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Zwölftes Kapitel

Der Gutsherr faßt einen Entschluß

Am selben Abend um neun Uhr empfand Mr. Barter, der beim letzten Glas einer halben Portwein saß, das unwiderstehliche Verlangen nach Zerstreuung; es trieb ihn zu seinen Mitmenschen und einer Aussprache mit ihnen.

Er nahm seinen Hut, knöpfte seinen Rock zu – denn obgleich der Juniabend schön war, wehte eine kühle, östliche Brise – und schlug den Weg nach dem Dorfe ein.

Wie ein Sinnbild jenes Pfades zum Herrn, von dem er an Sonntagen predigte, so zog sich die graue Landstraße zwischen sauberen Hecken entlang, beschattet von den Ulmen, in denen die Krähen längst schlafen gegangen waren. Ein Geruch von Holzrauch hing in der Luft; die Hütten kamen in Sicht, die Schmiede, die kleinen Läden des Dorfes. Die Lichter vor den Häusern und hinter den Fenstern wurden deutlicher; ein leiser Wind, bei dem sich die Kastanienblätter kaum regten, zog mit schwachem Rascheln durch die Espen. Häuser und Bäume, Häuser und Bäume! Zufluchtstätten der Vergangenheit und künftiger Tage!

Der Pfarrer blieb bei dem ersten Menschen, der ihm begegnete, stehen.

»Schönes Wetter für die Heuernte, was, Aiken? Wie geht's Ihrer Frau – wieder ein Mädchen? Ahaha! Sie brauchen Jungen! Von unserem Ereignis im Pfarrhaus haben Sie gehört? Gott Lob –«

Von Person zu Person, von Hütte zu Hütte stillte er seinen Hunger nach menschlicher Gemeinschaft, nach dem verlorenen Bewußtsein seiner Würde, das die peinliche Erinnerung an sein Leiden wieder auslöschen sollte. Und über ihm die Kastanien in ihrem atmenden Schweigen, die Espen mit ihrem leisen Rauschen schienen alles zu sehen und zu flüstern: ›Oh, ihr kleinen Menschen! Ihr kleinen Menschen!‹

Der Mond, am Ende seines ersten Viertels, kam aus dem Schatten des Kirchhofes hervorgesegelt – es war derselbe junge Mond, der in seiner silbernen, spöttischen Ruhe herausgekommen war, als der erste Barter gepredigt hatte, der erste Pendyce Gutsherr auf Worsted Skeynes gewesen war. Derselbe junge Mond, der wieder da sein würde, wenn der letzte Barter den ewigen Schlaf schliefe, der letzte Pendyce dahinging, und der über ihre Grabsteine durch die amethystne Luft sein sanftes Licht ergießen würde.

Der Pfarrer sagte zu sich: »Stedman soll in dieser Ecke hier Ordnung machen. Wir brauchen Platz. Die Steine da sind mindestens hundertfünfzig Jahre alt – kein Buchstabe mehr zu erkennen. Die sollen zuerst verschwinden.«

Er ging den Fußweg entlang, der zum Gutshaus führte.

Das Tageslicht war entschwunden, und nur die Mondstrahlen beleuchteten die hohen Gräser.

Die großen Glastüren des Speisezimmers standen offen; der Gutsherr saß allein drinnen und brütete trübselig über den Resten der Frucht, die er eben verzehrt hatte. Von den Wänden rings umher blickte eine schweigsame Gesellschaft herab, die Konterfeis verstorbener Pendyces; und am anderen Ende, über dem Eichenholz und dem Silber der Anrichte sah das Bildnis seiner Frau herüber, mit den in leiser Verwunderung hochgezogenen Brauen.

Mr. Pendyce blickte auf.

»Ah, Sie sind es, Barter? Wie geht's Ihrer Frau?«

»So gut, wie man es nur wünschen kann.«

»Freut mich zu hören! Eine gute Konstitution – wundervolle Lebenskraft. Portwein oder leichten Roten?«

»Danke; dann bitte um ein Glas Portwein!«

»War eine schwere Probe für Ihre Nerven. Ich weiß, was das heißt. Wir sind anders als die vorige Generation. Für die war das gar nichts. Als mein Bruder Charles zur Welt kam, da war mein guter, alter Vater den ganzen Tag draußen auf der Jagd. Als meine Frau den George bekam, da nahm es mich ordentlich her.«

Der Gutsherr hielt inne, dann fügte er hastig hinzu: »Aber Sie sind ja dran gewöhnt.«

Mr. Barter runzelte die Stirn.

