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Viertes Kapitel

Die seligen Jagdgründe

Von all den Orten, an denen Pferde nach sachgemäßer Anwendung von Peitsche und Sporen, Hafer und Whisky veranlaßt werden, mit unnötiger Schnelligkeit ein Bein vor das andere zu setzen, damit die Menschen kleine Stücke Metall mit um so größerer Leichtigkeit austauschen können, unter all diesen Plätzen steht Newmarket-Heath obenan als amüsantester und beliebtester.

Dieser Sammelplatz flutender Bewegung – der eigentliche Grund der Pferderennen ist der, ein Beispiel zu liefern für den unaufhörlichen Kreislauf aller Erdendinge (denn kein richtiger Sportsmann wird je Gewinn oder Verlust im Lichte einer feststehenden Tatsache ansehen) –, also dieser Sammelplatz flutender Bewegung steht unter klimatischen Einflüssen, die ungewöhnlich günstig sind für die Entfaltung des britischen Temperamentes.

Die Newmarket-Heide besitzt nämlich neben einem angemessenen Bestandteil jenes wesentlichen Charakterbildners, des Ostwindes, die heißeste Sonne, die kältesten Stürme, den nassesten Regen von allen Rennplätzen gleicher Größe in den ›drei Königreichen‹. Sie trägt – mehr noch als die City von London – zur Ausbildung und Förderung des Individualismus bei, zu jenem erstrebenswerten ›Rutsch mir den Buckel lang‹-Standpunkt, der das stolze Ziel jedes wahren englischen Mannes, und besonders jedes Landedelmannes ist. Mit einem Wort: die Newmarket-Heide ist die Mutter jener selbstsicheren Verschlossenheit, die jede fremde Annäherung abwehrt, und die einen wesentlichen Zug des Christentums in diesem Lande bildet; und Newmarket-Heath kann ganz besonders als die seligen Jagdgründe der landbegüterten Klassen gelten.

Eine halbe Stunde vor Beginn des Rutlandshire-Handicap standen in den Ställen viele Sportsleute in kleinen Gruppen, zu zweien und dreien, beisammen und erörterten umständlich die Vorzüge der Pferde, gegen die sie gewettet oder die Schwächen derjenigen, auf die sie gesetzt hatten, oder auch umgekehrt, ebenso wie die letzten Informationen ihrer Trainer und Jockeys. Ganz abseits sprach George Pendyce leise mit seinem Trainer Blacksmith und seinem Jockey Swells. Vielen Leuten schon ist die absolute Verschlossenheit aller derjenigen aufgefallen, die mit Pferden zu tun haben. Das erklärt sich ganz natürlich. Das Pferd ist eines jener edlen, ein wenig lässigen Tiere, die, wenn sie nicht von Anfang an mit Energie behandelt werden, sehr bald nachlassen. Wesentlich für einen Menschen, der mit Pferden zu tun hat, ist die vollkommene Verschlossenheit seiner Gesichtszüge, sonst kann das Tier nie erfüllen, was man von ihm erwartet. Je mehr man von ihm verlangen will, desto geheimnisvoller muß der Ausdruck aller in seiner Umgebung sein, sonst ist ein schweres Fiasko durchaus möglich.

Daher zeigte Georges Gesicht mehr als seinen gewohnten Gleichmut, während die Züge vom Trainer und Jockey scharfe Aufmerksamkeit, Entschlossenheit, aber sonst keinerlei Erregung verrieten. Blacksmith, eine zierliche Erscheinung, hatte eine kurze Reitgerte in der Hand, mit der er, entgegen aller Gewohnheit, nicht gegen seine Beine schlug. Seine Augenlider waren tief gesenkt über den schlauen Äugelchen, die Oberlippe trat über der Unterlippe hervor, und das Gesicht war ganz glatt rasiert. Das zerknitterte Antlitz des Jockeys Swells mit den buschigen Augenbrauen und den eingefallenen Backen zeigte unter Georges pfaublauer Jockeymütze einen bräunlichen Schimmer, wie man ihn auf alten Holzmöbeln findet.

