaubte, der sozialen Ordnung, die auf ihn überkommen war und die den Namen ›Horace Pendyce‹ in sich schloß. Es war nicht seine Gewohnheit, neue Gedanken willkommen zu heißen. Ein neuer Gedanke, der in das Geistesgebiet des Squire eindringen wollte, begegnete dort sofort einem Aufstand der ganzen Bevölkerung und wurde entweder am Landen verhindert oder, wenn er sich schon auf festem Boden befand, sofort in Gefangenschaft gesetzt. Im Laufe der Zeit wurde dann das unglückliche Wesen, dessen Seufzen und Stöhnen die Gefängnismauern durchdrang, aus purer Menschlichkeit und aus Liebe zu Ruhe und Frieden wohl wieder in Freiheit gesetzt, und es wurden ihm sogar einige Vorrechte eingeräumt; immer aber blieb es ›dieser wunderliche, arme Teufel von einem Fremden.‹ Eines Tages in einem unbedachten Augenblick gestatteten ihm die Eingeborenen vielleicht die Ehe, oder sie entdeckten, daß er auf irgendeine schamlose Weise an der Geburt von Kindern Schuld trug, die das Gesetz nicht anerkannte; und ihre Achtung vor der vollendeten Tatsache, vor allem, was schon der Vergangenheit angehörte, hielt sie davon ab, die Ehe für ungültig zu erklären oder die Kinder aus der Welt zu schaffen, und ganz allmählich pflegten sie sich an diese Eindringlingsbrut zu gewöhnen. Das war der Vorgang, der sich in Mr. Pendyces Geiste vollzog. Ja, wie der Spaniel John, ein Hund mit konservativen Instinkten, so stellte der Gutsherr sich gewissermaßen beim Herannahen von irgend etwas Neuem diesem in den Weg und bellte und zeigte seine Zähne; und manchmal litt er förmlich unter der Vorstellung, daß Horace Pendyce eines Tages nicht mehr da sein würde, um zu bellen. Aber das geschah nicht oft, denn er besaß nicht viel Phantasie.

Den ganzen Morgen über hatte ihn jene alte, lästige Angelegenheit, das Gemeine Recht von Worsted Scotton, beschäftigt. Sein Vater hatte das Land eingefriedet und ihm erklärt, daß es ein für allemal als ein unveräußerlicher Teil von Worsted Skeynes zu betrachten sei. Die Sache schien damit erledigt; denn die Bauern, denen es zu jener Zeit infolge einer Brotteuerung recht elend ging, hatten den Dingen gleichgültig ihren Lauf gelassen. Nur noch ein Jahr hatte das Gesetz verlangt, damit der alte Gutsherr das Land als ersessenen Besitz betrachten durfte, als es jenem Menschen, Peacocks Vater, plötzlich eingefallen war, eine Bresche in die Umzäunung zu schlagen und Vieh hineinzutreiben, was die unglückselige Streitfrage von neuem aufgerollt hatte. Das war im Jahre 1865 gewesen, und seitdem gab es ständig Reibereien, die hart bis ans Prozessieren gingen.

Mr. Pendyce zweifelte keinen Augenblick daran, daß jener Peacock, und der allein, an allem schuld war; denn es lag in seiner Art, Grundsätze als Ursache des Handelns nicht gelten zu lassen, sondern er führte alles auf Tatsachen und Personen zurück; das galt aber natürlich nicht von seinen eigenen Handlungen; da erklärte er immer mit einem gewissen Stolz, daß sie auf Grundsätzen beruhen. Niemals gab er sich mit abstrakten Fragen ab, teils weil auch sein Vater vor ihm sie gemieden hatte, teils weil man ihm schon in der Schule den Mut dazu genommen hatte; hauptsächlich aber, weil er von Natur kein Interesse an unpraktischen Dingen nahm.

Es war daher eine Quelle dauernden Staunens für ihn, daß seine Pächter sich undankbar zeigen konnten. Er tat ihnen gegenüber seine Pflicht, wie der Pfarrer, ihr Seelenhirt, ihm jederzeit bestätigt haben würde. Seine Rechnungsbücher gaben davon Zeugnis, da sie einen durchschnittlichen jährlichen Bruttogewinn von mehr als sechzehnhundert Pfund feststellten, der sich durch Anschaffungen zur Instandhaltung von Worsted Skeynes auf einen Verlust von dreihundert Pfund verringerte.

