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Dritter Teil

Erstes Kapitel

Mrs. Pendyces Odyssee

Aber Mrs. Pendyce schlief nicht. Ihrem Gatten drückte jenes Linderungsmittel des langen, auf seinen Feldern und Wiesen verbrachten Tages die Augenlider zu – für ihre Augen gab es kein solches Mittel; und sie offenbarten im Dunkel, was tief und verborgen, heilig, in ihrem Innersten war. Wer diese Augen in dieser Nacht gesehen hätte! Aber wenn das Dunkel hell gewesen wäre, dann würde nichts von all dem Tiefen und Heiligen zu sehen gewesen sein, denn tiefer und heiliger noch war in Margery Pendyce der Instinkt einer Edelfrau. So schmiegsam und zart, so durchsetzt von Rücksicht auf andere, von Rücksicht auf die eigene Persönlichkeit, so alt, so uralt war dieser Instinkt, daß er sie verhüllte vor den Augen der Menschen wie ein Panzergewand aus feinsten Schuppen. Und es muß schon eine schwarze Nacht gewesen sein, da sie ihn ablegte und ohne ihn dalag im Dunkel.

Mit dem ersten Lichtschimmer tat sie ihn wieder an, und nachdem sie leise das Bett verlassen, ging sie, um lange und unbemerkt ihre armen Augen zu baden, die so brannten, als wären sie die ganze Nacht über im Feuer gewesen. Dann trat sie ans offene Fenster und lehnte sich hinaus. Die Dämmerung war gewichen; die Vögel waren bei ihrem Morgenkonzert. Drunten im Garten an ihren Blumen hing grauer Tau, und auch die Bäume waren grau von zarten Schleiern umwoben; undeutlich und gespenstisch, die Nase auf dem Hürdenzaun, so stand der alte Jagdfuchs schlafend im Sommernebel.

Und alles, was ihr da draußen wie ein Gefängnis erschienen, und alles, was ihr lieb und teuer geworden war, stahl sich zu ihr empor, auf dem Atem des windstillen Morgens, umfächelte ihr Gesicht und flatterte an dem weißen Linnen über ihrer Brust wie die Flügel dahinziehender Vögel.

Der erste Morgengesang verhallte, und in die Stille hinein lächelte die Sonne mit goldnem Spott, und alles war von Farbenglanz übergossen. Ein schwacher Schimmer davon fiel in Mrs. Pendyces Gemüt, das so viele Stunden lang grau und schwer gewesen war in einsamer Entschlossenheit. Denn ihrer sanften Seele, der Handeln ungewohnt und jede Gewalttat schrecklich war, deren Kraft ihr, ein Geschenk der Jahrhunderte, fast ihrer eigensten Natur zum Trotz, gegeben war – ihrer sanften Seele war der Entschluß, den sie gefaßt hatte, unendlich peinvoll. Aber so peinvoll, ja furchtbar er war mit seiner Forderung einer Tat, er wankte nicht, sondern leuchtete hell wie ein Stern hinter den dunklen, schweren Wolken. Margery Pendyce, die eine Totteridge gewesen, hatte keinen boshaften, gehässigen Tropfen ›Proletenblutes‹ in sich, kein wildes Rachegefühl. Nicht schlechtverdautes Bier und Cider – reiner Rotwein war in ihren Adern – nichts Herbes und Böses war in ihrer Seele, das ihren Entschluß beeinflußte. Was sie zu tun beschlossen hatte, mußte sie ausführen; ein dünnes, zartes Flämmchen, das tief in ihrem Innern brannte, leuchtete ihr dabei – ein Flämmchen so tief in ihr, daß nichts es auszulöschen vermochte, so tief, daß es wenig Wärme gab.