Der ›Ambler‹ war aus dem Gestüt des Obersten Dorking gekauft worden, eines Mannes, der aus prinzipiellen Gründen dagegen war, Zweijährige laufen zu lassen; und so war der ›Ambler‹ bis zu seinem dritten Jahre noch nicht gelaufen. Nachdem er schon eine sehr anständige Form bei einer oder zwei Stallprüfungen gezeigt hatte, kam er im Fane Stakes-Rennen heraus, zeigte sich aber so wenig auf der Höhe, daß er aus der Öffentlichkeit wieder verschwand. Der Stall hatte von Anfang an das Rutlandshire-Handicap für ihn im Auge gehabt; und kaum war das Goodwood-Meeting vorüber, als die Stallwetten in die Hände der Buchmacher Barney gelegt wurden, weil die Leute dafür bekannt waren, daß sie es verstanden, im geeigneten Augenblick die Aufmerksamkeit des Publikums auf ein Pferd zu lenken. Kaum war die Wette angelegt, als das Publikum auch schon entschlossen war, dem ›Ambler‹ sein Vertrauen zu schenken, zu jedem Odd über sieben zu eins. Die Barneys fingen sofort an, die Stallwetten abzulegen, und danach fand George, daß viertausend zu nichts zu gewinnen stand. Wenn er sich jetzt entschlossen hätte, diese Summe gegen das Pferd zu legen, zu dem augenblicklichen Preis von acht zu eins, hätte er ganz sicher fünfhundert Pfund haben können, selbst wenn das Pferd gar nicht gelaufen wäre. Aber George, der das Geld sehr gut hätte brauchen können, war nicht der Mann, sich auf so etwas einzulassen. Es widerstrebte seinen Anschauungen. Er glaubte fest an sein Pferd und hatte genug von dem Blut der Totteridge in sich, um sich für das Rennen von Sports wegen zu interessieren. Selbst wenn er geschlagen wurde, blieb ihm noch die Genugtuung, daß er diese Niederlage mit Gleichmut zu ertragen vermochte, weil er sich den Leuten überlegen fühlte, die nicht, wie er, so durch und durch Sportsmann waren.

»Komm, wir wollen zusehen, wie das Pferd gesattelt wird«, sagte er zu seinem Bruder Gerald.

In einer der vielen, nebeneinanderliegenden Boxes stand der ›Ambler‹ in der Erwartung, daß letzte Hand an ihn gelegt werde – ein Dunkelbrauner, etwa sechzehn Faust hoch, mit wundervoll gelagerten Schultern, geraden Sprunggelenken, mit kleinem Kopf und dünnem Schweif. Das Schönste an ihm aber waren seine Augen. In der Tiefe dieser großen, sanften Augen war ein fast unheimliches Glühen, und wenn er sie in dem Halbmond von Weiß hin und her bewegte, und Umstehende dieser seltsam verständnisvolle Blick traf, da fühlte man, daß er alles bis auf den Grund begriff, was um ihn her vorging. Er war erst drei Jahre, und hatte also noch nicht das Alter, in dem die Menschen bei ihren Handlungen die Früchte ihrer Erfahrungen anzuwenden pflegen; aber es war kaum zu bezweifeln, daß er mit fortschreitendem Alter sein Mißfallen an einem System zu erkennen geben würde, durch das die Menschen sich auf seine Kosten bereichern wollten. Und mit diesen von Weiß halb umrahmten Augen sah er zu George hinüber, und still sah George ihn wieder an, seltsam berührt von diesem langen, sanften und doch leidenschaftlichen Blick des Tieres. Von dem Herzen, das da hinter seiner warmen, dunklen Samthülle schlug, von dem Temperament, das da aus dem sanften, leidenschaftlichen Auge sprach, hing zu viel für ihn ab – und er wandte sich fort.

»Aufsteigen, Jockeys!«

Durch die Menge grob aussehender, eingemummelter, zweibeiniger Menschen in Hüten schritten diese vierfüßigen Geschöpfe, in ihrer kastanienbraunen, gelben, dunklen und samtnen Nacktheit wundervoll anzusehen, stolz dahin, als gingen sie dem Tod entgegen. Als das letzte durch das Tor verschwand, zerstreute sich die Menge.

Unten an der Barriere des Buchmacherringes stand George ganz allein. Er hatte sich da in eine Ecke gedrückt, von wo aus er mit seinem langen Feldstecher jenes buntfarbige, sich bewegende Rad am Ende des mehr als eine Meile langen Turfs beobachten konnte. In diesem Augenblick, der für die Zukunft so viel barg, war ihm die Gesellschaft seiner Bekannten unerträglich.

