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Neuntes Kapitel

Paramor lenkt

Mrs. Pendyce, die, dem Wunsche ihres Gatten entsprechend, das Zimmer noch immer mit ihm teilte, wählte die zehn Minuten vor seinem Aufstehen, um ihm von Gregorys Entschluß Kenntnis zu geben. Der Augenblick war günstig, denn der Hausherr war erst halb wach.

»Horace«, begann sie, und ganz jung und ängstlich sah sie dabei aus, »Grig meint, man dürfe Helen Bellew nicht länger in ihrer jetzigen Position lassen. Natürlich sagte ich ihm, wie peinlich dir das sein würde, aber Grig meint, daß es so nicht weitergeht und daß sie sich von Hauptmann Bellew einfach scheiden lassen muß.«

Mr. Pendyce lag ausgestreckt auf dem Rücken.

»Was ist das für eine Geschichte?« rief er.

Mrs. Pendyce fuhr fort:

»Ich wußte, du würdest dich darüber aufregen; aber wirklich –« sie heftete die Augen auf die Zimmerdecke, »wir sollten doch nur an Helen denken!«

Der Gutsherr richtete sich auf.

»Was war das mit Bellew?« fragte er.

Mrs. Pendyce fuhr, ohne den Blick von der Decke abzuwenden, mit zaghafter Stimme fort:

»Ärgere dich nicht mehr als nötig, Lieber; es hilft wirklich nichts. Wenn Grig meint, sie soll sich von Hauptmann Bellew scheiden lassen, so wird es wohl das richtige sein.«

Horace Pendyce ließ sich mit einem Ruck in die Kissen zurückfallen, und nun lag er da und hielt die Augen gleichfalls auf die Zimmerdecke geheftet.

»Sich von ihm scheiden lassen!« rief er aus. – »Ich sollt's meinen! Aufhängen sollte man ihn – diesen Burschen! Du weißt, gestern nachmittag hat er mich fast überfahren. Lebt sich daher, wie's ihm paßt, gibt der ganzen Umgebung so ein Höllenbeispiel! Hätte mich beinahe wie einen Kegel umgerannt, wenn ich nicht so aufgepaßt hätte, und Bé obendrein.«

Mrs. Pendyce seufzte auf.

»Gottlob, daß es so ausging!« sagte sie.

»Sich von ihm scheiden lassen!« begann Mr. Pendyce von neuem, – »na natürlich! Sie hätte sich längst scheiden lassen sollen. Um ein Haar war's aus mit mir; einen Schritt näher heran – und meine Beine wären fort gewesen!«

Mrs. Pendyce wandte jetzt die Augen von der Zimmerdecke fort.

»Anfangs«, meinte sie, »fragte ich mich, ob es auch so ganz – aber ich bin sehr froh, daß du es so auffaßt!«

»Auffaßt! Ich kann dir sagen, so eine Gefahr gibt einem zu denken. Gestern abend während der ganzen Predigt von Barter, da habe ich mich immerfort gefragt, was wohl mit dem Gut geworden wäre, wenn – wenn«... Und stirnrunzelnd blickte er um sich. »Mir fällt's schon schwer genug, das Nötige aufzubringen. Na, und George, der würde es vorläufig nicht besser zu bewirtschaften verstehen als du; es käme auf einen Verlust von Tausenden heraus!«

»Ich fürchte, George ist zu viel in London. Das war auch der Grund, weshalb ich mich fragte, ob – ich fürchte, er sitzt zu viel bei –«

Mrs. Pendyce hielt inne; das Blut schoß ihr ins Gesicht; sie hatte sich unter der Bettdecke heftig gezwickt.

»George«, meinte Mr. Pendyce, seine eigenen Gedanken verfolgend, »hat so wenig Verständnis. Er würde niemals mit einem Menschen wie Peacock fertig werden – und du bestärkst ihn immer noch. Er soll heiraten und sich seßhaft machen.«

Mrs. Pendyce entgegnete, während die Röte in ihrem Gesicht verblaßte:

»George hat viel Ähnlichkeit mit dem armen Hubert.«

Horace Pendyce zog seine Uhr unter dem Kopfkissen hervor.

»Ach«, – aber er verzichtete darauf, fortzufahren: › Deine Familie!‹ denn Hubert Totteridge war seit kaum einem Jahre tot. »Zehn Minuten vor acht! und du lässest mich hier schwatzen! Ich sollte längst im Bade sein!«

In seinem Pyjama mit den sehr breiten, blauen Streifen, hoch und schlank, grauäugig und mit grauem Schnurrbart, blieb er an der Tür stehen.

»Die Mädchen haben keine Spur von Phantasie! Was glaubst du wohl, daß Bé gesagt hat? ›Hoffentlich hat er den Zug noch gekriegt.‹ Den Zug noch gekriegt! Du meine Güte! Und ich wäre – um ein Haar – wäre um ein Haar –« Der Gutsherr führte den Satz nicht zu Ende; nur sehr scharfe, lebhafte Ausdrücke hätten seine Auffassung von der Gefahr, der er entronnen war, wiedergegeben; und es war gegen seine Natur und seine Erziehung, von einem körperlichen Wagnis viel herzumachen.