»Ich kam heute durch Coldingham«, sagte er. »Ich sprach Winlow. Er erkundigte sich nach Ihnen.«

»Aha! Winlow! Seine Frau ist eine scharmante Dame. Sie haben nur das eine Kind, nicht wahr?«

Der Pfarrer lenkte ab. »Winlow erzählt mir«, begann er unvermittelt, »daß George sein Pferd verkauft hat.«

Die Züge des Gutsherrn veränderten sich; er sah Mr. Barter argwöhnisch an, aber der Pfarrer blickte in sein Glas.

»Sein Pferd verkauft? Was soll das heißen? Er hat Ihnen auch den Grund gesagt, nehme ich an?«

Der Pfarrer trank seinen Wein aus.

»Ich frage nie nach Gründen«, sagte er, »wo es sich um Sportsleute handelt. Ich bin der Überzeugung, sie wissen nicht besser, was sie tun, als manches stumme Tier.«

»Ah! Sportsleute!« sagte Mr. Pendyce. »Aber George wettet doch nicht!«

Ein Schimmer von Spott leuchtete in des Pfarrers Augen auf. Er preßte die Lippen aufeinander.

Der Gutsherr stand auf. »Na, also, Barter!« sagte er dringlich.

Der Pfarrer wurde rot. Er haßte Klatsch – das heißt natürlich, wenn es sich um einen Mann handelte – bei einer Frau lag die Sache anders – und ebenso wie er sich in acht genommen hatte, um George nicht zu verraten, als er bei Bellew gewesen war, so schien er jetzt noch mehr auf seiner Hut.

»Nein, nein, Pendyce.«

Der Gutsherr begann im Zimmer auf und ab zu gehen, und Mr. Barter fühlte, daß etwas seinen Fuß streifte; der Spaniel John stand plötzlich im Mondschein da wie ein Wahrzeichen alles dessen, was dem Gutsherrn Untertan war, und blickte mit wehmütigen Augen zu seinem Herrn auf. ›Da ist wieder etwas geschehen‹, schienen sie zu sagen, ›was mich aus meiner Ruhe aufscheucht.‹

Der Gutsherr unterbrach das Schweigen.

»Ich habe mich immer auf Sie verlassen, Barter. Ich verlasse mich auf Sie ebenso wie auf meinen eigenen Bruder. Also sagen Sie mir jetzt, was ist's mit dem George?«

›Schließlich ist's doch sein Vater‹, sagte sich Barter. »Ich weiß nichts anderes, als was man so erzählt«, begann er dann hastig; »man erzählt, er hätte eine Masse Geld verloren. Ich glaub' ja, es ist alles Unsinn. Ich lege nie großen Wert auf Gerede. Und wenn er sein Pferd wirklich verkauft hat, na, um so besser, dann wird er nicht wieder in die Versuchung kommen, zu wetten.«

Aber Horace gab keine Antwort. Ein einziger Gedanke stand vor seinem verwirrten, erzürnten Gemüt:

›Mein Sohn ein Spieler! Worsted Skeynes soll in die Hände eines Spielers geraten!‹

Der Pfarrer stand auf. »Es ist alles Geschwätz. Sie sollten ihm keine Beachtung schenken. Ich kann mir kaum denken, daß er solch ein Tor gewesen ist. Aber jetzt muß ich zu meiner Frau zurück. Guten Abend.«

Und ein wenig verlegen nickend, ging Mr. Barter durch die Glastür hinaus, zu der er hereingekommen war.

Der Gutsherr stand regungslos.

Ein Spieler!

Für ihn, dessen Dasein mit Worsted Skeynes unlöslich verknüpft war, dessen Gedanken sich stets direkt oder indirekt mit dem Gute befaßten; dessen Sohn nur seinen Platz nach seinem Abgang einnehmen sollte, dessen Religion der Ahnenkult war, dem vor jeder Veränderung graute – für ihn konnte es kein schrecklicheres Wort geben. Ein Spieler!