In ihr war nicht die Empfindung, ›ich lasse mich nicht unterdrücken,‹ sondern, ›ich darf mich nicht unterdrücken lassen, denn wenn ich mich unterdrücken lasse, dann gehe ich, geht etwas in mir darüber zugrunde, das mehr ist als ich und wertvoller als mein Selbst‹. Sie ahnte nicht, daß dieses Etwas die Kultur ihres Landes bedeutete, seine eigenste Seele und ihre vornehmsten Eigenschaften: Güte und inneres Gleichgewicht. Ihr Wesen, von jener so wenig niedrigen Art, daß es sich niemals zu kleinlichem Streit hergegeben, nie aus einer Mücke einen Elefanten gemacht, oder Tatsachen falsch dargestellt hätte, war unbewußt an jene Stelle gelangt, auf der es kein Schwanken, kein Zurück mehr gab. Sie hatte die Konsequenzen gezogen, die über die Mutterliebe hinaus zu jener Selbstliebe führen, die da sagt: ›Handle so, oder du verscherzest das Heil deiner Seele!‹

Und jetzt, als sie sich wieder in ihr Bett stahl, betrachtete sie den schlafenden Gatten, den zu verlassen sie entschlossen war, betrachtete ihn ohne Ärger, ohne Vorwurf, sondern eher mit einem langen, gleichmütigen Blick, der sogar ihr nichts Neues offenbarte.

Als dann der Morgen hereinbrach und es Zeit zum Aufstehen war, verriet sie weder durch ihr Tun, noch durch Blicke oder Zeichen, daß in ihrer Seele etwas Ungewöhnliches vorging. Wenn das, was vor ihr lag, geschehen mußte, so sollte es durchgeführt werden, als ob es unwichtig sei, als ob es zu ihren Tagespflichten gehörte; aber ebensowenig zwang sie sich zur Ruhe oder war stolz auf ihren Entschluß, sondern sie handelte aus Instinkt, aus dem Instinkt, der mit ihr groß geworden war, Unannehmlichkeiten, wenn irgend möglich, aus dem Wege zu gehen.

Mr. Pendyce verließ um halb elf das Haus, begleitet von seinem Amtmann und dem Spaniel John. Er dachte nicht im mindesten daran, daß seine Frau die Worte, die sie gestern abend gesprochen, ernst gemeint haben konnte. Er hatte ihr noch während des Ankleidens wiederholt, daß er mit George nichts mehr zu tun haben, daß er ihn enterben wolle, daß er ihn einfach zwingen würde, zu Kreuze zu kriechen, daß er, kurz gesagt, gesonnen sei, sein Wort zu halten. Daß eine Frau, noch dazu seine Frau, gesonnen sei, das ihre zu halten, das hätte er sich nicht vorstellen können.

Mrs. Pendyce verbrachte die frühen Morgenstunden in der üblichen Weise. Eine halbe Stunde nachdem der Gutsherr ausgegangen war, bestellte sie den Wagen, ließ zwei kleine Koffer, die sie selbst gepackt hatte, herunterbringen und stieg mit ihrer kleinen grünen Handtasche ein. Ihrer Zofe, dem Butler Bester und dem Kutscher Briston sagte sie, daß sie in die Stadt zu Mr. George fahre. Nora und Bé waren bei den Tharps. So war niemand da, von dem sie Abschied zu nehmen hatte, als der alte Roy, der Skyeterrier, und damit das Abschiednehmen ihr nicht allzu schwer fiel, sollte er mit zum Bahnhof. Für ihren Gatten hinterließ sie eine kurze Benachrichtigung, die sie an einen Platz legte, wo er, aber sonst niemand, sie sofort finden mußte.

 

Lieber Horace!