Beim Frühstück zeigte er sich liebenswürdiger als sonst zu Gregory, der mit dem ersten Zug wieder fort wollte. Im allgemeinen traute er ihm nicht recht, wie das häufig vorkommt gegenüber einem Vetter der Frau, besonders wenn man dessen Spottlust zu fürchten hat.

›Ein sehr braver Mensch‹, pflegte er von ihm zu sagen, ›aber durch und durch radikal.‹ Es war die einzige Etikette, die er für Gregorys Eigentümlichkeit finden konnte.

Gregory reiste ab, ohne daß er noch einmal auf den Anlaß seines Besuchs zurückgekommen wäre. Der erste Reitknecht fuhr ihn im Coupé zur Station; und er saß dann ohne Hut, den Kopf zum Fenster hinausgebeugt, als ob er sich irgend etwas aus dem Gehirn hinausblasen lassen wollte. Doch während der ganzen Fahrt im Zug sah er zum Fenster hinaus, und dabei spielte auf seinem Gesicht ein Ausdruck, der halb Belustigung, halb Verwirrung war. Wie ein langsam sich abrollendes Panorama, so zog Herrenhaus auf Herrenhaus, Kirche auf Kirche im Herbstsonnenschein an seinem Auge vorüber, inmitten der Hecken und Wiesen, die ganz braun und golden schimmerten; und weit in der Ferne, auf dem hügeligen Wiesenland, schritt gemächlich der Landmann hinter seinem Pflug, und seine Silhouette zeichnete sich scharf gegen den Himmel ab.

Am Bahnhof nahm er einen Wagen, der ihn zu seinem Anwalt in Lincoln's Inn Fields brachte. Dort wurde er in ein Zimmer gewiesen, das, abgesehen von einigen Bänden Gerichtsentscheidungen, keinerlei Kanzlei-Einrichtung zeigte. Und in einem Glas frischen Wassers stand ein Bund Veilchen. Edmund Paramor, der ältere Teilhaber der Kanzlei Paramor und Herring, ein glattrasierter Sechziger mit eisengrauem, kurz geschnittenem, zu einer Bürste hochgestrichenem Haar, begrüßte ihn mit einem Lächeln. »Ah, Vigil, grüß Gott! Willkommen! Waren auf dem Lande, was?« – »Auf Worsted Skeynes.«

»Horace Pendyce gehört zu meinen Klienten. Also was gibt's? Ist Ihre Gesellschaft in Kalamitäten?«

Gregory Vigil saß in dem gepolsterten Lederstuhl, der schon so viele Trostsuchende beherbergt hatte, eine ganze Minute lang, ohne zu sprechen; und auch Mr. Paramor blieb regungslos und ernst sitzen nach einem forschenden Blick auf seinen Klienten, einem Blick, der sehr tief aus seiner Seele heraufzukommen schien. In dieser Sekunde lag in den Augen der beiden sonst so verschiedenen Männer eine gewisse Ähnlichkeit – ein Ausdruck von gleicher Aufrichtigkeit und Vornehmheit. Gregory begann endlich zu sprechen.

»Es handelt sich um eine mir sehr peinliche Angelegenheit.«

Mr. Paramor zeichnete ein Gesicht auf sein Löschblatt.

»Ich komme«, fuhr Gregory fort, »wegen der Scheidung meines Mündels.«

»Mrs. Jaspar Bellew?«

»Ja; ihre Position ist unhaltbar.«

Mr. Paramor sah ihn forschend an.

»Hm! Wenn ich mich nicht irre, lebt sie seit einiger Zeit von ihrem Manne getrennt?«

»Ja; seit zwei Jahren.«

»Sie handeln natürlich mit ihrer Zustimmung?«

»Ich habe ihr die Sache vorgestellt.«

»Sie kennen das Scheidungsgesetz, nehme ich an?«

Gregory entgegnete mit gequältem Lächeln:

»Nicht sehr genau; ich sehe diese Berichte in der Zeitung kaum an. Schon der Gedanke daran ist mir zuwider!«

Mr. Paramor lächelte ein wenig, wurde sofort wieder ernst und sagte:

»Wir werden Beweise brauchen für gewisse Dinge. Haben Sie irgendwelche Beweise in Händen?«

Gregory fuhr sich mit der Hand durchs Haar.

»Ich glaube, es wird keine Schwierigkeiten geben«, sagte er. »Bellew willigt in die Scheidung – sie sind beide einverstanden.«

Mr. Paramor sah ihn erstaunt an.

»Was hat das hiermit zu tun?«

»Nun, wenn beide Parteien es wollen«, warf Gregory hastig ein, »und von keiner Seite ein Widerspruch zu fürchten ist, da kann es doch keine Schwierigkeiten geben!«

»Ach, du meine Güte!« sagte Mr. Paramor.

»Aber ich habe mit Bellew gesprochen. Erst gestern. Ich glaube sicher, ich bringe ihn dazu, alles zuzugestehen, was Sie verlangen.«

Mr. Paramor pfiff leise durch die Zähne.

