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Zweites Kapitel

Pastor Hussell Barters fernerer Einfluß

Um die Gefühle und Hoffnungen des Pfarrers von Worsted Skeynes zu verstehen und zu billigen, muß man seine Herkunft und seinen Lebenslauf kennen.

Als zweiter Sohn einer alten Suffolk-Familie war er der Haustradition gefolgt, und nach einigen Prüfungen in Oxford hatte man ihn, vierundzwanzig Jahre alt, für reif erklärt, Männern und Frauen Lebens- und Verhaltungsregeln vorzuschreiben, nach denen sie seit zwei- oder dreimal so viel Jahren vergeblich gesucht hatten. Seine Persönlichkeit, der es an Selbstvertrauen nie gemangelt, war durch diesen günstigen Umstand nur noch gefestigt worden, und sie schützte ihn vor der Notwendigkeit der Selbstbeobachtung und geistigen Ringens, mit der seine Mitmenschen sich abzufinden hatten. Da er weder über noch unter dem Durchschnitt stand, fiel es ihm niemals ein, sich kritisch oder gar feindlich einem System gegenüberzustellen, das sich seit so langer Zeit behauptete, und das ihm so viele Vorteile bot. Wie alle Durchschnittsmenschen war er ein Autoritäts-Anhänger, umso mehr, als ein gut Teil dieser Macht in seinen eigenen Händen lag. Es wäre wirklich ungerecht gewesen, von einem Manne seiner Herkunft, seiner Erziehung und seines Berufes zu erwarten, daß er der Maschinerie mißtrauen sollte, von der er selbst ein Rad war.

Im Alter von sechsundzwanzig Jahren war er nun, beim Tode seines Onkels, ganz unversehens zur Pfarre von Worsted Skeynes gekommen. Und dort hatte er sich seßhaft gemacht. Es war ihm ein steter und begreiflicher Kummer, daß diese Pfarre nach seinem Tode weder auf seinen ältesten noch auf seinen zweiten Sohn übergehen sollte, sondern auf den zweiten Sohn seines älteren Bruders, des Majoratsherrn. Mit siebenundzwanzig Jahren hatte er Miß Rose Twining, die fünfte Tochter eines Pastors aus Huntingdonshire, geehelicht, in weniger als achtzehn Jahren zehn Kinder mit ihr gezeugt und erwartete jetzt das elfte. Alle waren kerngesund und munter wie er selbst. Eine Familiengruppe hing über dem Kamin in seinem Arbeitszimmer unter dem eingerahmten, kolorierten Bibelspruch: ›Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet‹, seinem Motto, das er sich in seinem ersten Amtsjahre gewählt und seither zu ändern nicht für nötig befunden hatte. In dieser Familiengruppe saß Barter in der Mitte, der Hund ihm zu Füßen; seine Frau stand hinter ihm, und zu beiden Seiten breiteten sich die Kinder aus wie die Flügel eines Schmetterlings. Die Kosten für die Erziehung begannen ihn ziemlich schwer zu drücken, und er klagte oftmals darüber; aber trotzdem hieß er prinzipiell dieses System gut, und seine Frau ließ niemals eine Klage laut werden.

Sein Studierzimmer zeigte in der Einrichtung eine ernste Einfachheit. Gar manch ein Junge hatte da in gut gemeinter Absicht den Rohrstock zu kosten bekommen; und an einer Stelle war der alte türkische Teppich farblos geworden, ob das aber von ihren Tränen oder ihren Knien herrührte, das hätte selbst der Pastor nicht zu sagen gewußt. Ein Schrank neben dem Kamin enthielt alle theologischen Bücher, von denen viele recht abgenutzt aussahen, in dem Schrank auf der andern Seite bewahrte er seine Kricketschläger, die er sehr sorgsam hütete; eine Angelrute und ein Gewehrkasten standen bescheiden in einer Ecke. In der Öffnung zwischen den beiden Schubkästen seines Schreibtisches lag die Matte für seine Bulldogge, ein preisgekröntes Tier, das gewohnt war, dort zu liegen und seines Herrn Beine zu bewachen, während er seine Predigten niederschrieb. Wie bei seinem Hunde, waren des Pfarrers stärkste Seite die altenglischen Tugenden, als da sind: Eigenwille, Mut, Unduldsamkeit und Humor; seine schwachen Seiten waren ihm, infolge seiner besonderen Lebensumstände, nie zum Bewußtsein gekommen.