Ich bin nach London gefahren, um bei George zu bleiben. Meine Adresse ist Greens Hotel, Bond Street. Du wirst Dich dessen erinnern, was ich vorige Nacht gesagt habe. Vielleicht hast Du nicht recht gemerkt, daß es mir Ernst damit war. Sorg für den armen, alten Roy; man soll ihm nicht zu viel Fleisch geben bei, dem heißen Wetter. Jackman weiß besser als Ellis mit den Rosen umzugehen. Es wäre mir lieb, zu erfahren, wie die arme Rose Barter sich erholt. Bitte, sorg Dich nicht um mich. Ich werde, wenn es nötig sein sollte, an Gerald schreiben; aber augenblicklich fühle ich mich nicht in der Stimmung, ihm oder den Mädchen zu schreiben.

Lebe wohl, lieber Horace; es tut mir leid, wenn ich Dir Kummer bereite.

Deine
Margery Pendyce.

 

Ebenso wie in der Art, in der sie ihren Plan durchführte, nichts Gewaltsames lag, so wenig faßte sie ihn als einen Gewaltakt auf. Für sie bedeutete er kein Auf- und Davongehen, kein Trotzen gegen ihren Gatten; da gab es kein Verheimlichen ihres Aufenthaltes, kein melodramatisches ›Ich kann zu dir nicht zurückkehren‹. Derlei Maßnahmen wären ihr lächerlich erschienen. Allerdings ließ sie Einzelheiten, wie beispielsweise die finanziellen Folgen ihres Schrittes, außer acht, aber selbst darin zeigte sich ihr Scharfblick oder richtiger der Mangel ihres Scharfblickes als der wirklich richtige und weite.

Horace würde sie nicht darben lassen: das war undenkbar. Außerdem hatte sie die dreihundert Pfund jährlich an eigenem Gelde. Sie hatte freilich keine Idee, wieviel das war, und wie weit sie damit kommen könnte, noch machte sie sich viel Gedanken darüber; denn sie dachte bei sich: ›Ich könnte auch in einer Hütte ganz glücklich sein mit Roy und meinen Blumen.‹ Und wenn sie auch nicht die mindeste Erfahrung besaß, nach der sie urteilen konnte, so mochte sie doch recht haben. Dinge, die andere nur durch Geld erlangen konnten, kamen zu einer Totteridge ganz wie von selbst, und selbst wenn sie nicht kamen, waren sie zu entbehren. Denn die Jahrhunderte hatten daran gearbeitet, jene seelische Eigenschaft, die sanfte Selbstgenügsamkeit, in ihr großzuziehen.

Doch hastig und mit gesenktem Kopf schritt sie vom Wagen in das Bahnhofsgebäude, und der alte Skye, der von dem Sitz im Coupé zum Fenster hinausblicken konnte, merkte wohl an den Tränen auf seiner Nase, die nicht seine eigenen waren, an irgendeinem inneren Unbehagen, daß dieses kein gewöhnliches Abschiednehmen war, und er begann hinter der großen Scheibe zu winseln.

Mrs. Pendyce gab dem Droschkenkutscher in London auf, sie nach Greens Hotel zu fahren. Und erst, nachdem sie dort angelangt war, ihre Sachen ausgepackt, sich gewaschen und gefrühstückt hatte, begann eine gewisse Unruhe und etwas wie Heimweh in ihr aufzusteigen. Bisher hatte eine flatternde Erregung sie abgehalten, darüber nachzudenken, was sie jetzt tun sollte, oder was sie als Resultat ihres Vorgehens erhofft, erwartet, erträumt hatte. Sie nahm ihren Sonnenschirm und ging hinunter in die Bond Street.

Ein Vorübergehender lüftete den Hut.