»Haben Sie je einmal«, fragte er trocken, »etwas von ›Kollusion‹ gehört?«

Gregory erhob sich und ging durch das Zimmer.

»Meines Wissens habe ich überhaupt nie etwas Näheres über diese Dinge gehört«, entgegnete er. »Die ganze Sache ist mir verhaßt. Für mich ist die Ehe etwas Heiliges, und sollte sie sich, was Gott verhüte, als entheiligt erweisen, dann ist's schrecklich genug, daß man mit all diesen Formalitäten zu tun hat. Wir leben in einem christlichen Staat; wir sind alle von Fleisch und Blut. Wozu der Schmutz, Paramor?«

Nach diesem Ausbruch sank er in seinen Stuhl zurück und stützte den Kopf in die Hand. Und sonderbar, statt zu lächeln, sah Mr. Paramor mit einem tief forschenden Blick auf ihn hinab.

»Zwei unglückliche Menschen dürfen nicht zeigen, daß sie beide gesonnen sind, voneinander zu gehen«, sagte er. »Einer muß so tun, als ob er den andern nicht loslassen wolle und als ob man ihm Unrecht zugefügt hätte. Es müssen irgendwelche Beweise da sein von Untreue, Mißhandlung oder böswilligem Verlassen. Die Beweise müssen unanfechtbar sein. So lautet das Gesetz.«

Gregory fragte, ohne aufzublicken:

»Aber warum?«

Mr. Paramor nahm die Veilchen aus dem Wasser und hielt sie an seine Nase.

»Was heißt das, warum?«

»Ich meine, warum dieses verlogene, umständliche Verfahren.«

Auf Mr. Paramors Gesicht wich der ernst forschende Ausdruck unglaublich rasch einem Lächeln.

»Nun«, meinte er, »zur Aufrechterhaltung der Moral. Was glaubten Sie

»Nennen Sie es moralisch, die Menschen so aneinander zu ketten, daß sie erst sündigen müssen, um frei zu werden?«

Mr. Paramor durchstrich das Gesicht auf dem Löschblatt.

»Wo haben Sie denn Ihren Humor?« fragte er.

»Ich sehe da nichts Spaßhaftes, Paramor!«

Mr. Paramor lehnte sich nach vorn.

»Lieber Freund«, begann er ernst, »ich behaupte keinen Augenblick, daß unser Rechtssystem nicht Ursache einer ganzen Reihe höchst überflüssiger Unannehmlichkeiten und Qualen ist. Ich behaupte nicht, daß es keiner Reform bedürfe. Die meisten Anwälte, ja die meisten denkenden Menschen werden Ihnen diese Notwendigkeit zugestehen. Aber das ist ein weitgreifendes Thema, das uns in diesem Falle nicht vorwärts bringt. Wir wollen ihre Angelegenheit zu ordnen suchen, wenn es sich machen läßt. Sie haben es nur falsch angefangen; das ist alles. Zuerst müssen wir mal an Mrs. Bellew schreiben und sie hierherbitten. Bellew wird beobachtet werden müssen.«

Gregory entgegnete:

»Das ist widerwärtig. Können wir darauf nicht verzichten?«

Mr. Paramor kaute an seinem Zeigefinger.

»Nicht gut«, meinte er. »Aber machen Sie sich keine Sorgen; wir wollen schon dazu sehn.«

Gregory stand auf und trat ans Fenster. Unvermittelt sagte er:

»Mir sind diese Schleichwege unerträglich.«

Mr. Paramor lächelte.

»Jeder ehrliche Mensch empfindet wie Sie«, meinte er. »Aber, nicht wahr, wir müssen das Gesetz bedenken!«

Gregory fuhr wieder auf:

»Kann man also keine Scheidung erlangen, ohne sich zur Bestie oder zum Spion zu erniedrigen?«

Mr. Paramor entgegnete ernst:

»Es ist sonst wenigstens schwierig, wenn nicht unmöglich. Denn sehen Sie, das Gesetz beruht auf bestimmten Grundsätzen.«

»Grundsätzen?«

Ein Lächeln huschte um Mr. Paramors Lippen, erstarb aber sofort wieder.

»Auf kirchlichen Grundsätzen nämlich; und denen zufolge deklassiert sich derjenige, der eine Scheidung zu erlangen sucht, ipso facto. Daß er dabei zum Spion oder zur Bestie wird, fällt nicht so schwer ins Gewicht.«

Gregory kam an den Tisch zurück und vergrub wieder den Kopf in seinen Händen.

»Bitte, nehmen Sie die Sache nicht scherzhaft, Paramor«, sagte er; »sie ist mir zu schmerzlich.«

Mr. Paramors Augen gingen forschend über seines Klienten Haupt.

»Ich scherze nicht«, entgegnete er. »Das verhüte Gott! Lesen Sie Lyrik?«

Er zog ein Schubfach auf und nahm ein in rotes Leder gebundenes Buch heraus. »Den da liebe ich!

