Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünftes Kapitel

Mutter und Sohn

Für Mrs. Pendyce war Chelsea eine unbekannte Welt. Es hätte lange gedauert, bis sie zu Georges Wohnung hingefunden hätte, wäre sie ihrer Natur nach gewesen, was sie dem Namen nach war; denn die Pendyces fragten nie nach irgendeinem Weg noch glaubten sie einer Auskunft, sondern suchten mit überflüssigem Aufwand an Mühe alles selbst herauszufinden und beklagten sich dann darüber.

Ein Schutzmann zuerst, und dann ein bärtiger junger Mann, der wie ein Künstler aussah, leiteten ihre Schritte. Der junge Mann lehnte an einer Gartentüre, die er ihr öffnete.

»Hier herein, bitte«, sagte er, »die Tür in der Ecke rechts ist es!«

Mrs. Pendyce schritt den schmalen Kiesweg entlang, vorbei an dem verfallenen Brunnen mit seinen drei steinernen Fröschen, und blieb vor der ersten grünen Tür wartend stehen. Und während sie wartete, kämpften Furcht und Freude in ihr; denn jetzt, da sie fern war von Mrs. Bellew, empfand sie keine Kränkung mehr. Der lebendige Anblick jener Frau allein hatte sie hervorgerufen: so persönlich empfindet selbst das gütigste Herz.

Sie fand den rostigen Griff einer Klingel zwischen den Blätterranken und zog daran. Ein abgerissener, blecherner Ton erscholl, aber niemand kam; vernehmbar war nur ein leises Geräusch, als ob drinnen jemand hin und her ginge. Dann tönte draußen von der Straße her die Stimme eines Gemüsehändlers gegen den Himmel, und in der Melodie seines Ausrufes verlor sich der schwache Laut. Der junge Mann mit dem Bart, der wie ein Künstler aussah, kam den Kiesweg herunter auf sie zu.

»Können Sie mir wohl sagen, ob mein Sohn zu Hause ist?«

»Ich habe ihn nicht fortgehen gesehen; und ich habe den ganzen Morgen über hier gemalt.«

Mrs. Pendyce gewahrte mit Verwunderung eine Staffelei, die vor einer andern Tür, ein Stückchen weiterhin, stand. Es schien ihr seltsam, daß ihr Sohn in dieser Umgebung lebte.

»Soll ich mal für Sie anklopfen?« fragte der Künstler. »Diese Klopfer sind alle schwer zu handhaben.«

»Wenn Sie so gut sein wollen!«

Der Künstler klopfte.

»Er muß zu Hause sein«, meinte er. »Ich habe die Tür kaum aus den Augen gelassen, weil ich sie gemalt habe.«

Mrs. Pendyce betrachtete daraufhin die Tür.

»Ich kriege sie nicht raus«, sagte der Künstler wieder. »Sie ist verdammt schwierig.«

Mrs. Pendyce sah ihn unsicher an.

»Hat er keinen Dienstboten?« fragte sie.

»I bewahre!« entgegnete der junge Mann, »es ist ein Maleratelier. – Die Beleuchtung ist ganz falsch. Würde es Ihnen Mühe machen, mal eine Minute so stehenzubleiben, wie Sie da eben stehen? Ich käme dadurch ein gut Stück weiter!«

Er trat zurück und legte die Hand beschattend über die Augen und Mrs. Pendyce fühlte, wie ihr ein Schauer über den Körper glitt.

›Weshalb öffnet George die Tür nicht?‹ dachte sie; und dann: ›Was – was will denn nur der Mensch da?‹

Der Künstler ließ die Hand sinken.

»Vielen Dank!« sagte er. »Ich will noch mal klopfen. So! Das müßte die Toten erwecken!«

Und er lachte.

Eine sinnlose Angst überfiel Mrs. Pendyce.

»Ach«, stieß sie hervor, »ich muß hinein – ich muß hinein!«

Sie erfaßte den Klopfer und hämmerte leise damit gegen die Tür.

»Sie sehen«, sagte der Künstler, »das nützt nichts; diese Klopfer sind steif wie Feuerzangen.«

Wieder legte er die Hand über die Augen. Mrs. Pendyce lehnte sich gegen die Tür; ihre Knie zitterten heftig.

›Was geht denn vor?‹ dachte sie. ›Vielleicht ist er nur fest eingeschlafen, vielleicht – o Gott!‹

Und sie setzte den Klopfer mit aller Kraft in Bewegung. Da gab die Tür nach, und in der Öffnung stand George. Ein Aufschluchzen erstickend, trat Mrs. Pendyce ein. Er warf hinter ihr die Tür ins Schloß.