›Herr Gott‹, dachte sie, ›wer war denn das? Er schien mir so bekannt!‹

Sie hatte ein ziemlich schlechtes Gedächtnis für Physiognomien, und wenn sie sich auch seines Namens nicht erinnern konnte, so fühlte sie sich sofort behaglicher, nicht mehr so vereinsamt und verirrt. Bald zeigte sich ein eigentümliches Leuchten in ihren Augen, die an den Toiletten der Vorübergehenden haften blieben und an jedem Schaufenster, das anziehender war als das vorige. Ein Glücksgefühl, gleich demjenigen, wie es die Seele eines jungen Mädchens bei ihrem ersten Tanz berührt, oder die Seele von Männern, die an fremden Küsten landen, erfüllte auch Margery Pendyce. Die prickelnde Empfindung, Unbekanntem entgegenzugehen, Unerwartetem tapfer standzuhalten, die Voraussicht, daß sie es nun immer so wundervoll haben sollte, dies alles hüllte sie ein wie die heitere Londoner Luft dieses leuchtenden Junitages. Sie kam an einem Parfümerieladen vorbei, und ihr war, als hätte sie nie einen solchen Duft wahrgenommen. Nebenan blieb sie dann lange Zeit stehen, um einige Spitzen zu betrachten; und sie sagte bei sich: ›Ich darf nichts kaufen, ich werde mein ganzes Geld für den armen George brauchen.‹ Ihre Freude an all den hübschen Dingen wurde darum nicht geringer.

Eine Ankündigung der Theater, Konzerte und Opern trat ihr aus dem nächsten Schaufenster entgegen, in dem die Photographien hervorragender Künstler ausgestellt waren. Sie betrachtete sie mit einem Eifer, welcher für denjenigen, der sie dort stehen sah, etwas Wunderliches haben mochte. All das gab es wirklich Tag für Tag für so wenige Shilling zu sehen und zu hören? Jedes Jahr war sie pflichtgemäß einmal in der Oper, zweimal im Theater gewesen, aber niemals im Konzert. Ihr Gatte machte sich nichts aus ›klassischer‹ Musik. Während sie dastand, trat eine Frau bettelnd an sie heran, die sehr müde und erhitzt aussah. Sie hatte ein ganz zusammengeschrumpftes, elendes, kleines Kind im Arm. Mrs. Pendyce zog ihre Börse heraus und gab ihr eine halbe Krone, und dabei schwoll ein Gefühl in ihr auf, das fast wie Empörung war.

›Armes, kleines Wurm‹, dachte sie, ›solcher gibt es gewiß Tausende, und ich weiß nichts von ihnen!‹

Sie lächelte der Frau zu, die das Lächeln erwiderte; und ein dicker, jüdischer Jüngling, der in einer Ladentür stand und die beiden lächeln sah, lächelte auch, als ob sie ihm gefielen. Mrs. Pendyce hatte die Empfindung, als ob die Stadt freundlich zu ihr spräche, und das berührte sie so fremdartig und wohltuend, daß sie es kaum zu glauben vermochte; denn Worsted Skeynes hatte mehr als dreißig Jahre lang versäumt, ihr Freundliches zu sagen. Sie blickte in das Schaufenster eines Hutladens und freute sich, als sie sich selbst darin sah. In dem Schaufenster machte sich ihr Grauleinenes gut, mit den schwarzen Sammetschleifen und den Guipurespitzen, wenn es auch schon zwei Jahre alt war.

Aber sie hatte es ja auch nur einmal im letzten Sommer getragen. Dann kam der Tod des armen Hubert. Das Schaufenster war auch ihren Wangen günstig und ihren Augen, die jenes rührende Leuchten zeigten, und dem wie mit Silber überpuderten Dunkel ihres Haares, und sie dachte: ›So sehr alt sehe ich gar nicht aus!‹

Aber ihr eigener Hut, den das Schaufenster widerspiegelte, mißfiel ihr jetzt; er hatte eine nach unten gebogene Krempe; und wenn sie die Form im allgemeinen auch liebte, so schien sie ihr in diesem Jahr doch unmodern. Und sie blickte lange in das Schaufenster jenes Ladens und versuchte, sich zu überreden, daß die Hüte drinnen ihr gut stehen würden, und daß sie das gern mochte, was ihr tatsächlich nicht gefiel. Auch vor anderen Schaufenstern blieb sie stehen. Es war ein Jahr her, seitdem sie keine mehr gesehen. Und vierunddreißig Jahre lang hatte sie solche nur in Gesellschaft des Gutsherrn oder ihrer Töchter angesehen, von denen keines Interesse für Läden hatte.

