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Sechstes Kapitel

Der Hydepark

Jedes Jahr im Mai kommt ein Tag, an dem der Hydepark wie verhext ist. Ein kühler Wind bläst durch die Blätter, heiße Sonne glitzert auf dem Serpentine-Teich, auf jedem Zweig, jedem Grashalm. Die Vögel singen sich ihr kleines Herz aus dem Leibe, die Musikkapelle spielt ihre muntersten Stücklein, die weißen Wolken jagen sich am hohen, blauen Himmel. Weshalb, und wie dieser Tag sich von denen, die vor ihm kamen, und denen, die nach ihm kommen, unterscheidet, das läßt sich kaum sagen; es ist, als ob der Park sagte: ›Heute lebe ich, die Vergangenheit ist vergangen; nach der Zukunft frage ich nicht!‹

Und wen der Zufall an diesem Tage in den Park führt, der kann sich jenem Zauber nicht ganz entziehen. Die Schritte der Menschen werden elastischer, sie wippen mit den Röcken, schwenken ihre Stöcke, selbst ihre Augen leuchten lebhafter – diese Augen, sonst so trüb vom Anblick der Straßen. Wer ein Lieb hat, denkt daran; hie und da in der dahin wandelnden Menge hat einer es auch bei sich. Und der Park und alles Freundliche darin nickt den Glücklichen zu und lächelt.

An diesem Nachmittag war in Lady Maldens vornehmem Hause eine Sitzung gewesen. Die Stellung der Frau in den arbeitenden Klassen hatte auf der Tagesordnung gestanden. Eine hitzige Debatte hatte sich entwickelt; denn jemand war aufgestanden und hatte beweisen wollen, daß die Frau der arbeitenden Klasse überhaupt keinerlei Stellung einnehme.

Gregory Vigil und Mrs. Shortman hatten die Sitzung gemeinsam verlassen. Jetzt überschritten sie den Serpentine-Teich und nahmen ihren Weg quer über den Rasen.

»Mrs. Shortman«, begann Gregory, »meinen Sie nicht, wir sind alle ein wenig verrückt?«

Er trug den Hut in der Hand, und sein schönes, leicht ergrautes Haar, das er in der Erregung der Debatte etwas zerrauft hatte, lag noch nicht wieder ordentlich.

»Ja, Mr. Vigil. Wenn auch nicht gerade –«

»Wir sind alle ein bißchen verrückt! Was fiel dieser Frau, dieser Lady Malden eigentlich ein, solche Dinge zu sagen? Sie ist mir gräßlich!«

»Aber, Mr. Vigil, sie ist von den besten Absichten erfüllt.«

»Absichten«, wiederholte Vigil. »Ich pfeif' drauf. Was hatten wir's überhaupt nötig, uns in ihre dumpfige Salonluft zu begeben? Sehen Sie diesen Himmel an!«

Mrs. Shortman blickte zum Himmel auf.

»Aber, bedenken Sie, Mr. Vigil«, entgegnete sie ernst, »es würde doch sonst niemals etwas zustande kommen. Mitunter will mir scheinen, Sie sehen die Dinge oft nur durch Ihre Brille.«

»Durch die rosenrote, meinen Sie?« fragte Gregory.

Mrs. Shortman verzog den Mund; sie fand es unmöglich, sich an Gregorys Neigung zum Scherzen zu gewöhnen.

Ziemlich schweigsam legten sie den Rest ihres Weges nach dem Bureau zurück, wo Miß Mallow an der Schreibmaschine saß und einen Roman las.

»Da sind mehrere Briefe für Sie, Mr. Vigil!«

»Mrs. Shortman behauptet, ich sei unpraktisch«, gab Gregory zurück. »Ist das wahr, Miß Mallow?«

Das Rot in Miß Mallows Wangen verbreitete sich bis auf ihre abfallenden Schultern.