›Das Leben ist meist Schlamm und Tand;
Nur zweierlei hat Felsbestand:
Verständnis für des andern Schmerz,
Im eigenen ein starkes Herz!‹

Das scheint mir die Summe aller Philosophie.«

»Paramor«, begann Gregory, »mein Mündel ist mir sehr wert; sie ist mir mehr als irgendeine Frau, die ich kenne. Ich befinde mich da in einem furchtbaren Dilemma. Auf der einen Seite sehe ich dies ganze lichtscheue, an die Öffentlichkeit gezerrte Verfahren, und auf der andern ihre Lage: eine schöne Frau, die heiteres Leben liebt und in London allein dasteht; in diesem London, wo sie Freiwild ist für die niedrigen Instinkte der Männer und die Klatschsucht der Frauen. Das ist mir erst vor kurzem allzu schmerzlich zum Bewußtsein gebracht worden. Gott mag mir vergeben! Ich habe ihr sogar geraten, zu Bellew zurückzukehren – aber das scheint gänzlich ausgeschlossen. Was soll ich nun tun?«

Mr. Paramor erhob sich.

»Ich verstehe«, sagte er, »ich verstehe sehr wohl. Lieber Freund ich verstehe!« Und eine Weile blieb er von Gregory ein wenig abgewandt, regungslos stehen. »Es wird richtiger für sie sein«, meinte er dann plötzlich, »daß sie sich endgültig von ihm trennt. Ich will selbst zu ihr. Wir wollen sie so weit wie möglich schonen. Ich werde sie heute nachmittag aufsuchen und Ihnen dann das Resultat mitteilen.«

Und wie aus einem gleichen Instinkt heraus, streckten sie einander die Hände entgegen, die sie sich mit abgewandtem Gesicht drückten. Dann griff Gregory nach seinem Hut und verließ das Zimmer.

Er ging direkt ins Büro seines Vereins am Hanover Square. Es befand sich im obersten Stockwerk, höher als irgendein anderes Vereinsbüro in diesem Hause – tatsächlich so hoch, daß man von seinen Fenstern aus, die erst fünf Fuß über dem Boden anfingen, nichts als den Himmel sah.

Ein schmalschulteriges Mädchen mit roten Wangen und dunklen Augen saß in einer Ecke an einer Schreibmaschine, und etwas seitwärts an einem Schreibtisch, auf dem adressierte Briefumschläge, unbeantwortete Briefe und einzelne Exemplare der Vereinsberichte umherlagen, war eine grauhaarige Dame mit länglichem, hagerem, verwittertem Gesicht und schimmernden Augen beschäftigt, die über einem Manuskriptblatt die Stirn kraus zog.

»Ach, Mr. Vigil«, rief sie, »gut, daß Sie kommen. Dieser Absatz darf nicht so fort, wie er da ist. Das geht nicht!«

Gregory nahm den Entwurf und las den fraglichen Abschnitt.

»Der Fall Eve Nevills ist so schrecklich, daß wir an diejenigen unserer Leserinnen appellieren, die in der sicheren Hut, vielleicht im Überfluß, gewiß aber im Frieden ihres ländlichen Heimes leben, und an sie die Frage richten: ›Was hättet ihr getan, wenn ihr euch plötzlich in der Lage jenes armen Mädchens befunden hättet – in einer großen Stadt, ohne Freunde, ohne Mittel, fast ohne die notwendigste Kleidung – preisgegeben all den Fallstricken jener Teufel in Menschengestalt, die Jagd machen auf unsere schutzlosen Frauen?‹ Möge jede sich selbst fragen: Würde ich standhaft geblieben sein, wo jene zu Fall kam?«

»Wir sollten das nicht so verschicken!« wiederholte die Frau.

»Wo fehlt's denn, Mrs. Shortman?«

»Es ist zu persönlich. Denken Sie an Lady Malden und an die meisten unserer Abonnenten. Sie können nicht verlangen, daß die sich in die Lage jener armen Eva hineinversetzen. Ich bin überzeugt, es wird ihnen peinlich sein.«

Gregory fuhr sich in die Haare.

»Ist es möglich, daß sie so etwas nicht hören wollen?« fragte er.

»Ich meine nur, Sie haben so schreckliche Einzelheiten von der armen Eva erzählt.«

Gregory erhob sich und ging durchs Zimmer.

Mrs. Shortman fuhr fort:

»Sie haben nicht lange genug auf dem Lande gelebt, Mr. Vigil. Aber ich kenne das. Die Leute wollen ihr Gemüt nicht beunruhigen. Überdies bedenken Sie, wie schwer es für diese Menschen sein mag, sich in dergleichen Situationen hineinzuversetzen. Es würde sie nur abstoßen und unserer Verbreitung Abbruch tun.«

Gregory griff nach dem Blatt und reichte es dem Mädchen hin, das an der Schreibmaschine in der Ecke saß.

»Lesen Sie das, bitte, Miß Mallow!«

Das Mädchen las, ohne den Blick zu erheben.

»Nun, ist es so, wie Mrs. Shortman meint?«

Errötend gab sie das Blatt zurück.

»Es ist an sich natürlich ausgezeichnet, aber mir scheint, Mrs. Shortman hat recht. Es könnte manche Leser verletzen.«

Gregory ging hastig zum Fenster, stieß es auf und blieb dort stehen, indem er zum Himmel hinaufblickte. Die beiden Frauen sahen zu ihm hinüber.