Handelte es sich um weniger materielle Dinge, zum Beispiel Versäumnis des Kirchenbesuches, sträfliche Neigung zum Wildern, oder um irgendwelchen Hang zu lockerem Lebenswandel, so durfte wiederum der Pfarrer, das konnte Mr. Pendyce sich mit gutem Gewissen sagen, seiner Unterstützung sicher sein. Ein augenfälliges Beispiel hatte der vergangene Monat geliefert. Da hatte er bei der Entdeckung, daß sein Unterförster – ein tüchtiger Mensch in seinem Beruf – mit der Postmeistersfrau im Gerede war, dem jungen Burschen sofort gekündigt und den Pachtvertrag für sein Häuschen gelöst.

Mr. Pendyce erhob sich und trat vor den Gutsplan, der an der Wand hing, rollte ihn, indem er an einer grünseidenen Schnur zog, auf, und blieb, ihn aufmerksam studierend, davor stehen, mit dem Zeigefinger bald hier, bald dorthin deutend. Auch der Hund war aufgestanden und hatte es sich unmerklich auf seines Herrn Stiefel bequem gemacht. Mr. Pendyce machte eine Bewegung und trat dabei auf ihn. Der Hund heulte auf.

»Verd... Vieh! Ach, John, du armer Kerl!« sagte Mr. Pendyce. Er ging wieder zu seinem Stuhl. Da er aber vorhin nicht die richtige Stelle gefunden hatte, war er genötigt, nach einer Minute wieder zu der Karte zurückzukehren. Der Spaniel John, der die tröstliche Vermutung hegte, er habe nur erhalten, was er verdiente, kam schwanzwedelnd in einem Halbkreis näher. Er war noch kaum bis zum Fuß seines Herrn gelangt, als die Tür sich auftat und der Diener auf einer silbernen Platte einen Brief hereinbrachte.

Mr. Pendyce nahm ihn in Empfang, las die Nachricht, und trat an seinen Schreibtisch, indem er sagte:

»Keine Antwort nötig!«

Er saß da in dem stillen Zimmer und starrte auf das Schriftstück, und über sein Gesicht zogen nacheinander Zorn, Unruhe, Mißtrauen und Bestürzung. Er war nur imstande, etwas deutlich zu erfassen, wenn er es laut aussprach, und deshalb murmelte er jetzt vor sich hin. Der Spaniel John, der sich immer einbildete, daß er gesündigt habe, kam heran und schmiegte sich dicht an seines Herrn Bein.

Da Mr. Pendyce niemals gründlich nachgedacht hatte über die herrschende Moral seiner Zeit, war es ihm um so leichter geworden, sich mit ihr abzufinden. Sich gegen sie zu vergehen, dazu fehlte es ihm durchaus an Gelegenheit, und diese Tatsache gab seinem Standpunkt noch größere Festigkeit. Er war, weniger aus Grundsatz und Überzeugung, als aus Gewohnheit und Tradition ein Mensch von streng moralischem Sinn.

Und während er dasaß und jene Mitteilung wieder und wieder las, litt er unter einem Gefühl von Übelkeit. Der Brief lautete:

Haus »Die Föhren«, 20. Mai.

Geehrter Herr! Vielleicht ist Ihnen bekannt, vielleicht auch nicht, daß ich Ihren Sohn, Mr. George Pendyce, in der Ehescheidungsklage gegen meine Frau als Mitschuldigen genannt habe. Nicht um Ihret- noch um Ihres Sohnes willen, sondern um Mrs. Pendyces willen – sie ist die einzige Frau in der Gegend, die ich achte – bin ich bereit, die Klage zurückzuziehen, wenn Ihr Sohn sein Ehrenwort geben will, meine Frau nicht wiederzusehen.

Ihr ergebenster
Jaspar Bellew.