»O nein! Sie sind überaus praktisch – nur – vielleicht – ich denk' mir – Sie versuchen manchmal Unmögliches durchzuführen, Mr. Vigil!«

»Siehe Bilcock Buildings!«

Eine Minute lang herrschte Schweigen. Dann fing Mrs. Shortman von ihrem Schreibtisch aus zu diktieren an, und die Schreibmaschine klapperte.

Gregory, der einen der Briefe geöffnet hatte, saß da, den Kopf in die Hände gestützt. Die Stimme schwieg, die Schreibmaschine schwieg, aber Gregory regte sich nicht. Beide Frauen blickten, sich auf ihren Stühlen ein wenig umwendend, verstohlen zu ihm hinüber. Ihre Augen begegneten sich dabei, und hastig nahmen sie eine andere Richtung. Ein paar Sekunden später sahen sie wieder zu ihm hinüber. Immer noch rührte Gregory sich nicht. Eine stille Besorgnis stahl sich allmählich in die Augen der Frauen.

»Mr. Vigil«, begann Mrs. Shortman schließlich, »Mr. Vigil, meinen Sie nicht –«

Gregory hob das Gesicht; es war bis unter die Haarwurzeln gerötet.

»Lesen Sie das, Mrs. Shortman!«

Während er ihr einen mattgrauen Bogen reichte, der einen Adler und das Motto: ›Strenuus aureaque penna‹ trug, erhob er sich und begann im Zimmer auf und ab zu schreiten. Und indes er mit seinen langen, leichten Schritten einherging, überflog die Frau am Schreibpult aufmerksam den Brief, während das Mädchen still mit erregtem, neidvollem Ausdruck an der Maschine saß.

Mrs. Shortman faltete das Blatt zusammen, legte es oben auf das Schreibpult hin und sagte, ohne den Blick zu heben:

»Natürlich ist's sehr traurig für das arme, kleine Ding; aber, Mr. Vigil, das muß auch so sein; sonst gab' es ja kein Abschreckungsmittel für – für –«

Gregory blieb stehen, und seine leuchtenden Augen brachten sie aus der Fassung; sie schienen ihr so weltfremd.

Mit scharf erhobener Stimme fuhr sie fort:

»Wenn wir nicht die Furcht vor der Schande hätten, gäbe es ja nichts mehr, was die Mädchen zurückhielte. Ich kenne die Sitten auf dem Lande besser als Sie, Mr. Vigil.«

Gregory hielt sich die Ohren zu.

»Wir müssen sofort für ihr Unterkommen sorgen!«

Das Fenster war weit offen, so daß er es nicht mehr öffnen konnte, und er blickte hinaus, als suche er nach jenem Unterkommen am Himmel oben. Der Himmel, zu dem er hinaufblickte, war tiefblau, und große weiße Wolkenvögel zogen darüber hin.

Er wandte sich vom Fenster ab und öffnete einen zweiten Brief.

Lincoln's Inn Field, 24. Mai 1892

Mein lieber Vigil!

Gestern hatte ich eine Unterredung mit Ihrem Mündel, aus der ich entnahm, daß sie Ihnen etwas verschwiegen hat, was Sie wahrscheinlich sehr peinlich berühren wird. Ich fragte Ihren Schützling geradeheraus, ob sie die Angelegenheit Ihrer Kenntnis entziehen wolle, und da meinte sie: ›Er soll es lieber erfahren, aber er tut mir leid.‹ Es handelt sich kurz um das Folgende: Bellew hat entweder Wind davon bekommen, daß wir ihn beobachten, oder jemand muß es ihm gesteckt haben; er ist uns zuvorgekommen und hat die Ehescheidungsklage gegen Ihr Mündel eingereicht, in der er George Pendyce als Mitschuldigen bezeichnet. George hat mir die Vorladung gebracht. Nötigenfalls ist er bereit, zu beschwören, daß sie nichts miteinander hatten. Er stellt sich eben auf den üblichen Standpunkt des ›Ehrenmannes‹.