Mrs. Shortman sagte leise:

»Ich würde es nur etwa so abändern, nach der Stelle:›ihres ländlichen Heimes‹ – ›ob ihr nicht Mitleid habt mit diesem armen Mädchen und ihm vergebt, da es in einer großen Stadt, ohne Freunde, ohne Mittel, fast ohne die notwendigste Kleidung preisgegeben war all den Fallstricken jener Teufel in Menschengestalt, die Jagd machen auf unsere schutzlosen Frauen!‹ und da Schluß machen.«

Gregory trat wieder an den Tisch.

»Nicht das Wort › vergeben ‹«, sagte er, »nicht dieses Wort vergeben

Mrs. Shortman griff nach der Feder.

»Sie wissen nicht«, meinte sie, »wie streng diese Menschen in ihrer Auffassung sind! Bedenken Sie, in wie vielen Pfarrhäusern das Blatt gelesen wird, Mr. Vigil. Unser Grundsatz war immer, möglichst vorsichtig zu sein. Und diesen Fall haben Sie schärfer geschildert, als Sie es sonst zu tun pflegen. Nicht etwa, daß die Leserinnen sich nun wirklich in die Lage des Mädchens hineinversetzen könnten, denn das ist einfach nicht möglich. Von hundert Frauen könnte es nicht eine, besonders nicht von denen, die auf dem Lande sind und die vom Leben draußen nichts gesehen haben. Ich bin selbst die Tochter eines Gutsbesitzers.«

»Und ich eines Pfarrers«, sagte Gregory mit einem Lächeln.

Mrs. Shortman sah ihn vorwurfsvoll an.

»Scherz beiseite, Mr. Vigil, unser Blatt hält sich ohnedies nur so mühsam über Wasser; wir dürfen wirklich nichts riskieren. Ich habe in letzter Zeit eine Unmenge Briefe bekommen mit Klagen darüber, daß wir die einzelnen Fälle überflüssig kraß darstellen. Da ist gleich einer:

Pfarrhaus Bournefield, 1. November.

Sehr geehrte Frau!

Trotz aller Sympathie für Ihre gemeinnützigen Bestrebungen kann ich zu meinem Bedauern nicht Abonnentin Ihres Blattes werden, solange es seine jetzige Tendenz beibehält, weil es mir nicht immer ganz geeignet scheint als Lektüre für meine Töchter. Ich halte es weder für recht noch weise, ihnen so trostlose Lebensbilder vor Augen zu führen, wie wahr sie auch immer sein mögen.

Ich bin, sehr geehrte Frau

Ihre ganz ergebene
Winnifred Tuddenham.

P. S. Ich würde auch immer befürchten müssen, daß meinen Dienstboten das Blatt in die Hände kommt und da Schaden anrichtet.

Dieses Schreiben erhielt ich erst heute morgen.«

Gregory vergrub sein Gesicht in den Händen, und wie er dasaß, glich er so sehr einem Menschen, der betet, daß niemand zu reden wagte. Endlich hob er den Kopf und sagte:

»Nicht das Wort ›vergeben‹, Mrs. Shortman, nicht dieses Wort ›vergeben‹!«

Mrs. Shortman durchstrich das Wort.

»Schön, Mr. Vigil«, meinte sie; »aber es ist gefährlich!«

Das Geräusch der Schreibmaschine, das eine Weile verstummt war, ließ sich aus der Ecke von neuem vernehmen.

»Bei dem Fall von Trunksucht, den wir noch da haben, Mr. Vigil – die Millicent Porter – ist, fürchte ich, wenig zu hoffen!«

Gregory fragte:

»Was gibt's denn?«

»Wieder ein Rückfall; zum fünftenmal.«

Gregory wandte das Gesicht nach dem Fenster und blickte zum Himmel hinauf.

»Ich muß mit ihr reden. Bitte sagen Sie mir die Adresse!«

Mrs. Shortman las aus einem grünen Buch:

»Mrs. Porter. Bilcock-Buildings Nr. 2. Bloomsbury, Mr. Vigil!«

»Nun?«

»Mr. Vigil, manchmal wünschte ich, Sie würden sich mit dergleichen aussichtslosen Fällen nicht so lange aufhalten; es ist doch meist zwecklos. Und Ihre Zeit ist so kostbar.«

»So rasch die Flinte ins Korn werfen? Das kann ich nicht!«

»Aber, Mr. Vigil, irgendwo müssen Sie doch die Grenze ziehen! Verzeihen Sie, aber manchmal, scheint mir, vergeuden Sie Ihre schöne Zeit!«

Gregory wandte sich zu dem jungen Mädchen an der Schreibmaschine.

»Miß Mallow! Geben Sie Mrs. Shortman recht? Vergeude ich meine Zeit?«

Das Mädchen an der Schreibmaschine errötete lebhaft und sagte, ohne sich umzuwenden:

»Wie kann ich das beurteilen, Mr. Vigil? Aber leid tut's einem.«

Ein belustigtes und erstauntes Lächeln huschte um Gregorys Lippen.