Als er sich daher allein sah mit Gregory Vigil, näherte er sich ihm, etwa wie ein Hund sich dem andern nähert, und kam sogleich auf die von Mrs. Pendyce erwähnte Angelegenheit.

»Es ist eine geraume Zeit her, daß ich das Vergnügen hatte, Ihnen zu begegnen, Mr. Vigil«, begann er. »Mrs. Pendyce hat mir im Vertrauen die Neuigkeit mitgeteilt, die Sie aus der Stadt mitgebracht haben. Ich muß Ihnen aber auch gleich sagen, wie erstaunt ich darüber bin.«

Gregory machte eine leise Bewegung der Abwehr, als habe sein Zartgefühl einen Schlag bekommen.

»Wirklich?« entgegnete er eisig.

Der Pastor, der sofort eine Gegnerschaft witterte, wiederholte mit Nachdruck:

»Mehr als erstaunt; ja ich denke, da muß irgendein Mißverständnis vorliegen.«

»Wirklich?« wiederholte Gregory.

In Mr. Barters Zügen ging eine Veränderung vor. Vorher waren sie ernst gewesen, aber jetzt erschienen sie finster und drohend.

»Ich sage Ihnen«, fuhr er fort, »dieser Scheidungsangelegenheit muß irgendwie – irgendwie ein Ende gemacht werden!«

Gregory wurde rot vor Empörung.

»Aus welchen Gründen? Ich wüßte nicht, daß mein Mündel zu Ihrem Sprengel gehört, Herr Pastor – oder daß, selbst wenn –«

Der Pfarrer fuhr auf ihn zu, den Kopf vorgeschoben, mit weit hervortretender Unterlippe.

»Wenn sie ihre Pflicht täte«, herrschte er ihn an, »dann gehörte sie dazu! Für mich handelt es sich nicht um die Frau, sondern um ihren Mann; er ist mein Pfarrkind, und ich sage Ihnen, diese Scheidung muß verhindert werden.«

Gregory konnte sich nicht länger beherrschen.

»Aus welchen Gründen?« fragte er noch einmal, vor Erregung bebend.

»Es ist nicht meine Absicht, auf Einzelheiten einzugehen«, entgegnete Mr. Barter; »aber wenn Sie mich dazu zwingen ...«

»Ich sehe mich mit Bedauern genötigt«, gab Gregory zurück.

»Ohne Namen zu nennen, behaupte ich, daß sie nicht das Recht hat, auf Scheidung zu klagen.«

»Das sagen Sie?« entgegnete Gregory, »Sie –«

Er konnte nicht weitersprechen.

»Sie werden mich nicht umstimmen, Mr. Vigil«, sagte der Pastor mit einem grimmigen, leisen Lächeln. »Ich muß meine Pflicht tun.«

Mit einer Willensanstrengung fand Gregory seine Selbstbeherrschung wieder.

»Sie haben da etwas gesagt, was nur ein Mann der Kirche ungestraft sagen durfte«, begann er eisig. »Wollen Sie sich, bitte, erklären.«

»Meine Erklärung«, entgegnete Mr. Barter, »ist, was ich mit diesen meinen Augen gesehen habe.«

Er hob diese Augen zu Gregory auf. Ihre Pupillen hatten sich zusammengezogen und waren wie Nadelspitzen; die hellgraue Iris darum hatte etwas verschwommen Glitzerndes, und das Weiße rundherum war blutunterlaufen.

»Wenn Sie es denn wissen wollen, mit meinen eigenen Augen habe ich gesehen, wie sie in diesem Gewächshaus da drüben einen Mann geküßt hat.«

Gregory hob die Hand auf:

»Sie wagen es!« rief er leise.

Wieder schob sich Mr. Barters spöttische Unterlippe weit vor.

»Ich wage noch viel mehr, Mr. Vigil«, sagte er, »wie Sie merken werden; und ich sage Ihnen nur das eine: Verhindern Sie diesen Rechtsstreit, oder ich verhindere ihn selbst!«

Gregory wandte sich zum Fenster. Als er zurückkam, war er scheinbar beruhigt.