 

Das Festhalten an der Überlieferung – und an ihr festzuhalten, lag in der Natur des Gutsherrn – wird oft dadurch erschwert, daß sie sich allzu gewaltsame Eingriffe in die Ruhe und das Behagen der persönlichen Lebensführung erlaubt. Es war Herkommen in seinen Kreisen, die kleinen Eskapaden der jungen Leute mit einer gewissen Nachsicht zu beurteilen. Dafür wären sie eben junge Männer, pflegte er zu sagen. Sie müßten sich, so fügte er hinzu, die Hörner ablaufen. Das war seine Theorie. Die einzige Schwierigkeit lag für ihn jetzt darin, diese auf seinen besonderen Fall anzuwenden, eine Schwierigkeit, die andere vor ihm empfunden, und die andere nach ihm empfinden werden. Da er aber nicht philosophisch veranlagt war, bemerkte er den Zwiespalt zwischen seiner Theorie und seiner augenblicklichen Entrüstung nicht. Ihm schien sein Weltgebäude zu wanken angesichts jener Nachricht; und er war nicht der Mann, der allein geduldig litt; es schien ihm nur billig, daß auch andere leiden sollten.

Es war ungeheuerlich, daß ein Bursche wie dieser Bellew, ein Windhund, ein Säufer, ein Mensch, der ihn, Pendyce, beinahe überfahren hätte, es in seiner Macht haben sollte, den heiteren Frieden von Worsted Skeynes zu stören. Die Unverschämtheit, eine solche Anklage gegen seinen Sohn vorzubringen, sah ihm ähnlich. Diese verfl... Unverschämtheit sah ihm ähnlich! Und indem Mr. Pendyce hastig zur Klingel ging, trat er dem Hund aufs Ohr.

»Verd... Vieh! Oh, du armer John!« Aber der Spaniel John, nun endgültig überzeugt, daß er etwas verbrochen hatte, zog sich in den entferntesten Winkel zurück, von wo aus er nichts sehen konnte, und drückte seine Schnauze fest an den Fußboden.

»Bitten Sie die gnädige Frau zu mir!«

Während er, seine Gattin erwartend, am Kamin stand, kam des Hausherrn eigentümlich langer, schmaler Kopf mehr denn je zur Geltung; sein Nacken war auffallend rot geworden; seine Augen, die denen eines gereizten Schwanes glichen, durchbohrten gewissermaßen alles, worauf ihr Blick fiel.

Es geschah nicht selten, daß Mrs. Pendyce in sein Arbeitszimmer gerufen wurde, wo er sie mit den Worten empfing: ›Ich möchte deinen Rat hören. Der und der hat das und das getan ... Mein Entschluß ist gefaßt.‹

Sie kam denn auch nach einigen Minuten. »Sieh dir das an, Margery«, empfing er sie, und sie las die Mitteilung, blickte ihn mit Augen voller Kummer an, und er sah sie wieder an mit Zorn in den seinen. Denn hier drohte eine Tragödie.

Nicht jedem ist es gegeben, die Dinge aus einem weiten Gesichtskreis anzusehen – hinauszublicken über ferne, bleiche Wasser, purpurne Heiden und mondscheinhelle Teiche wilder Steppen, wo Schilfrohr sich schwarz abhebt vom Sonnenuntergang, wo von fern her der Ruf des Sumpfvogels tönt – und nicht jedem ist's gegeben, von steilen Riffen hinabzuschauen auf das dunkle, wogende Meer, oder von hohem Bergesrand in wallendes Chaos, das vor Nebeln raucht oder golden glänzt in der Sonne.

Den meisten ist's bestimmt, beharrlich eine Häuserreihe zu betrachten, einen Hof oder, wie das Ehepaar Pendyce, die grünen Felder, die sauberen Gehege und den Schottischen Garten von Worsted Skeynes. Und an diesem, ihrem Horizont dräute die Vorladung ihres ältesten Sohnes in der Ehescheidungssache wie ein dunkles, Vernichtung bergendes Gewölk.

Soweit man eine derartige Begebenheit erfassen konnte – die Einbildungskraft war auf Worsted Skeynes keine allzu lebhafte –, bedeutete es die Zerstörung eines harmonischen Gebäudes von Vorstellungen, Vorurteilen und Aussichten. Es wäre zwecklos gewesen, von dieser Begebenheit zu sagen: ›Was tut's? Laß die Leute denken, was sie mögen, reden, was sie wollen.‹ Auf Worsted Skeynes (und Worsted Skeynes bedeutete jedes Herrenhaus) gab es nur eine Gattung Menschen, nur eine Kirche, nur eine Meute Hunde, nur eine Art von allem. Die Bedeutung eines blanken Wappenschildes war eine zu große. Und die beiden, die seit vierunddreißig Jahren zusammen gelebt hatten, sahen einander an mit einem neuen Ausdruck in den Augen. Dies eine Mal waren ihre Empfindungen die gleichen. Aber da immer der Mann es ist, der das ausgeprägtere Ehrgefühl hat, so waren doch beider Gedanken nicht die gleichen; denn Mr. Pendyce dachte: ›Ich mag's nicht glauben! Schande über uns alle zu bringen!‹ und Mrs. Pendyce dachte: ›Mein armer Junge!‹

Sie war es, die zuerst das Wort fand.