»Jetzt weiß ich, daß ich sie heilen werde«, sagte er. »Bilcock-Buildings Nr. 2.« Und er fuhr fort, nach dem Himmel zu blicken. »Wie geht es mit Ihrer Neuralgie, Mrs. Shortman?«

Die Angeredete lächelte.

»Miserabel.«

Gregory wandte sich hastig um.

»Da spüren Sie gewiß den Zug! Entschuldigen Sie, bitte!«

Mrs. Shortman schüttelte den Kopf.

»Ich nicht; aber vielleicht Molly.«

Das Mädchen an der Schreibmaschine sagte hastig:

»O nein, bitte, Mr. Vigil, meinetwegen brauchen Sie es nicht zu schließen.«

»Wahr und wahrhaftig?«

»Wahr und wahrhaftig«, entgegneten die beiden Frauen. Und alle drei sahen einen Augenblick zum Himmel hinauf. Dann begann Mrs. Shortman:

»Nämlich, Mr. Vigil – an die Wurzel des Übels kommen Sie doch nicht heran – das ist ihr Mann!«

Gregory wandte sich herum.

»Ah, der Mann!« wiederholte er. »Wenn sie den nur loswerden könnte! Das hätte längst geschehen müssen – ehe er ihr das Trinken angewöhnt hat! Warum ist sie nicht von ihm gegangen – warum nicht, Mrs. Shortman?«

Mrs. Shortman hob die Augen, die einen so eigentümlichen vergeistigten Schimmer hatten.

»Ich denke mir, es fehlte ihr am nötigen Geld«, meinte sie; »und sie muß damals eine anständige Frau gewesen sein. Eine anständige Frau läßt sich nicht gern scheiden –«

Gregory sah sie an.

»Wie, Mrs. Shortman, Sie auch – Sie unter den Pharisäern?«

Mrs. Shortman wurde rot.

»Sie wollte ihn retten«, sagte sie rasch; »ganz gewiß wollte sie ihn retten.«

»Oh, Sie und ich –« Aber Gregory vollendete den Satz nicht und wandte sich wieder dem Fenster zu. Auch Mrs. Shortman blickte ängstlich zum Himmel hinauf und biß sich auf die Lippen.

Miß Mallow ließ mit besorgtem Gesicht ihre Finger noch rascher als sonst über die Schreibmaschine gleiten.

Gregory war der erste, der wieder sprach.

»Sie müssen schon entschuldigen«, sagte er freundlich. »Eine persönliche Angelegenheit – ich habe mich hinreißen lassen.«

Mrs. Shortman wandte die Augen vom Himmel fort.

»Oh, Mr. Vigil, wenn ich geahnt hätte –«

Gregory lächelte.

»Nicht doch, nicht doch!« wehrte er. »Wir haben die arme Miß Mallow ordentlich erschreckt!«

Miß Mallow sah zu ihm hinüber; er sah sie an, und alle drei sahen sie wieder nach dem Himmel. Es war die einzige Zerstreuung für die kleine Gesellschaft.

Gregory arbeitete bis drei Uhr; dann ging er in eine Konditorei, um eine Tasse Kaffee und ein Stückchen Kuchen zum Lunch zu nehmen. Danach bestieg er einen Omnibus, setzte sich oben hinauf und fuhr nach dem Westen mit einem Lächeln auf den Lippen und dem Hut in der Hand. Er dachte an Helen Bellew. Es war ihm zur Gewohnheit geworden, an sie zu denken, an die Beste und Schönste ihres Geschlechts – zu einer Gewohnheit, in der er allmählich grau wurde, und die er deshalb nicht mehr missen konnte. Und alle die Frauen, die ihn mit freiem Kopf dasitzen sahen, lächelten und dachten:

›Was für ein schöner Mann!‹

Aber George Pendyce, der ihn vom Fenster des ›Stoiker-Klubs‹ aus vorüberfahren sah, lächelte ein anderes Lächeln; Vigils Anblick rief in ihm ein leises Gefühl des Unbehagens hervor.

Die Natur, die Gregory Vigil als Mann geschaffen, hatte längst bemerkt, daß er ihrer Macht entglitten war und fast wie ein Mönch lebte, ohne jede Frauengesellschaft; selbst jenen armen Geschöpfen stand er fern, denen er Beschützer war; und die Natur, die es nicht duldet, daß der Mensch sich ihrer Obhut entzieht, rächte sich an ihm durch seine Nerven und häufig auftretenden Blutandrang nach dem Kopf. Absonderlichkeit kann ich nicht brauchen, sagte sie, und als ich diesen Mann schuf; schuf ich ihn gerade absonderlich genug. Denn sein Temperament ist – nichts Seltenes in einem nebligen Klima – von Natur sieben Fuß groß, und wie ein Mensch seinem Wuchs nicht einen Zoll hinzufügen kann, so ist er auch nicht imstande, ihm einen davon zu nehmen. Für Gregory war der Gedanke unerträglich, daß ein Neger immer ein Neger bleiben sollte, und er hoffte, ihn durch Sorgfalt und zweckmäßige Behandlung eines Tages weiß zu bekommen. Es gibt keinen Sterblichen, der nicht eine Philosophie für sich allein hätte, die so verschieden ist von der jedes anderen Sterblichen, wie sein Gesicht verschieden ist von ihren Gesichtern. Aber Gregory glaubte, daß anders denkende Philosophen sich mit der Zeit zu seinen Ansichten bekehren müßten, wenn er nur Sorge trug, ihnen recht oft klarzumachen, daß sie auf Irrwegen gewesen. Es gab übrigens noch mehr Männer in Großbritannien, die den gleichen Standpunkt einnahmen.