»Sie haben gegen alles Feingefühl verstoßen«, begann er. »Bleiben Sie bei Ihrem Wahn, denken Sie, was Ihnen beliebt, tun Sie, was Ihnen beliebt. Die Sache geht weiter ihren Gang. Guten Abend, Herr Pastor.«

Er wandte sich rasch und verließ das Zimmer.

Mr. Barter machte ein paar Schritte. Die Worte ›Sie haben gegen alles Feingefühl verstoßen‹ wirbelten ihm durchs Hirn, bis ihm jedes Blutgefäß auf Gesicht und Hals zum Bersten angeschwollen war. Und mit einem heiseren Laut, wie der eines verwundeten Tieres, folgte er Gregory zur Tür. Sie fiel ihm vor der Nase ins Schloß. Und da er beim Eintritt in den geistlichen Stand dem Fluchen für immer entsagt hatte, war er einem Schlaganfall nahe. Plötzlich gewahrte er, daß Mrs. Pendyce von der Tür des Gewächshauses her zu ihm herübersah. Ihr Gesicht war beängstigend blaß, und vor diesen Augen mit den hochgezogenen Brauen gewann Mr. Barter einen Teil seiner Selbstbeherrschung wieder.

»Gibt's etwas Besonderes, lieber Herr Pastor?«

Er lächelte grimmig.

»Nein, gar nichts«, entgegnete er. »Ich möchte Sie nur bitten, mich zu beurlauben, das ist alles. Ich habe eine Angelegenheit meines Sprengels zu erledigen.«

Als er sich draußen im Freien befand, ging das Gefühl von Schwindel und Ersticken vorüber, ohne daß ihm leichter wurde. Er war eben zufällig an einen jener psychologischen Augenblicke geraten, der die wahre Natur des Menschen zu unmittelbarem Ausdruck bringt. Wenn er auch von sich freimütig zu sagen pflegte: ›Ja, ich bin hitzig, aber nicht lange‹, so hatte er doch infolge der Überlegenheit seiner Stellung nie Anlaß gehabt, seine Seelenstärke zu erproben. Er hatte sich seit Jahren so sehr daran gewöhnt, jedem Unbehagen sofort Ausdruck zu geben, daß ihm die ganze Gewalt seines altenglischen Temperaments nicht selbst zum Bewußtsein kam, nicht, wie häßlich er unter diesem Einfluß handeln konnte. Selbst in diesem Augenblick kam es ihm nicht zum Bewußtsein; er empfand nur ein maßloses Erstaunen über das ungeheuerliche Benehmen einem Manne seiner Stellung gegenüber, der einfach seine Pflicht erfüllte. Je mehr er nachdachte, desto unerhörter erschien es ihm, daß eine Frau, wie diese Mrs. Bellew, die Unverfrorenheit haben durfte, das Gesetz zu ihren Gunsten anzurufen – eine Frau, die nichts Besseres war als ein ganz gemeines Frauenzimmer – eine verheiratete Frau, die George Pendyce geküßt hatte! Mr. Barter wäre nicht wenig betroffen gewesen, hätte man ihm angedeutet, daß in seinem maßlosen Staunen etwas Rührendes lag; etwas Rührendes in dem Schauspiel, wie sein beschränkter Geist seine beschränkten Ansichten zum besten gab und mit einer so blinden Sicherheit seinen beschränkten Weg dahintappte unter den Himmelsweiten zwischen den Millionen ihm an Bedeutung gleicher Organismen. Und mit jedem Schritt, den er tat, wurde sein Entschluß fester, keine solche Vergewaltigung der Moral zu dulden – keine solche Mißachtung gegen Hussell Barter.

›Sie haben gegen alles Feingefühl gehandelt!‹ Diese Anklage war wie ein bohrender Stachel, der durch die Tatsache nichts von seinem Gift verlor, daß er absolut nicht begriff, worin die Roheit seines Benehmens zu suchen war. Aber er gab sich gar keine Mühe, es zu begreifen. Die Ungeheuerlichkeit der Beschuldigung gegen ihn, den Geistlichen und Gentleman, war allzu klar. Hier handelte es sich um eine Frage der Moral. Gegen George empfand er keinen Groll; die Frau war es, die seinen gerechten Zorn erregte. Er hatte bisher die Frauen vollkommen in seiner Macht gehabt, war bei ihnen sozusagen Herr über Leben und Tod gewesen. Das war einfach Unmoral! Er hatte es nie gebilligt, daß sie von ihrem Gatten fortging; er hatte sie überhaupt niemals gebilligt! Er schlug nun den Weg nach ›Die Föhren‹ ein.