Eine volle Minute sprach sie nichts; jene seltsame Angst und eine Art Beschämung hielten sie immer noch im Bann. Sie traute sich nicht einmal, ihren Sohn anzusehen, sondern sandte scheue Blicke im Zimmer umher. Weit drüben, am anderen Ende, sah sie eine Galerie, und über dem Ganzen wölbte sich ein schräges Dach, das zur Hälfte aus Glas war. Sie sah Vorhänge, die in der ganzen Galerie herabhingen, einen Tisch mit Teegeräten und Karaffen, einen runden, eisernen Ofen, Teppiche am Boden und einen großen langen Spiegel in der Mitte der Wand. Eine silberne Blumenschale spiegelte sich in seinem Kristall. Mrs. Pendyce sah, daß die Blumen verwelkt waren, und ihr leiser Verwesungsgeruch war das erste, was sie wahrnahm.

»Deine Blumen sind verwelkt, mein lieber Junge«, begann sie. »Ich muß dir frische besorgen!«

Erst jetzt getraute sie sich, George anzusehen. Er hatte Ränder unter den Augen; sein Gesicht war gelb. Ihr schien, als sei er kleiner geworden. Das Herz krampfte sich ihr zusammen, und sie dachte: ›Ich darf ihn nichts merken lassen; ich muß den Kopf oben behalten!‹

Sie ängstigte sich – ängstigte sich vor seiner Miene, in der etwas Verzweifeltes und Wildes lag; und sie ängstigte sich vor seinem Trotz, jenem stummen, sinnlosen Trotz, der sich an das klammert, was gewesen ist, weil es gewesen ist; der sich klammert an das, was ihm gehörte, auch wenn es ihm nicht mehr gehört. Sie besaß selbst so wenig von dieser Eigenschaft, daß sie nicht ahnen konnte, wohin sie ihn führen mochte; aber sie war ihr aus ihrem Eheleben genugsam bekannt; und es schien ihr nur natürlich, daß ihrem Sohn von jener Eigenschaft jetzt Gefahr drohte.

Ihre Angst stachelte ihre Selbstbeherrschung an. Sie zog George neben sich aufs Sofa, und dabei durchzuckte sie der Gedanke: ›Wie oft mag er wohl, jene Frau in den Armen, an dieser Stelle gesessen haben!‹

»Du bist gestern abend nicht gekommen, mein Junge! Ich hatte Plätze besorgt – so gute!«

George lächelte.

»Nein«, sagte er, »ich hatte etwas anderes vor!«

Sie sah ein Lächeln, und ihr Herz begann zu schlagen, daß ihr schwindelte; aber auch sie lächelte.

»Wie hübsch du es hier hast, mein Junge!«

»Viel Platz zum Umhergehen!«

Mrs. Pendyce fiel das Geräusch von auf und ab gehenden Schritten ein, das sie gehört hatte. Aus der Tatsache, daß er sie nicht fragte, wie sie seine Wohnung erfahren, entnahm sie, daß er erraten haben mußte, wo sie gewesen, daß sie also einander nichts zu erzählen hätten, was der andere nicht schon wußte. Und wenn ihr das auch eine gewisse Erleichterung gab, erhöhte es doch ihre Angst – die Angst vor dem, was Verzweiflung vermag. Allerlei Bilder gingen ihr durch den Sinn. Sie sah George wieder in ihrem Schlafzimmer, von seiner ersten Fuchsjagd heimkommend, auf seiner runden, vollen Wange einen Riß von der Schläfe bis zum Kiefer, und das blutbefleckte Fell eines jungen Fuchses in der kleinen, behandschuhten Hand. Sie sah ihn, wie er am letzten Tag des 1880er Wettkampfes gemächlich in ihr Zimmer trat, mit eingedrücktem Zylinder, blaugeschlagenem Auge und einem Spazierstock mit einer hellblauen Quaste. Sie sah ihn totenbleich mit zusammengepreßten Lippen an jenem Nachmittag, nachdem er ihr, von einer Halsentzündung erst halb genesen, entwischt war und sich hinausgestohlen hatte, um allein auf die Jagd zu gehen, und sie hörte wieder seine Stimme: ›Ja, Mutter, ich konnt's nicht länger aushalten; es war zu blödsinnig langweilig!‹

Wie nun, wenn er es auch jetzt nicht aushalten konnte! Wenn er irgend etwas Übereiltes täte! Sie zog ihr Taschentuch hervor. »Es ist sehr warm bei dir, mein Junge; deine Stirn ist ganz feucht!«

Sie sah, wie seine Augen sich argwöhnisch auf sie richteten, und all ihre weibliche Verstellungskunst stahl sich in ihre eigenen Augen, so daß sie nicht erregt flackerten, sondern ihn nur freundlich besorgt ansahen.