»Ach, Horace!«

Der Klang ihrer Stimme gab dem Hausherrn sein Gleichgewicht wieder.

»Ich bitte dich, Margery! Willst du etwa sagen, du glaubst, was dieser Bursche da faselt? Ausgepeitscht sollte er werden! Er weiß, was ich von ihm halte. Das Ganze ist nichts als eine seiner verdammten Unverschämtheiten! Um ein Haar hätte er mich überfahren, und jetzt –«

Mrs. Pendyce unterbrach ihn:

»Aber, Horace, ich fürchte, es ist richtig! Ellen Malden –«

»Ellen Malden?« gab Mr. Pendyce zurück. »Was geht sie –« er verstummte und starrte finster auf die Karte von Worsted Skeynes hin, die noch aufgerollt dahing, wie ein Symbol alles dessen, was hier auf dem Spiele stand. »Wenn George wirklich« – brach es aus ihm hervor – »dann ist er ein größerer Narr, als ich für möglich gehalten habe! Ein Narr?– – –Ein Schurke ist er!«

Wieder verstummte er.

Der Gutsherrin war bei jedem Wort das Blut ins Gesicht gestiegen; sie biß sich auf die Lippen.

»George kann nie im Leben ein Schurke sein«, sagte sie.

»Schande über seinen Namen zu bringen«, entgegnete Mr. Pendyce mit schwacher Stimme.

Mrs. Pendyce biß sich noch tiefer in die Lippen.

»Was er auch immer getan haben mag«, sagte sie, »er hat sich ganz gewiß wie ein Gentleman benommen!«

Ein verbissenes Lächeln kräuselte die Lippen des Gutsherrn.

»Echt weiblich!« sagte er.

Aber sein Lächeln erstarb, und auf beiden Gesichtern erschien ein hilfloser Ausdruck. Sie empfanden jetzt, da etwas geschehen war, was sie beide gleich nahe anging, eine gewisse Überraschung – wie es bei Menschen vorkommt, die ohne ein wirkliches Gefühl der Zusammengehörigkeit miteinander gelebt, obgleich sie längst aufgehört haben, sich dessen bewußt zu sein. Es hatte keinen Zweck, zu streiten. Mit Meinungsverschiedenheiten, selbst stummer Meinungsverschiedenheit, war ihrem Sohn nicht geholfen.

»Ich werde an George schreiben«, sagte Mr. Pendyce endlich. »Ich glaube nichts, bis ich ihn nicht selbst gehört habe. Er wird uns die Wahrheit sagen, denke ich.«

Ein Beben war in seiner Stimme.

»Ach, Horace«, entgegnete Mrs. Pendyce hastig, »sei schonend in dem, was du ihm sagst; er leidet gewiß!«

Ihre sanfte Seele, die zum Frohsinn neigte, litt auch, und Tränen stahlen sich in ihre Augen. Mr. Pendyce war zu weitsichtig, um sie zu bemerken. Dieses Gebrechen hatte sich seit seiner Verheiratung immer mehr entwickelt.

»Ich werde sagen, was ich für richtig halte«, entgegnete er. »Ich will mir Zeit lassen, zu überlegen, was ich ihm zu schreiben habe. Ich lasse mir von diesem Raufbold keine Vorschriften machen!«

Mrs. Pendyce tupfte sich mit ihrem spitzenumsäumten Taschentuch über die Lippen.

»Du zeigst mir den Brief, ja?« meinte sie.

Der Gutsherr sah sie an und bemerkte, daß sie sehr blaß war und zitterte; obgleich ihn das reizte, entgegnete er beinahe freundlich:

»Das ist nichts für dich, meine Liebe!«

Mrs. Pendyce trat einen Schritt auf ihn zu; aus ihren sanften Zügen sprach eine eigentümliche Entschlossenheit.