Für Gregorys reformatorische Gefühle war es ein steter Kummer, daß er mit verfeinerten Nerven auf die Welt gekommen war. Sein Zartgefühl behinderte ihn oft und gebot seinen edelsten Bemühungen Einhalt. Daher jene Mißerfolge, die Mrs. Pendyce der Lady Malden gegenüber erwähnt hatte an dem Abend, da auf Worsted Skeynes getanzt worden war.

Gregory verließ, als er in der Nähe von Mrs. Bellews Wohnung kam, den Omnibus und ging, fast mit einem Gefühl der Andacht, bis zu ihrem Hause und dann den Weg wieder zurück. Seit langem hatte er es sich zur Regel, von der er nie abwich, gemacht, Mrs. Bellew nur einmal alle vierzehn Tage zu besuchen; aber um an ihrem Fenster vorüberzugehen, machte er häufig bei Tag und Nacht große Umwege. Und nachdem er den gewohnten Weg zurückgelegt hatte, fuhr er, durchaus nicht in dem Bewußtsein, etwas Lächerliches getan zu haben, wieder nach dem Osten, lächelnd, den Hut auf den Knien, und vielleicht glücklicher, weil er Mrs. Bellew nicht gesehen hatte. Wieder kam er bei George Pendyce vorüber, der im Erker des ›Stoiker-Klubs‹ saß, und wieder rief er auf dessen Antlitz ein spöttisches Lächeln hervor.

Er war seit einer halben Stunde in seiner Wohnung in der Buckingham Street, als ein Klubbote den von Mr. Paramor versprochenen Brief brachte.

Hastig öffnete er ihn.

 

Nelson-Klub, Trafalgar Square.

Mein lieber Vigil!

Ich komme eben von Ihrem Mündel. Die Sache hat eine peinliche Wendung genommen durch etwas, das gestern abend vorgefallen ist. Ihr Gatte ist offenbar, nachdem Sie gestern nachmittag bei ihm gewesen waren, in die Stadt gekommen und hat sie gegen elf Uhr in ihrer Wohnung aufgesucht. Er war in einem Zustand, der an Delirium tremens grenzte, und Mrs. Bellew sah sich genötigt, ihn die Nacht über dazubehalten. ›Ich hätte‹, so erklärte sie mir, ›keinen Hund in so einer Verfassung abweisen mögen.‹ Der Besuch währte bis heute nachmittag – ja, der Mann war tatsächlich eben erst fortgegangen, als ich kam. Es ist eine Farce, deren Bedeutung freilich ich Ihnen näher erklären muß. Ich glaube, ich sagte Ihnen schon, daß das Ehescheidungsgesetz auf bestimmten Grundsätzen beruht. Einer von diesen schließt jedes Verzeihen von Kränkungen von Seiten der um Scheidung nachsuchenden Partei aus; dieses Verzeihen ist aber hier in Ihrem Falle gestern erfolgt und hemmt zunächst jedes weitere Vorgehen in der Angelegenheit. Der Gerichtshof hält sich streng an die Bedingung des ›Nichtverzeihens‹ und prüft genau jeden Schritt der klagenden Partei, der als ›Verzeihen‹ aufgefaßt werden könnte. Nach dem, was ich von Ihrem Mündel gehört habe, erscheint es mir durchaus nicht ratsam, die Scheidungsklage einzureichen auf Grund von weit zurückliegenden Tatsachen. Es ist zu gefährlich. Mit anderen Worten: der Gerichtshof würde zweifellos dahin urteilen, daß die Klägerin die Vergehungen der Gegenpartei bereits verziehen hat. Irgendeine neue Vergehung jedoch stellt, um es technisch zu bezeichnen, den Status quo ante wieder her, und unter diesem Gesichtspunkt kann man, wenn auch augenblicklich nichts zu machen ist, auf die Zukunft vertrauen. Nachdem ich Ihr Mündel gesprochen habe, begreife ich Ihre Besorgnis vollkommen, wenngleich ich keinesfalls überzeugt bin, daß Sie recht tun, zu dieser Scheidung zu raten. Wenn Sie aber bei Ihrer Ansicht beharren, dann will ich mich persönlich eingehendst mit der Sache befassen, und ich rate Ihnen, sich keine unnötigen Sorgen zu machen. Der Fall ist nichts für einen Laien, besonders nichts für einen, der, gleich Ihnen, die Dinge danach beurteilt, wie sie sein sollten und nicht, wie sie in Wirklichkeit sind.

Ich bin, mein lieber Vigil,

Ihr aufrichtig ergebener
Edmund Paramor.