Über die Hecken hinweg reckten schläfrige Kühe ihre Köpfe; ein Grünspecht ließ sich aus einiger Entfernung vernehmen. In den Maulbeersträuchern, die frühzeitig zu blühen begonnen hatten, summten die Bienen. Unter dem Frühlingslächeln entfaltete sich rings ein vielgestaltiges Leben auf den Feldern, unbekümmert um jene schwerfällige, dunkle Gestalt, die bedächtig den Wiesenweg entlang schritt, den Kopf unter einem breitrandigen Hut tiefgebeugt.

In einem mit einem alten Grauschimmel bespannten Mietswagen, dem einzigen der Station Worsted Skeynes, fuhr George Pendyce an dem einsamen Wanderer vorüber und beugte sich weit zurück, um nicht bemerkt zu werden. Er hatte den Ton in des Pfarrers Stimme an jenem Tanzabend im Rauchzimmer nicht vergessen. George hatte ein ebenso gutes Gedächtnis wie irgendein anderer. Während der alte Mietswagen, der nach Stall und Tabak roch, dahinratterte, saß George in eine Ecke gedrückt und heftete den finsteren Blick auf die Rückansicht des Kutschers und auf die Ohren des alten Grauschimmels. Er rührte sich nicht, bis der Wagen vor der Haustür hielt.

Sofort suchte er sein Zimmer auf und ließ hinuntersagen, daß er über Nacht dableibe. Seine Mutter vernahm die Botschaft mit einem aus Freude und Angst gemischten Gefühl, und sie zog sich hastig zum Dinner an, um ihn vorher noch sehen zu können. Als sie eben hinunter wollte, kam der Gutsherr ins Zimmer. Den ganzen Tag hatten ihn Sitzungen in Anspruch genommen, und er sah heute so trübe in die Zukunft, wie es ihm nur selten geschah.

»Weshalb hast du Vigil nicht zu Tisch dabehalten?« fragte er. »Ich hätte ihm Nachtzeug geben können. Ich wollte mit ihm über eine Lebensversicherung für mich sprechen; er weiß da Bescheid. Für die Erbschaftssteuer wird eine Menge Geld nötig sein. Und wenn die Radikalen ans Ruder kommen, soll's mich nicht wundern, wenn sie sie um fünfzig Prozent erhöhen.«

»Ich wollte ihn gern dabehalten«, entgegnete Mrs. Pendyce; »aber er ist abgereist, ohne sich zu verabschieden.«

»Ein wunderlicher Mensch!«

Einige Augenblicke lang stellte Mr. Pendyce Betrachtungen an über diese Manierlosigkeit. Er stellte in gesellschaftlichen Dingen hohe Ansprüche.

»Ich habe wieder Ärger mit diesem Peacock. Er ist der dickköpfigste – – weshalb bist du denn so eilig, Margery?«

»George ist angekommen.«

»George? So; na, er wird wohl bis zum Essen warten können. Ich habe dir allerlei zu erzählen. Wir verhandelten heute einen Fall von Brandstiftung. Der alte Quarryman war nicht da, und ich führte den Vorsitz. Es handelte sich um diesen Burschen, den Woodford, den wir schon wegen Wilddiebstahl verurteilt hatten – ein besonders schwerer Fall. Und kaum ist er heraus, fängt er schon wieder an. Sie versuchten, seine Unzurechnungsfähigkeit zu beweisen. Es ist der eklatanteste Fall von Rachsucht, der mir je vorgekommen ist. Wir haben ihn natürlich sofort verhaftet. Er wird streng verurteilt werden. Von allen Verbrechen ist Brandstiftung das –«

Mr. Pendyce fand nicht gleich das passende Wort, und er ging, leise durch die Zähne pfeifend, hinüber in sein Ankleidezimmer. Mrs. Pendyce eilte rasch hinaus in das Zimmer ihres Sohnes. Sie fand ihn in Hemdärmeln, damit beschäftigt, die Knöpfe an seinen Manschetten zu befestigen.