Auch das Publikum war ein anderes als das, was sie sah, wenn sie mit Horace oder den Mädchen ausging. Fast alle Leute schienen ihr interessant. Ein neues, fremdartiges Leben war in ihnen, an dem sie, Margery Pendyce, unbewußt ein wenig teilhatte; es war, als ob sich wirklich Gelegenheit bieten könnte, diese Menschen kennenzulernen, als ob sie ihr vielleicht etwas von ihrem eigenen Leben erzählen würden, davon, wie sie fühlten und dachten, und als ob sie sogar stehenbleiben und ihr zuhören würden mit einer freundlichen Teilnahme für das, was sie sagte. Das alles war so wunderlich. Und ein heiteres Lächeln überzog ihr Antlitz; und denjenigen, die es sahen – Ladenmädchen, elegante Frauen, Kutscher, Klubleute, Polizisten – wurde zumeist warm ums Herz; es tat wohl, den lächelnden Mund jener alternden Frau anzusehen, mit ihrem silbrigen Haar unter dem Hut, dessen Krempe ringsum nach unten gebogen war.

So kam Mrs. Pendyce nach Piccadilly, und von hier aus wandte sie sich westwärts nach Georges Klub. Sie kannte ihn wohl, denn sie versäumte nie, zu den Fenstern hinaufzusehen, wenn sie vorüberging. Und einmal – bei Gelegenheit des Königin Viktoria-Jubiläums hatte sie einen ganzen Tag dort zugebracht, um das festliche Schauspiel mitanzusehen.

Sie fing an zu zittern, als sie ihm näher kam; denn, wenn sie sich auch nicht, wie ihr Gatte, das Hirn mit Vorstellungen von dem zermarterte, was da kommen oder nicht kommen mochte, so war doch jetzt bange Sorge in ihrem Herzen.

George war nicht in seinem Klub. Und der Portier konnte ihr nicht sagen, wo er sein mochte.

Mrs. Pendyce blieb regungslos an der Tür stehen. Er war ihr Sohn, wie konnte sie da nach seiner Adresse fragen! Der Portier wartete ruhig; er wußte auf den ersten Blick, was eine richtige Lady war.

Mrs. Pendyce fragte freundlich:

»Gibt's hier ein Zimmer, wo ich eine Zeile aufschreiben könnte, oder ginge das nicht –?«

»Oh, gewiß, gnädige Frau. Ich führe Sie sofort in ein Zimmer.«

Und wenn hier auch nur eine Mutter zu ihrem Sohne kam, so ging der Portier ihr doch mit der leisen Diskretion jemandes voran, der eine Frau zu ihrem Geliebten führt. Und vielleicht hatte er die richtige Beurteilung für die verschiedenen Bewertungen der Liebe; denn er besaß große Erfahrung, da er lange in der besten Gesellschaft gelebt hatte.

Auf einem Bogen mit der großen weißen Aufschrift: ›Stoiker-Klub‹, die ihr von Georges Briefen her vertraut war, schrieb Mrs. Pendyce, was sie zu sagen hatte. Das kleine dunkle Zimmer, in dem sie saß, war ganz still; nur eine große Fliege summte in einem Streifen Sonnenlicht unterhalb des Vorhanges. Die Einrichtung war in dunklen Farben gehalten; die Möbel waren alt. Bei den Stoikern fand man weder die Moderne noch jene aufdringliche, grelle Art der Ausstattung größerer Klubs, die den Mittelklassen imponiert. Über dem kleinen Schreibzimmer lag ein Zug von Trauer: ›Ich werde so selten benutzt, aber fühl dich hier zu Hause. Du kannst so ein Fleckchen Erde wie dieses hier fast in jedem Herrenhause finden!‹

Und doch hatte so manch einsamer Stoiker hier gesessen und so manchen Brief an so manche Frau geschrieben. Vielleicht hatte auch George an demselben Tisch, mit derselben Feder an Helen Bellew geschrieben; und Mrs. Pendyces Herz schmerzte vor Eifersucht.