Ich habe sofort Ihr Mündel aufgesucht; sie gibt ohne weiteres zu, daß die Beschuldigung zutrifft. Ich fragte sie, ob sie gesonnen sei, sich gegen die Anklage zu verteidigen und eine Gegenklage einzureichen. Ihre Antwort war: es ist mir völlig gleichgültig. Weiter war aus ihr nichts herauszubringen und, so sonderbar es klingen mag, ich glaube, es war ihr Ernst damit. Sie scheint ganz unbesorgt zu sein und gegen ihren Gatten keinen besonderen Groll zu hegen.

Ich möchte Sie sprechen, aber erst, nachdem Sie diese Angelegenheit sorgfältig überdacht haben. Es ist meine Pflicht, Sie auf einige Erwägungen aufmerksam zu machen. Wenn es zu einer Verhandlung kommt, dürfte sie sehr peinlich für George werden, noch peinlicher, ja unheilvoll, für seine Angehörigen. Die Unschuldigen werden in solchen Fällen meist am schwersten getroffen. Sobald die Gegenklage eingereicht ist, wird es in Anbetracht der gesellschaftlichen Stellung der Beteiligten, sofort den Umfang einer cause célèbre annehmen. Es wird den Gerichtshof und die Tagespresse eine halbe bis eine Woche, wenn nicht länger, beschäftigen, und Sie wissen, was das heißt. Andererseits sich gegen die Anklage nicht verteidigen, widerspräche, nach allem, was uns in der Sache bekannt ist, abgesehen von ethischen Erwägungen, ganz und gar meinen Kampfinstinkten. Ich bin daher der Ansicht, daß wir alles versuchen müssen, um zu verhindern, daß die Angelegenheit überhaupt vor den Gerichtshof kommt.

Ich bin dreizehn Jahre älter als Sie; ich hege aufrichtige Hochachtung für Sie, mein lieber Vigil, und ich möchte Ihnen einen Schmerz ersparen. Im Laufe unserer Unterredungen habe ich Ihr Mündel sehr genau beobachtet, und auf die Gefahr hin, Ihnen wehe zu tun, will ich mich offen aussprechen. Mrs. Bellew ist eine recht merkwürdige Frau. Aus zwei oder drei Andeutungen, die Sie mir gegenüber gemacht haben, glaube ich entnehmen zu dürfen, daß sie nicht das ist, wofür Sie sie halten. Meiner Meinung nach gehört sie zu jenen lebensstarken Geschöpfen, an denen unser Urteil, unsere Ratschläge, ja selbst unsere Sympathien zuschanden werden. Eine derartige Frau, die aus einer Landadelsfamilie stammt und zufällig in die Gesellschaftskreise der großen Welt gerät, muß unbedingt eine gewisse Ausnahmestellung einnehmen. Wenn Sie sich das ein wenig klarmachen wollten, würde es Ihnen, wie ich glaube, viel Pein ersparen. Kurz gesagt, nehmen Sie, bitte, weder die Dame noch ihre Lage allzu ernst. Es gibt eine ganze Anzahl solcher Männer und Frauen, wie diese beiden sind, und sie werden stets mehr oder weniger in der Öffentlichkeit von sich reden machen. Wer immer auch zugrunde geht, sie schwimmt weiter, einfach, weil sie nicht anders kann. Ich möchte, daß Sie die Dinge sehen, wie sie sind.

Ich bitte Sie noch einmal, mein lieber Vigil, mir meinen Freimut nicht übel zu deuten und überzeugt zu sein, daß ich weiter nichts wünsche, als Ihnen unnützes Leiden zu ersparen. Suchen Sie mich auf, sobald Sie alles überdacht haben.

Ich bin

Ihr aufrichtig ergebener Freund
Edmund Paramor.

 

Gregory Vigil machte eine Bewegung wie ein Blinder. Beide Frauen sprangen sofort auf.