»Laß mich das machen, mein lieber Junge! Wie gräßlich man dir deine Manschetten stärkt! Es ist nett, dir mal ein bißchen helfen zu können!«

»Na, Mutter«, entgegnete George, »wie ist dir's ergangen?«

Über Mrs. Pendyces Gesicht flog ein halb besorgter, halb listiger Ausdruck, der etwas unendlich Rührendes hatte. ›Wie, fängt es schon an? Oh, bitte, weise mich nicht zurück!‹ schien er zu sagen.

»Danke, sehr gut, Lieber«, erwiderte sie laut. »Und dir?«

George vermied ihren Blick.

»So, so«, sagte er. »Ich habe letzte Woche beim ›City‹ sehr schlecht abgeschnitten.«

»Ist das ein Rennen?« fragte Mrs. Pendyce.

Und dabei sagte ihr ein dunkler Instinkt, daß er mit dieser schlimmen Nachricht nur so rasch herausgeplatzt war, um ihre Aufmerksamkeit abzulenken, denn George war nie ein ›Schreikind‹ gewesen.

Sie setzte sich auf die Sofalehne, und obgleich der Gong gleich ertönen mußte, ließ sie George herumtrödeln, damit er noch bei ihr bliebe.

»Hast du sonst nichts zu berichten, mein Junge? Mir scheint es eine Ewigkeit, daß wir dich nicht gesehen haben. Ich glaube, ich habe dir in meinen Briefen alle Neuigkeiten von hier erzählt. Daß im Pfarrhaus wieder ein Ereignis bevorsteht, hast du wohl gehört?«

»Schon wieder? Auf dem Weg hierher bin ich Barter begegnet. Er sah recht mißmutig aus, wie mir schien.«

Ein schmerzlicher Ausdruck kam in Mrs. Pendyces Augen.

»Oh, ich fürchte, nicht aus diesem Grunde, mein Junge.« Und: sie hielt inne; aber um ihre eigene Unruhe zu beschwichtigen, begann sie hastig von neuem: »Wenn ich gewußt hätte, daß du kommst, würde ich Cecil Tharp dabehalten haben. Vic hat so süße junge Hundchen; willst du eines davon? Sie haben alle die hübschen schwarzen Flecke um die Augen.«

Sie beobachtete ihn, wie nur eine Mutter beobachten kann; verstohlen, aufmerksam, besorgt folgte sie jeder Regung, jeder leisen Veränderung in seinem Gesicht und erkannte, was sich hinter all dem barg: die Not und Unruhe seines Herzens.

›Irgend etwas macht ihn unglücklich!‹ dachte sie. ›Er ist verändert, seitdem ich ihn zuletzt sah, und es ist nichts aus ihm herauszubekommen. Mir ist, als wäre ich so fern von ihm – so fern! –‹

Und irgendwoher wußte sie, daß er heute abend herausgekommen war, weil er sich einsam und unglücklich fühlte und instinktiv bei ihr Zuflucht suchte.

Aber sie empfand, daß jeder Versuch, sich ihm zu nähern, ihn nur bewogen hätte, sie weit von sich zu weisen, und das konnte sie nicht ertragen. So stellte sie keinerlei Fragen und bot ihre ganze Willenskraft auf, um den Schmerz, den sie empfand, vor ihm zu verbergen.

Ihren Arm in dem seinen, ging sie hinunter. Sie stützte sich schwer auf ihn, als versuchte sie noch einmal, ihm ganz nahe zu kommen; und dabei nicht mehr an das Gefühl zu denken, das sie den ganzen Winter über gehabt – das Gefühl, aus seinem Leben ausgeschlossen zu sein, das Gefühl, daß Heimlichkeit und ängstliche Zurückhaltung zwischen ihnen standen.

Im Wohnzimmer waren Mr. Pendyce und die beiden Mädchen.

»Tag, George«, sagte der Hausherr. »Freut mich, daß du da bist. Wie kannst du nur um diese Jahreszeit in London stecken? Aber jetzt, wo du nun mal da bist, könntest du ein paar Tage hier bleiben. Du sollst dich mal umtun auf dem Gut; du bist ja ganz fremd in allem. Ich kann jeden Augenblick mit dem Tode abgehen, wer weiß denn das! Entschließe dich kurz und bleib!«

George warf ihm einen unsicheren Blick zu.

»Tut mir leid«, entgegnete er. »Ich habe eine Verabredung in der Stadt.«

Mr. Pendyce erhob sich und stellte sich mit dem Rücken gegen den Kamin.