Liebster George, (schrieb sie)

ich muß Dir etwas Besonderes mitteilen. Bitte, komme zu mir, nach Greens Hotel. Komm bald, mein lieber Junge. Ich fühle mich einsam und unglücklich, solange ich Dich nicht gesehen habe.

Deine

Dich liebende
Margery Pendyce.

 

Und diese Mitteilung, wie sie sie nicht anders an einen Geliebten hätte schicken können, war vielleicht unbewußt in dieser Form abgefaßt, weil sie niemals einen Geliebten gehabt, dem sie so hätte schreiben können.

Zaghaft drückte sie dem Portier das Briefchen und eine halbe Krone in die Hand, wies den Tee, den er ihr anbot, dankend zurück und ging aufs ungewisse in den Park.

Es war fünf Uhr, die Sonne schien heller denn je, Menschen in Wagen und Menschen zu Fuß kamen in einem einzigen, gemächlich sich fortbewegenden, endlosen Strom durch Hydepark Corner hinein. Auch Mrs. Pendyce schloß sich ihm an und ging ängstlich – des Verkehrs ungewohnt – hinüber auf die andere Seite, um sich dort einen Stuhl zu nehmen. Vielleicht war George im Park, und sie würde ihn treffen; vielleicht war Helen Bellew dort, und sie würde sie treffen; und dieser Gedanke ließ ihr Herz heftiger schlagen und ihre Augen unter den hochgezogenen Brauen jede Gestalt aufmerksam mustern – alte Männer und junge Männer, elegante Damen und frische junge Mädchen. Wie reizend sie aussahen, wie allerliebst sie gekleidet waren! Ein Gefühl von Neid mischte sich in die Freude, die sie stets empfand, wenn sie etwas Hübsches sah; sie hatte keine Ahnung, daß sie selbst hübsch aussah unter jenem Hut, dessen Rand ringsum nach unten gebogen war. Aber während sie da saß, legte sich ihr allmählich ein schwerer Druck aufs Herz, das nur dann lebhafter zu klopfen anfing, wenn sie jemanden sah, den sie zu kennen glaubte. Und jedesmal, wenn sie in Erwiderung eines Grußes den Kopf beugen mußte, stieg ein Erröten in ihre Wangen, und ein zaghaftes Lächeln schien zu bekennen:

›Ich weiß, ich sehe aus wie eine Vogelscheuche; ich weiß, es ist merkwürdig von mir, hier allein zu sitzen.‹

Sie fühlte sich alt – älter als sie sich je zuvor gefühlt hatte. Inmitten dieser heiteren Menge, bei all dem Leben und Sonnenschein überkam sie ein Gefühl der Verlassenheit, das beinahe an Furcht grenzte – als triebe sie allein auf einem Strom, abgeschnitten von aller Welt. Und ihr war, als sei sie eine ihrer eigenen Pflanzen, die man aus ihrer Heimaterde herausgerissen hatte, und deren arme nackte Wurzeln nach der Erde verlangten, in der sie Halt finden konnten. Sie erkannte jetzt, daß sie zu lange in dem Boden, der ihr verhaßt gewesen, gewurzelt hatte, daß sie zu alt war, um verpflanzt zu werden. Die Gewöhnung an die Scholle – jenes schwerfällige, flügellahme Etwas, aus Zeit und Erdreich geboren – hielt sie mit seinen Armen fest umschlungen. Es hatte sie zu seiner Geliebten gemacht und wollte sie nicht mehr lassen.

 


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