»Das macht das Glasdach«, sagte er. »Die Sonne prallt den ganzen Tag darauf.«

Mrs. Pendyce sah nach dem Glasdach oben.

»Die Umgebung erscheint mir so wunderlich für dich, mein Junge, aber es ist sehr nett – so apart. Du gestattest aber, daß ich die armen Blumen da hinaustue!« Sie ging zu der silbernen Schale hin und beugte sich darüber. »Mein lieber Junge, die sind ja schon ganz verdorben! Wirf sie draußen irgendwohin; es ist etwas so Trostloses – der Geruch von welken Blumen!«

Sie hielt die Schale hoch und preßte das Taschentuch vor die Nase.

George nahm die Blumen, und wie eine Katze einer Maus nachspäht, so paßte Mrs. Pendyce auf, wie er die Schale hinaustrug. Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, als sie, schneller, geräuschloser als eine Katze, hinter die Vorhänge schlüpfte.

›Ich weiß, er hat eine Pistole da‹, dachte sie.

Im nächsten Augenblick kam sie wieder hervor, glitt im Zimmer umher, mit Händen und Augen herumspürend; aber sie entdeckte nichts, und ihr wurde leichter ums Herz.

›Es sind nur die ersten schrecklichen Stunden‹, dachte sie.

Als George zurückkehrte, stand sie da, wo er sie verlassen hatte. Schweigend setzten sie sich nieder, und während dieses gemeinsamen Schweigens – dem längsten ihres Lebens – war ihr, als empfände sie alles, was seine Seele erfüllte, all die Finsternis und das bittere Weh, den Zorn des Verschmähten, das Schmachten nach dem Besitz, die verlorene Lust, die aufreizende Erinnerung an das Geschehene und den bitteren Nachgeschmack. Und dabei war ihr Herz schon voll genug von Mitleid und Eifersucht, von Erleichterung und Scham und Liebe und tiefem Sehnen. Nur zweimal wurde das Schweigen unterbrochen. Einmal, als er fragte, ob sie gefrühstückt hätte, und sie, die den ganzen Tag über nichts gegessen hatte, antwortete: »Ja, Lieber – ja!«

Und einmal, als er sagte:

»Du hättest nicht hierherkommen sollen, Mutter; ich bin nicht ganz in Ordnung.«

Sie betrachtete sein Gesicht, ihr das teuerste auf der Welt, das er zu Boden gesenkt hielt; und sie hatte ein so schmerzliches Verlangen, es an ihre Brust zu ziehen, daß ihr, weil sie es nicht wagte, die Tränen in die Augen schossen und langsam über ihre Wangen hinabrollten. Die Stille in diesem Zimmer, das man um seiner Verborgenheit willen gewählt hatte, war wie die Stille eines Grabes, und wie in einem Grabe gab es hier keinen Ausblick ins Leben; denn das Dach bestand aus Mattglas.

Die Totenstille legte sich ihr aufs Herz; ihre Augen suchten das Glasdach, als wollte sie es beschwören, zu zerbersten und Geräusche von draußen hereinzulassen. Eine Katze auf ihrem Pilgerzug von Dach zu Dach, die vier dunklen, sich fortbewegenden Punkte ihrer Pfoten, die matte Silhouette ihres Körpers, war alles, was sie sah. Und da sie das Schweigen nicht länger zu ertragen vermochte, rief sie plötzlich: »George, ach, George, sprich doch etwas! Sei nicht so verschlossen!«

George entgegnete:

»Was willst du, daß ich sage, Mutter?«

»Nichts – nur –«

Da glitt sie neben ihrem Sohn auf die Knie nieder und zog seinen Kopf an ihre Brust; so blieb sie, sich leise hin und her wiegend, ihm unmerklich näherrückend, bis sie fühlte, daß sein Kopf bequem lag. Sein Gesicht war nun nahe an ihrem Herzen, und sie mochte es nicht wieder von sich lassen. Die Knie auf den harten Dielen schmerzten sie, der Rücken und der ganze Körper taten ihr weh; aber nicht um die Welt hätte sie sich auch nur einen Zoll vom Platze gerührt; glaubte sie doch, ihn mit ihrem Schmerze zu trösten, und ihre Tränen fielen auf seinen Nacken. Als er ihr endlich sein Gesicht entzog, da sank sie auf der Erde zusammen und vermochte nicht, sich zu erheben; aber ihre Finger fühlten, daß ihr Kleid an der Brust feucht war. George sagte mit heiserer Stimme: »Schon gut, Mutter; sorg dich nicht!«

Um keinen Preis hätte sie ihm jetzt ins Gesicht sehen mögen; aber mit einer Gewißheit, stärker als Verstand sie geben kann, empfand sie, daß er nun in Sicherheit war.

Auf dem schrägen Dache kam die Katze vorsichtig wieder zurück, ihre vier Pfoten dunkle, sich fortbewegende Punkte, ihr Körper eine matte Silhouette.

Mrs. Pendyce erhob sich.

»Ich möchte jetzt nicht länger hierbleiben, mein lieber Junge. Darf ich deinen Spiegel benutzen?«

Sie stand vor dem Spiegel, strich sich das Haar zurück, fuhr mit dem Taschentuch über Wangen, Augen und Lippen und dachte dabei:

›Hier hat auch jene Frau gestanden! Jene Frau hat in diesen Spiegel geblickt, sich das Haar geglättet und die Spuren seiner Küsse von ihren Wangen getilgt. Mag Gott all das Leid über sie bringen, das sie über meinen Sohn gebracht hat!‹

Aber als ihr dieser Wunsch durch den Sinn ging, schauerte sie zusammen.

An der Tür wandte sie sich nach George um mit einem Lächeln, das zu sagen schien: ›Es hat keinen Sinn, daß ich weine, oder daß ich versuche, dir zu sagen, was mein Herz bewegt; und deshalb, siehst du, lächle ich. Bitte, lächle du auch, das tröstet mich ein bißchen.‹

George legte ein kleines, in Papier gehülltes Paket in ihre Hand und versuchte zu lächeln.

Mrs. Pendyce ging rasch hinaus. Durch das Sonnenlicht geblendet, sah sie das kleine Paket nicht näher an, bis sie draußen auf der Straße war. Es enthielt ein Amethysten-Halsband, einen Smaragdanhänger und einen Brillantring. In der kleinen Straße, die zu diesem Garten mit seinen Pappeln, seinem alten Springbrunnen und der grünen Tür führte, schimmerten und funkelten die Juwelen, als ob alles Licht und Leben sich da vereint hätten. Mrs. Pendyce, die alles liebte, was Farbe und Glanz hatte, sah, daß die Schmuckstücke besonders schön waren.

Jene Frau hatte sie angenommen, hatte ihr Leuchten und Farbenfunkeln genossen und sie dann fortgeworfen. Mrs. Pendyce hüllte sie wieder in das Papier, umschnürte es und schlug die Richtung nach dem Wasser ein. Sie beeilte sich nicht, sondern ging ruhig, den Blick stetig geradeaus gerichtet. Sie überschritt den Fahrdamm und blieb, über die Steinbrüstung gelehnt, stehen, die Hände weit über das graue Wasser hinaushaltend. Daumen und Finger lösten sich; das weiße Paket fiel hinunter, schwamm einen Augenblick und verschwand.

Mrs. Pendyce sah sich erschreckt um. Ein junger Mann mit einem Bart, dessen Gesicht ihr bekannt schien, zog den Hut.

»Ihr Sohn war also doch zu Hause«, sagte er. »Das freut mich. Ich muß Ihnen noch einmal dafür danken, daß Sie mir vorhin eine Minute gestanden haben; das hat mir so geholfen. Ich mußte die Person und die Tür zusammenbringen; und nun hab ich's. Guten Tag!«

Mrs. Pendyce murmelte ›Guten Tag‹ und blickte ihm mit erschreckten Augen nach, als hätte er sie bei Verübung eines Verbrechens ertappt. Sie glaubte jene Juwelen vor sich zu sehen, wie sie, die Ärmsten! in den grauen Schlamm hinuntersanken, eine Beute der Finsternis, für immer ihres Lichtes und ihrer Farbe beraubt. Und als hätte sie eine Sünde begangen, als hätte sie dem Zartesten und Tiefsten in ihrer Natur Gewalt angetan, eilte sie hastig davon.

 


 << zurück weiter >>