»Da haben wir's«, meinte er. »Ich wünsche etwas von dir, was zu deinem eigenen Besten ist – und – du – du hast eine Verabredung. So ist's immer, und deine Mutter unterstützt dich noch darin. Bé, geh und spiel etwas!«

Dem Gutsherrn war es gräßlich, sich etwas vorspielen zu lassen, aber es fiel ihm im Augenblick kein anderer Befehl ein, der Aussicht auf Befolgung hatte.

Die Abwesenheit von Gästen verursachte keinen wesentlichen Unterschied bei dem festlichen Vorgang, der auf Worsted Skeynes als Höhepunkt des Tages galt. Nur die Zahl der Gänge war auf sieben herabgemindert, und es gab keinen Sekt. Der Hausherr trank kaum mehr als ein Glas Rotwein – »Ja«, pflegte er zu sagen, »mein guter, alter Vater trank sein ganzes Leben hindurch jeden Abend eine Flasche Rotwein, und es machte ihm gar nichts. Wenn ich mich an dieses Quantum halten sollte, wäre ich in einem Jahr ein toter Mann.«

Die Töchter tranken Wasser. Mrs. Pendyce, die eine heimliche Vorliebe für Sekt hatte, trank sehr wenig von einem spanischen Burgunder, den Mr. Pendyce zu mäßigem Preis für sie besorgte. Sie bot George etwas davon an.

»Versuch meinen Burgunder, Lieber; er schmeckt so angenehm.«

Aber George dankte und bat um Whisky und Soda, indem er dem Diener zublinzelte, der die vielversprechend gelbe Mischung bald hereinbrachte.

Unter der Einwirkung des Mahls gewann der Hausherr seinen Gleichmut wieder, wenn er auch noch ziemlich skeptisch in die Zukunft sah.

»Ihr jungen Leute«, begann er mit einem freundlichen Blick auf George, »seid solche Individualisten. Ihr macht einen Beruf daraus, euch zu amüsieren. Mit eurem Kartenspiel und Rennen und eurem Billard und was sonst noch, seid ihr aufgebraucht, noch ehe ihr an die fünfzig kommt. Ihr gebt eurer Phantasie nichts zu tun! Ein grünes, blühendes Alter soll euer Ideal sein, statt dessen ist's offenbar eine grüne Jugend. Ah, geht mir doch!«

Mr. Pendyce sah seine Töchter an, bis sie sagten:

»Oh, Papa, wie kannst du nur!«

Nora, die die Energischere von beiden war, fügte hinzu:

»Ist Papa nicht manchmal schrecklich, Mutter?«

Aber Mrs. Pendyce sah ihren Sohn an. Wie oft hatte sie sich danach gesehnt, ihn dort sitzen zu sehen!

»Wir wollen heute abend eine Partie Piquet spielen, George!«

George blickte auf und nickte mit trübem Lächeln.

Auf dem dicken, weichen Teppich, gingen die Diener geschäftig hin und her. Das Licht der Wachskerze warf einen matten Schimmer auf das Silbergerät und die Blumen und Früchte, auf den weißen Hals der Mädchen, auf Georges Gesicht mit seinen frischen Farben und auf sein blendend weißes Frackhemd. Es spiegelte sich in den Edelsteinen an Mrs. Pendyces schlanken, weißen Fingern und ließ die aufrechte, noch so elastische Gestalt des Hausherrn günstiger hervortreten. Die Luft war süß und schwer vom Duft der Narzissen und Azaleen. Bé saß da mit verträumten Augen und dachte an den jungen Tharp, der ihr heute gesagt hatte, daß er sie liebe. Sie war neugierig, ob Papa einverstanden sein würde. Ihre Mutter dachte an George, während sie sein trübsinniges Antlitz heimlich beobachtete. Man hörte nur das Klappern der Messer und Gabeln und Noras und des Hausherrn Stimmen, die von gleichgültigen Dingen sprachen. Draußen, jenseits der hohen Fenster lag das weite, schweigende Land; der Vollmond hing aprikosenfarben und wie eine Münze gezeichnet über den Zedern, und unter seinem Lichte lagen die raunenden Flächen der stillen Felder halb verzaubert, halb verschlafen da; und über den schmalen Kreis des Mondlichts hinaus war. alles unergründliches, wesenloses Dunkel, ein großes Dunkel, das den Augen der Menschen da drinnen die ruhelose Welt verhüllte.

 


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