»Es ist mein Sohn, Horace, so gut wie der deine.« Mr. Pendyce wandte sich mißmutig ab.

»Du brauchst dich wirklich nicht aufzuregen, Margery! Ich werde das Richtige tun. Ihr Frauen verliert gleich den Kopf. Dieser verd... Kerl lügt. Wenn nicht –«

Bei diesen Worten kam John, der Hund, aus seinem Winkel hervor und trottete bis in die Mitte des Zimmers. Da blieb er, zu einem Halbkreis gekrümmt, stehen und blickte fragend zu seinem Herrn auf.

»Hol's der Kuckuck!« sagte Mr. Pendyce. »Es ist – es ist niederträchtig.«

Als hätte er einzustehen für alles, was mit Worsted Skeynes zusammenhing, so sah der Spaniel John zu ihm auf und wedelte energisch mit dem, was man ihm von seinem Schweif übriggelassen hatte.

Mrs. Pendyce trat noch näher heran.

»Wenn George es ablehnt, dir das Versprechen zu geben, was dann, Horace?«

Mr. Pendyce sah sie verständnislos an.

»Versprechen? Was für ein Versprechen?«

Sie deutete auf den Brief.

»Das Versprechen, sie nicht wiederzusehen.«

Mr. Pendyce schob den Brief beiseite.

»Ich lasse mir von jenem Burschen keine Vorschriften machen«, erklärte er. Dann besann er sich aber. »Es wäre nicht richtig, ihm irgendeine Handhabe zu geben. George muß es ihm unbedingt versprechen.«

Mrs. Pendyce preßte die Lippen zusammen.

»Aber glaubst du denn, er tut es?«

»Glaubst? – Glaubst, daß wer? Glaubst, daß was? Kannst du dich nicht deutlich ausdrücken, Margery? Wenn George uns tatsächlich in diese Klemme gebracht hat, dann soll er uns auch wieder heraushelfen.«

Mrs. Pendyce wurde rot.

»Niemals würde er sie im Stiche lassen!«

Ärgerlich entgegnete der Gutsherr:

»Im Stiche lassen? Wer spricht von ›Im Stiche lassen‹? Im Gegenteil – er ist es ihr schuldig! Nicht, daß sie irgendwelche Rücksicht verdiente, wenn sie ... Du hältst es doch etwa nicht für denkbar, daß er sich weigert? So ein Esel kann er nicht sein!«

Mrs. Pendyce hob die Hände und machte eine Bewegung, die für ihr Wesen schon eine leidenschaftliche schien.

»Ach, Horace«, sagte sie, »du verstehst das nicht. Er liebt sie!«

Mr. Pendyces Unterlippe begann zu zittern – bei ihm immer ein Zeichen von Aufregung oder Rührung. Sein ganzes konservatives Empfinden, die gewaltige, stumme Macht des Glaubens an das Althergebrachte, all der verstockte Haß und Abscheu gegen Neuerungen, jene unberechenbare Phantasielosigkeit – das, was von Anbeginn Horace Pendyce zur moralischen Autorität seines Gutes gemacht hatte, empörte sich in seiner schwer geprüften Seele.

»Was in aller Welt hat das damit zu tun?« rief er aufgebracht. »Ihr Weiber! Ihr habt für nichts Verständnis! Romantisch seid ihr, töricht, ohne Moral. – Ich weiß wirklich nicht, was du dir denkst! Setz ihm um Himmels willen keine Flausen in den Kopf!«

Bei diesem Ausbruch bekam Mrs. Pendyces Gesicht etwas Starres; nur das Zucken ihrer Augenlider ließ erkennen, wie ihre Nerven vibrierten. Plötzlich preßte sie die Hände an die Ohren.

»Horace!« rief sie, »paß auf – ach, armer John!«

Der Gutsherr war hastig und mit voller Wucht seinem Hunde auf die Pfote getreten. Das Tier heulte jämmerlich auf: Mr. Pendyce kniete rasch nieder und nahm das verletzte Bein hoch.

»Verdammter Hund!« brummte er; und dann: »Ach, du armer Kerl, mein John!«

Und die beiden langen, schmalen Köpfe waren für einen Augenblick dicht nebeneinander.

 


 << zurück weiter >>