Der Gedanke kam ihm nicht, daß sein eigenes System in gewissem Sinne Schuld trug an Georges Lebensweise. Er hatte zwar Mr. Paramor erklärt: ›Ich habe niemals ein System gehabt; ich bin kein Anhänger von Systemen.‹ Er hatte George einfach als Gentleman erzogen. Er hätte gern gesehen, wenn er in die Armee eingetreten wäre, aber George hatte ihn enttäuscht; es wäre ihm lieb gewesen, wenn George sich für die Bewirtschaftung des Gutes interessiert, geheiratet und einen Sohn gehabt hätte, anstatt sein Dasein müßig in der Stadt zu vergeuden; aber auch da hatte George ihn enttäuscht. Und nachdem er Georges Wunsch, der Yeomanry beizutreten, gefördert und dessen Aufnahme in den Stoiker-Klub veranlaßt hatte, was hätte er sonst noch tun können, um ihn von Irrwegen abzuhalten? Und jetzt war er ein Spieler!

Einmal ein Spieler, immer ein Spieler!

Und zu dem Antlitz des Weibes gewandt, das von der Wand herabsah, sagte er:

»Das hat er von dir!«

Aber statt aller Antwort blickte das Gesicht ihn mit leisem Lächeln an.

Sich hastig abwendend, verließ er das Zimmer; und der Spaniel John, der das nicht vorausgesehen hatte, stand verdutzt vor der Tür, die ihm vor der Nase zugefallen war, und schnupperte nach jemandem, der sie wieder öffnen sollte.

Mr. Pendyce suchte sein Arbeitszimmer auf, nahm einige Papiere aus einem verschlossenen Schubfach und saß lange Zeit da, indem er sie aufmerksam betrachtete. Eines enthielt die Niederschrift seines Letzten Willens, ein zweites die Aufzählung der zu Worsted Skeynes gehörigen Pachthöfe, ihres Flächeninhaltes und des Pachtzinses, den sie trugen; ein drittes war die Reinschrift der Bestimmungen für die Übergabe des Besitzes an seinen Nachfolger, die bei Georges Volljährigkeitserklärung neu formuliert worden waren. Und dieses Schriftstück, das ihm jetzt wie bitterster Spott schien, betrachtete er am längsten. Er las es nicht, aber er dachte:

›Und ich darf es nicht ändern! Paramor behauptet das! – Ein Spieler.‹

Jene Beschränktheit, die allen Menschen in dieser wunderlichen Welt gemeinsam ist, und die sich in dem Gutsherrn verstärkt äußerte, schien bei ihm eher ein Vorgang, als eine Eigenschaft; er unterlag einem instinktiven Angstgefühl allem gegenüber, was ihm selbst fremd war; eine instinktive Furcht beherrschte ihn, mit den Ansichten eines anderen rechnen zu müssen, ein instinktiver Glaube an das Althergebrachte. Und beides stand in engstem Zusammenhang mit seiner am tiefsten wurzelnden seelischen Eigenschaft: nämlich der Fähigkeit, einen Entschluß zu fassen. Jene Entschlüsse mochten beschränkt und töricht sein, Veranlassung zu unnötigen Leiden bieten, keinerlei Beziehung zur Moral oder Vernunft haben; aber er war imstande, sie zu fassen, und imstande, ihnen treu zu bleiben. Vermöge dieser Fähigkeit war er da, wo er war, wo er seit Jahrhunderten gewesen und in künftigen Jahrhunderten zu sein hoffte. Sie lag ihm im Blut. Durch sie allein konnte er den zerstörenden Kräften Trotz bieten, die die Zeit gegen ihn und seinesgleichen, gegen sein angestammtes Erbe ins Feld führte; durch sie allein war es ihm möglich, jenes Erbe weiter an seinen Sohn auszuliefern. Und dieses Dokument, durch das er es auslieferte, betrachtete er mit ärgerlichen, unzufriedenen Blicken.

Menschen, die große Entschlüsse fassen, führen sie nicht immer mit jener Leichtigkeit und Zurückhaltung durch, die ihnen selbst wünschenswert erscheint. Mr. Pendyce ging in sein Schlafzimmer mit dem Vorsatz, kein Wort von dem zu sagen, was er zu tun entschlossen war. Er fand seine Frau schlafend. Sie wachte bei seinem Eintritt auf, blieb aber ohne sich zu regen, mit geschlossenen Augen liegen; und eben der Anblick dieser Regungslosigkeit in einem Augenblick, da er selbst aufgeregt war, entlockte ihm die Worte:

»Wußtest du, daß George ein Spieler ist?«

Beim Schein der Kerze in dem silbernen Leuchter erschienen ihre dunklen Augen plötzlich lebendig.