»Was ist Ihnen, Mr. Vigil? Kann ich Ihnen irgend etwas reichen?«

»Danke; nichts, nichts. Ziemlich unangenehme Nachrichten! Ich will ausgehen, ein wenig frische Luft schöpfen. Ich komme heute nicht mehr wieder.«

Er nahm seinen Hut und ging.

Er schlug die Richtung nach dem Hydepark ein; es zog ihn unbewußt hinaus ins Freie, dorthin, wo die Luft am frischesten war; die Hände hatte er auf dem Rücken gefaltet, den Kopf tief gebeugt. Und da die Natur gern ein ironisches Spiel treibt, fügte es sich, daß Gregory grade heute in den Park kam, wo er sich am heitersten ausnahm. Und tief drinnen legte er sich nieder ins Gras. Eine lange Zeit lag er da, ohne sich zu rühren, die Hände über den Augen, und trotz Paramors Ermahnungen, sich unnötiges Leiden zu ersparen, litt er.

Und am tiefsten litt er unter völliger Vereinsamung, denn er war ein sehr einsamer Mann; und jetzt hatte er auch noch das verloren, was er zu besitzen geglaubt. Es ist schwer, zu erklären, weshalb er litt, schwer zu sagen, wie sehr er litt; denn, da er sie liebte, hatte er im stillen geglaubt, sie müsse ihn ein klein wenig wiederlieben; und schwer zu sagen, wie sehr er darunter litt, daß ihr Bild, von ihm eigens für seinen Privatgebrauch entworfen, durch einen Messerschnitt entstellt war. Und er lag zuerst auf dem Gesicht und dann auf dem Rücken, immer die Hand über den Augen. Und um ihn herum lagen andere Männer im Gras, einige vereinsamt wie er, und einige hungrig, und einige schliefen, und andere lagen da aus Vergnügen am Nichtstun und ließen sich die heiße Sonne aufs Gesicht scheinen. Und einige hatten neben sich ihre Mädchen liegen; und eben diesen Anblick konnte Gregory nicht ertragen, denn seine Seele und seine Sinne hungerten. In den nahen Baumgruppen waren Tauben, und nicht einen Augenblick unterbrachen sie ihr Gurren; die Amseln hörten nicht auf mit ihrem Werbesang, die Sonne nicht mit ihrer wonnig milden Glut, die Wolken droben nicht mit ihrer Liebesjagd am Himmel. Es war ein Tag ohne ein Gestern, ohne ein Morgen, ein Tag, an dem es nicht gut ist für den Menschen, allein zu sein. Und kein Mann sah nach Gregory hin, denn keinen kümmerte sein Leid. Aber ab und zu ließ eine der Frauen ihren Blick auf der schlanken, einfach gekleideten Gestalt ruhen, die da lag, die Hand über den Augen, und sie fragten sich wohl, was jene Hand da verbergen mochte. Hätten sie es aber gewußt, sie würden ihr Frauenlächeln darüber gelächelt haben, daß er sich in einer ihres Geschlechtes so hatte irren können.

Gregory lag ganz still, zum Himmel aufblickend, und weil er ein getreuer Mann war, fand er keinen Tadel für sie, sondern langsam, ganz langsam, wie eine Sprungfeder, die bis zum Zerreißen gespannt war, kam seine Seele zu sich selbst zurück; und da er es nicht ertragen konnte, die Dinge so zu sehen, wie sie waren, begann er wieder, sie zu sehen, wie sie nicht waren.

›Sie ist in diese Sache hineingetrieben worden‹, dachte er, George Pendyce trägt die Schuld daran; für mich ist sie dieselbe, muß sie dieselbe bleiben.

Wieder warf er sich herum aufs Gesicht. Und ein kleiner Hund, der seinen Herrn verloren hatte, schnupperte an seinen Stiefeln und ließ sich in seiner Nähe nieder, um zu warten, bis Gregory etwas für ihn tun könnte; denn er witterte, daß er der rechte Mann dazu war.

 


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