»Sie sind ab!«

Er sah nicht mehr hin, sondern krümmte die Schultern, indem er die Ellbogen steif hielt, damit niemand seine Erregung sehen sollte.

Hinter sich hörte er einen Mann sagen:

»Der Favorit ist geschlagen! Wer ist der Blaue da in der Bahn?«

Ganz weit drüben, an der Grenze der Rennbahn allein voraus, schoß wie ein heimkehrender Vogel der ›Ambler‹ daher. Und Georges Herz hüpfte, wie an einem Sommerabend ein Fisch aus einem dunklen Teich aufhüpft.

»Sie kriegen ihn nicht mehr! Der ›Ambler‹ macht's! Er geht über die Bahn! Der ›Ambler‹ hat's!«

Schweigsam inmitten der tobenden Menge dachte George nur immer: ›Mein Pferd! Mein Pferd!‹ Und helle Tränen der Erregung schossen ihm in die Augen. Eine volle Minute lang stand er ganz still da; dann schlug er, während er unwillkürlich Krawatte und Hut zurechtrückte, den Weg nach dem Sattelplatz ein. Er überließ es seinem Trainer, den ›Ambler‹ zurückzuführen, und kam dann in den Waageraum.

Der kleine Jockey saß auf der Waage, den Sattel auf den Knien, lässig und mürrisch und wartete auf das ›All right‹.

Blacksmith sagte gelassen: »Na, Herr, wir haben's geschafft. Vier Längen. Ich habe Swells gesagt, daß er für mich zum letztenmal geritten ist. Wir haben ein Vermögen aus der Hand gegeben. Was in aller Welt ist ihm eingefallen, mit so viel zu gewinnen. Wir kommen jetzt nicht unter neun Stone ins City and Suburban Handicap! Man könnte heulen!«

Und George sah, wie dem kleinen Manne die Lippen bebten.

In seinem Stall stand, mit Schweiß bedeckt, die Hinterhand gestreckt, der ›Ambler‹, den der Groom abrieb, und wandte den Kopf nach seinem Besitzer herum; und wieder fiel George dieser lange, stolze und sanfte Blick auf. Er legte seine im Handschuh steckende Hand auf des Pferdes schweißbedeckten Hals. ›Ambler‹ warf den Kopf hoch und wandte sich ab.

George trat ins Freie hinaus und schlug den Weg nach den Tribünen ein. Die Worte seines Trainers hatten ihm einen Wermuttropfen in den Freudenbecher getan. ›Wir haben ein Vermögen aus der Hand gegeben!‹

Er ging jetzt, um Swells aufzusuchen. Auf seinen Lippen schwebten die Worte: ›Wie konnten Sie nur so drauf losreiten?‹ Aber er sprach sie nicht aus; denn er hatte die Empfindung, es schicke sich nicht für ihn, seinen Jockey zu fragen, weshalb er das Pferd nicht verhalten und nur mit einer Pferdelänge gesiegt habe. Aber der kleine Jockey verstand ihn auch ohne Worte.

»Ich habe von Mr. Blacksmith schon ordentlich was zu hören bekommen. Aber glauben Sie mir: Das Pferd hat's in sich. Ich hielt's fürs gescheiteste, ihn ruhig drauflosrennen zu lassen. Ich sag' Ihnen: Er weiß ganz genau, was los ist. Und wenn eins so ist, dann läßt man's am besten in Ruh!«

Eine Stimme sagte hinter ihm:

»Na, George, gratuliere! Wenn ich auch anders geritten wäre! Ich hätte bis zum Distanzpfahl hinten gelegen. Flottes Tier, alle Wetter! Verstehen heutzutage nicht zu reiten!«

Der Gutsherr und der General standen hinter ihm. Aufrecht und schlank, verschieden und doch einander so ähnlich, schien jeder dem andern mit seinen Blicken zu sagen: ›Ich werde mit dir nicht übereinstimmen; es gibt darüber eine Ansicht. Ich werde mit dir nicht übereinstimmen!‹

Hinter ihnen stand Mrs. Bellew. Ihre Augen vermochten keine Sekunde ruhig zu bleiben, und sie wechselten beständig ihr Licht und ihre Farbe. George ging langsam auf sie zu. Etwas Triumphierendes und Sanftes zugleich lag in ihrem Ausdruck; ihre Wangen färbten sich dunkler; sie schien sich ihm entgegenzuneigen, aber sie blickten einander nicht an.