Wenn Sie mich zu sprechen wünschen, ich bin den ganzen Abend in meinem Klub. – E. P.

 

Als Gregory diesen Brief gelesen hatte, ging er ans Fenster und sah hinaus, weit hinweg über die Lichter auf der Themse. Das Herz pochte ihm heftig, seine Schläfen waren dunkelrot. Er ging hinunter und nahm einen Wagen nach dem ›Nelson-Klub‹.

Mr. Paramor, der eben mit dem Dinner beginnen wollte, lud ihn ein, mitzuspeisen.

Gregory schüttelte den Kopf.

»Nein, danke«, meinte er, »ich könnte jetzt nichts essen. Was soll das heißen, Paramor? Da ist sicherlich irgendein Mißverständnis! Sie wollen mir doch nicht erzählen, daß sie dafür gestraft werden soll, weil sie wie eine gute Christin an dem Mann da gehandelt hat?«

Mr. Paramor kaute an seinem Finger.

»Verwirren Sie die Tatsachen nicht, indem Sie das Christentum hineinziehen. Das Christentum hat nichts mit dem Gesetz zu tun.«

»Sie sprachen von Grundsätzen«, sagte Gregory, – »von kirchlichen Grundsätzen –«

»Ja, gewiß; ich meinte Grundsätze, welche von der alten kirchlichen Auffassung der Ehe übernommen sind, die eine Scheidung zwischen Mann und Frau für unzulässig hielt. Das Gesetz teilt jene Auffassung nicht mehr, aber die Grundsätze spuken noch –«

»Das verstehe ich nicht.«

Mr. Paramor fuhr langsam fort:

»Ich glaube auch nicht, daß irgend jemand es versteht. Es ist unser gewohnter Wirrwarr. Aber das eine weiß ich, Vigil – in einem Falle wie dem Ihres Mündels müssen wir sehr vorsichtig zu Werke gehen. Wir müssen ›das Gesicht wahren‹, wie die Chinesen sagen. Wir müssen uns den Anschein geben, als ob wir nur sehr wider Willen die Scheidungsklage einreichten, als hätte man uns aber so schweres Unrecht zugefügt, daß wir einfach gezwungen sind, das Verfahren einzuleiten. Wenn Bellew nichts verrät, hat der Richter nur das Material zu beurteilen, das wir ihm geben. Aber da ist immer noch der Ehebandsverteidiger, der gesetzliche Vertreter des öffentlichen Interesses. Ich weiß nicht, ob Sie über dessen Aufgabe unterrichtet sind?«

»Nein«, meinte Gregory, »keineswegs.«

»So – also wenn der irgend etwas herausfinden kann, was uns die Erlangung der Scheidung unmöglich macht, dann tut er es. Es ist nicht meine Gewohnheit, mit einer Sache vor Gericht zu erscheinen, wo derartige Entdeckungen möglich sind.«

»Wollen Sie damit sagen –«

»Ich will damit sagen, daß sie auf Scheidung nicht klagen soll, nur weil sie sich unglücklich fühlt, oder weil sie sich in einer gesellschaftlichen Position befindet, in die man keine Frau bringen sollte; die Scheidung beantragen sollte sie nur dann, wenn sie gewisse sachliche Gründe vorzubringen hat; und wenn sie – durch ihr Verzeihen der ehelichen Schuld zum Beispiel – dem Gericht einen Grund an die Hand gegeben hat, sie mit der Scheidungsklage abzuweisen, so wird sie abgewiesen. Um eine Scheidung durchzusetzen, Vigil, muß man hart sein wie Eisen und schlau wie eine Katze. Verstehen Sie nun?«

Gregory gab keine Antwort.

Mr. Paramor sah ihm forschend und beinahe mitleidig ins Gesicht. »Wir können jetzt keinen Antrag stellen«, sagte er noch einmal. »Stimmen Sie noch immer für diese Scheidung? Ich sagte Ihnen schon in meinem Brief, ich sei nicht überzeugt, daß Sie recht daran tun.«

»Wie können Sie mich das nur fragen, Paramor? Nach dem gestrigen Benehmen des Mannes bin ich mehr denn je dafür.«

»Dann«, entgegnete Paramor, »wollen wir auf Bellew scharf achtgeben und das Beste hoffen.«

Gregory streckte ihm die Hand entgegen.

»Sie sprachen von Moral«, sagte er. »Ich kann Ihnen nicht sagen, wie unsäglich gemein mir das alles erscheint. Gute Nacht!«

Er wandte sich hastig ab und ging hinaus.

Der Kopf war ihm wirr und das Herz wund. Er stellte sich Helen Bellew, die Frau, die ihm am teuersten war, in den Fängen einer großen, eklen Natter vor. Das Bewußtsein, daß jedes andere in der Ehe unglückliche Wesen sich in demselben Kerker befand, gleichviel ob durch eigene Schuld oder die des Lebensgefährten, oder ohne jegliche Schuld, gewahrte ihm keinerlei Trost. Es dauerte geraume Zeit, bis er sich aus den unfreundlichen Straßen in sein Haus zurückfand.

 


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