»Er hat gewettet; er hat sein Pferd verkauft. Er hätte es nie verkauft, wenn er nicht dazu gezwungen gewesen wäre. Nun kommt sein Name vielleicht bei den Buchmachern auf die schwarze Liste.«

Die Bettdecke zuckte, als krampfte sich der Körper zusammen, der darunter lag. Dann klang ihre kühle, sanfte Stimme: »Alle jungen Leute wetten, Horace. Das solltest du wissen.«

Der Gutsherr hob am Ende des Bettes die Kerze in die Höhe. In seiner Bewegung lag etwas Drohendes.

›Du verteidigst ihn‹, schien sie zu sagen. ›Du trotzest mir?‹

Den Bettpfosten umklammernd, rief er:

»Ich will keinen Spieler und Taugenichts als Sohn! Ich will das Gut nicht in Gefahr bringen.«

Mrs. Pendyce richtete sich auf und starrte sekundenlang auf ihren Gatten. Das Herz schlug ihr zum Zerspringen. Nun war es da! Was sie während dieser ganzen Tage gefürchtet hatte, war nun da. Ihre blassen Lippen erwiderten: »Was meinst du? Ich verstehe dich nicht, Horace.«

Mr. Pendyces Augen gingen suchend umher – wonach, das wußte er selbst nicht.

»Ich bin nun fest entschlossen«, begann er. »Ich liebe keine halben Maßregeln. Bis er mir nicht zeigen kann, daß er mit jener Frau gebrochen hat, bis er mir nicht beweisen kann, daß er sein Wetten aufgegeben hat, bis – bis der Himmel nicht einstürzt, will ich nichts mehr mit ihm zu tun haben!«

Für Margery Pendyce, in der alles bebte, war jenes Wort, ›bis der Himmel nicht einstürzt‹ furchtbarer als alles übrige. Auf den Lippen ihres Gatten, jenen Lippen, die nie in Gleichnissen gesprochen, nie vom Einfachsten, Alltäglichen abgewichen waren, hatten solche Worte einen bösen, unheilvollen Klang. Er fuhr fort:

»Ich hab' ihn erzogen, wie ich selbst erzogen worden bin. Ich hab' mir nie träumen lassen, daß mein Sohn ein Taugenichts werden wird!«

Mrs. Pendyces Herz hörte auf zu beben.

»Horace, du wagst es –!« rief sie.

Der Gutsherr ließ den Bettpfosten los und schritt im Zimmer hin und her. In der tiefen Stille hatte das Geräusch seiner Tritte etwas eigentümlich Wildes.

»Ich bin fest entschlossen«, sagte er, »das Gut –«

Da brach aus Mrs. Pendyce ein Strom von Worten hervor:

»Du sprichst von der Art, wie du George erzogen hast! Du – du hast ihn nie verstanden! Du – du hast nie etwas für ihn getan! Er ist eben aufgewachsen, wie alle aufwachsen in diesem –« aber sie vollendete nicht; denn sie wußte selbst nicht, was es war, gegen das ihre Seele blindlings mit den Flügeln geschlagen hatte. »Du hast ihn nie so liebgehabt wie ich! Was kümmert mich das Gut? Ich wünschte, es wäre verkauft. Glaubst du, ich lebe gern hier? Glaubst du, ich hätte es je gern gemocht? Glaubst du, ich hätte –« aber sie sprach das Wort nicht aus: ›Glaubst du, ich hätte dich je geliebt?‹ – »Mein Sohn ein Taugenichts! Ich hab' dich hundertmal lachend und kopfschüttelnd sagen gehört: ›Junge Leute müssen sich austoben.‹ Glaubst du, ich wüßte nicht, wie ihr's alle treiben würdet, wenn ihr den Mut dazu hättet? Glaubst du, ich wüßte nicht, worüber ihr euch untereinander unterhaltet? Und was das Spielen anbelangt, du würdest auch spielen, wenn du nicht Furcht hättest! Und jetzt, wo George Hilfe braucht –«

Ebenso plötzlich, wie der Strom ihrer Worte hervorgestürzt war, versiegte er.