Gegen die Barriere des Sattelplatzes gelehnt stand ein schmächtiger Mann im Reitanzug; er hatte die charakteristischen, eckigen, hohen Schultern des Reiters und die langen, etwas krummen Beine. Sein schmales, sommersprossiges Gesicht mit den dünnen Lippen, dem kleinen roten Schnurrbart und dem kurzgeschnittenen, sandfarbenen Haar zeigte eine eigentümliche, fahle Blässe. Er verfolgte George und dessen Begleiterin mit seinen kleinen, lebhaften, dunkelbraunen Augen, in denen alle Teufel zu tanzen schienen. Da tippte ihn jemand am Arm.

»Tag, Bellew! Was gewonnen?«

»Hol's der Teufel, nee! Kommen Sie mit, 'nen Whisky trinken?«

Immer noch ohne einander anzublicken, schritten George und Mrs. Bellew dem Ausgang zu.

»Ich mag nichts mehr sehen«, meinte sie. »Am liebsten möchte ich jetzt gleich fort.«

»Wir wollen nur noch dieses Rennen abwarten«, entgegnete George. »Im letzten ist nichts Interessantes mehr.«

Auf der Rückseite der großen Tribüne blieb er inmitten der vorüberhastenden Menge stehen.

»Helen?« sagte er leise.

Mrs. Bellew hob den Blick und begegnete voll dem seinen.

Weit und querfeldein geht die Fahrt von der Bahnstation Royston bis Worsted Skeynes. Aber George Pendyce, der neben Helen Bellew im Dogcart saß, erschien sie wie eine Minute – jene seltene Minute, da der Himmel sich öffnet und ein Zauberbild erscheint. Manche Menschen haben diese Vision nur einmal im Leben, andere viele Male. Sie kommt nach langem Winter, wenn die Blüten sich entfalten; sie kommt nach glühendem Sommer, wenn die Blätter golden werden; und mit was für Farben sie gemalt ist – ob aus Frostweiß und Feuer, aus Wein und Purpur, aus Bergesblumen oder dem Schattengrün stiller, tiefer Seen – das weiß der allein, dem sie erscheint. Aber eines ist gewiß! Die Vision raubt demjenigen, der sie erschaut, den klaren Blick für alle andern Dinge, für Gesetz und Ordnung, für die lebendige Vergangenheit und die lebendige Gegenwart. Sie ist die Zukunft, die duftende, singende, juwelenschimmernde Zukunft – als ob plötzlich zwischen hohen Felswänden ein Zweig von Apfelblüten im Winde bebend hinge, der vom Gesumm der Bienen tönt.

George Pendyce starrte über den Rücken der grauen Stute hinweg auf die Vision, und die Frau, die in ihren Pelz gehüllt neben ihm saß, berührte seinen Arm mit dem ihren. Und den Rücken ihnen zugekehrt, sich zusammenduckend über der Landstraße, die unter ihm dahinglitt, hatte der Groom eine andere Vision vor sich, denn er hatte fünf Pfund gewonnen. Und die graue Stute hatte eine Vision ihres warmen, hellen Stalles mit dem Hafer, der durch die Krippenstangen rieselte; und mit leichtem Hufschlag flog sie über die Wege, auf denen die Laternen zu beiden Seiten zitternde Lichtstreifen über die dunklen Buchenhecken sandten, die im Nordostwind leise raschelten. Wieder und wieder nieste die Graue vor Vergnügen an diesem Heimwärtsfliegen, und der feine Schaum ihrer Nüstern streifte die Gesichter der beiden da hinten im Wagen. Sie saßen schweigend; ab und zu durchzuckte sie ein leises Beben, wenn eines den Arm des andern berührte; ihre Wangen glühten in dem zugigen Dunkel; ihre Augen schimmerten und blickten ins Weite.

Der Groom erwachte plötzlich aus seinem Traum.

›Wenn ich Mr. George wäre und hätte einen Gaul wie er und so ein Prachtweib wie Mrs. Bellew neben mir, ob ich wohl auch so stumm wie ein Fisch dasitzen tät'?‹

 


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