Mr. Pendyce war an das Fußende des Bettes getreten und faßte wieder nach dem Pfosten, auf dem die Kerze mit ihrem ruhigen, hellen Schein den beiden ins Gesicht schien; und jedem von ihnen war, als sähe er ein fremdes Gesicht. In dem hageren braunen Hals des Gutsherrn, der zwischen den auseinanderstehenden Ecken des steifen Kragens hervorsah, arbeitete es heftig. Er stammelte:

»Du – du sprichst wie eine Wahnsinnige. Mein Vater hätte mich enterbt, und sein Vater hätte ihn enterbt! Bei Gott, glaubst du, ich werde ruhig dabeistehen und zusehen, wie alles vergeudet wird? Zusehen, wie jene Frau hier haust, und ihr Sohn, ein Bastard, oder ebensoschlimm wie ein Bastard – einmal meinen Platz einnimmt? Du kennst mich nicht!«

Die letzten Worte kamen durch seine Zähne wie das Knurren eines Hundes.

Mrs. Pendyce duckte sich zusammen wie jemand, der sich zum Sprung bereitmacht.

»Wenn du ihn aufgibst, gehe ich zu ihm und komme nie mehr zurück.«

Des Gutsherrn Hände lösten sich vom Bettpfosten; im Licht der Kerze, die hell und still und stetig brannte, sah man förmlich, wie seine Wangen einfielen. Er biß die Zähne aufeinander und sagte, sich hastig abwendend:

»Rede kein dummes Zeug!«

Dann nahm er die Kerze und ging ins Ankleidezimmer. Zuerst waren seine Empfindungen klar genug. Er hatte nur jenes wehe Gefühl, jenes Bewußtsein einer tiefen Kränkung wie durch irgendeine gröbliche, unerhörte Taktlosigkeit.

›Welche Verrücktheit plötzlich in eine Frau fahren kann‹, dachte er. ›Es geschähe ihr recht, wenn ich hier drinnen übernachten würde!‹

Er blicke um sich. Es war nirgends ein Plätzchen für ihn zum Niederlegen da, nicht einmal ein Sofa. Und die Kerze wieder aufnehmend, ging er zur Tür. Aber ein Gefühl der Unentschlossenheit und der Vereinsamung, das plötzlich in ihm, er wußte nicht woher, aufstieg, ließ ihn vor dem Fenster zögernd haltmachen.

Der zunehmende Mond, der langsam heraufstieg, warf sein Licht auf Mr. Pendyces unbewegliche, hagere Gestalt – und eigentümlich grau erschien er in diesem Licht, grau von Kopf bis Fuß, grau und traurig und alt, gleichsam der Inbegriff all der Gutsherren, die nacheinander auf dieses Landschaftsbild hinausgeblickt hatten, das bis an die Grenze ihres Besitzes vom jungen Mondlicht überflutet war. Draußen in der Pferdehürde sah er seinen alten Jagdfuchs Bob, der seinen Kopf dem Hause zuwandte; und er seufzte aus tiefstem Herzen.

Als Antwort auf diesen Seufzer ließ sich ein Geräusch vernehmen, als ob irgend etwas draußen gegen die Tür stieße. Er öffnete sie, um zu sehen, was es sein mochte. Der Spaniel John, der auf einem blauleinenen Kissen lag, den Kopf gegen die Wand gedrückt, blickte ihn aus verschlafenen Augen an.

›Ich bin es, Herr‹, schien er zu sagen, ›es ist spät. Ich war im Begriff einzuschlafen; aber es hat mir wohlgetan, dich noch zu sehen‹; und indem er seine Augen vor dem Licht hinter einem seiner langen, schwarzen Ohren barg, ließ er einen schnarchenden Laut hören. Mr. Pendyce schloß die Tür hinter sich. Er hatte die Existenz seines Hundes vergessen gehabt. Aber, als ob er mit dem Anblick dieses treuen Geschöpfes den Glauben an alles wiedergewonnen hätte, woran er gewöhnt, an alles, dessen Herr er war, an alles, das – er selbst war – öffnete er die Schlafzimmertür und suchte den gewohnten Platz neben seiner Frau auf.

Und bald war er eingeschlafen.

 


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