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Elftes Kapitel

Mr. Barter macht einen Spaziergang

Das Ereignis im Pfarrhaus wurde jeden Augenblick erwartet. Dem Pfarrer, der selbst nie litt, war der Gedanke an das Leiden anderer ebenso unbehaglich wie dessen Anblick. Bis zu diesem Tage freilich hatte er keinen Grund gehabt, Unbehagen zu empfinden. Denn auf alle Fragen hatte seine Frau immer geantwortet: »Nein, Lieber, nein; mir ist ganz gut – wirklich, es ist nichts.« Und sie hatte es immer lächelnd gesagt, selbst wenn ihre lächelnden Lippen blaß waren. Aber heute morgen, als sie es wieder zu sagen versuchte, war ihr das Lächeln mißlungen. Die Augen hatten ihr hoffnungslos hoffendes Leuchten verloren, und scharf stieß sie zwischen den Zähnen hervor: »Schick nach Doktor Wilson, Hussell.«

Der Pfarrer küßte sie mit geschlossenen Augen, denn ihm bangte vor ihrem Gesicht mit den verzerrten Lippen und den entfärbten Wangen. In fünf Minuten war der Reitknecht mit dem Rotschimmel auf dem Weg nach Cornmarket, und der Pfarrer stand in seinem Studierzimmer, blickte von einem seiner Hausgötter zum andern, als ob er sie zu Hilfe riefe. Endlich nahm er einen Kricketschläger herab und begann, ihn zu ölen. Vor sechzehn Jahren, als Hussell geboren wurde, da hatten Laute sein Ohr getroffen, die er bis auf den heutigen Tag nicht vergessen konnte; sie hatten sich in seine Erinnerung eingeprägt, und um keinen Preis hätte er sie noch einmal hören mögen. Sie waren seitdem nie wieder laut geworden; denn seine Frau war, wie die meisten Ehefrauen, eine Heldin. Aber wenn das Ereignis ihm auch etwas Gewohntes war, so hatte der Pfarrer doch seither immer Furcht dabei ausgestanden. Es war, als ob sich die Vorsehung all die Herzensangst, die er während der ganzen Zeit hätte empfinden können, aufsparte, um sie im letzten Augenblick plötzlich über ihn hereinbrechen zu lassen. Er stellte den Schläger zurück in den Behälter, verkorkte die Ölflasche und blieb wieder, seine Hausgötter betrachtend, mitten im Zimmer stehen. Kein einziger kam ihm zu Hilfe. Und er dachte wieder, was er schon unzähligemal gedacht hatte: ›Ich sollte nicht ausgehen. Ich sollte auf Wilson warten. Vielleicht passiert inzwischen etwas – aber die Pflegerin ist ja bei ihr; ich kann nichts tun. Arme Rose, – armes Herz! Es ist meine Pflicht, hier zu ... was war das? Ich will lieber nicht stören!‹

Leise, ohne zu wissen, daß es leise geschah, öffnete er die Tür; leise, ohne zu wissen, daß es leise geschah, trat er an den Hutständer und nahm seinen schwarzen Strohhut herab; leise, ganz leise ging er hinaus und eilte, ohne sich umzuwenden, die Chaussee entlang.

Drei Minuten später kam er wieder zum Vorschein und näherte sich dem Hause, schneller, als er es verlassen hatte. Er ging durch die Eingangstür, lief die Treppen hinauf und betrat das Zimmer seiner Frau.

»Rose, liebe Rose, kannst du mich brauchen?«

Mrs. Barter streckte die Hand aus; ein leiser Schimmer von Hohn kam plötzlich in ihre Augen. Durch die zusammengepreßten Lippen drang ein unverständliches Gemurmel und dann:

»Nein, danke, nichts. Mach nur deinen Spaziergang.«

Der Pfarrer drückte seine Lippen auf ihre zitternde Hand und verließ das Zimmer. Draußen, vor der Tür, erhob er die Faust, eilte die Treppen hinunter und war bald nicht mehr zu sehen. Schneller und schneller ging er, das Dorf hinter sich lassend, und inmitten der ländlichen Bilder, Geräusche und Düfte begannen seine Nerven sich zu erholen. Er vermochte wieder an andere Dinge zu denken: an Cecils Schulzeugnis, das nichts weniger als befriedigend war; an den alten Hermon im Dorfe, den er im Verdacht hatte, daß er seine Bronchitis dazu ausnützte, um Portwein zu bekommen; an die Revanchepartie mit Coldingham, und daran, daß es ihrem linksseitigen Spieler an Treffsicherheit fehlte. Er dachte an die neuen Gesangsbuchausgaben und daran, daß das obere Dorf sich lässig zeigte im Kirchenbesuch; die fünf Familien schienen ihm weniger zutraulich und fügsam als die übrigen. Es waren fremdartig aussehende, dunkle Menschen, die nichts Englisches an sich hatten. Indem er an diese Dinge dachte, vergaß er, was er vergessen wollte; aber als er das Geräusch von Rädern hörte, trat er ins Feld hinein, als wollte er, solange bis das Gefährt vorüber war, das Getreide näher ansehen. Es war nicht Dr. Wilsons Wagen, aber er hätte es sein können; und an der nächsten Kreuzung bog Mr. Barter fast unabsichtlich von der Chaussee nach Cornmarket ab.

Es war Mittag, als, sechs Meilen von Worsted Skeynes entfernt, Coldingham in Sicht kam. Ein Glas Bier wäre ihm sehr willkommen gewesen, aber da es ihm unmöglich war, das Wirtshaus zu betreten, ging er statt dessen auf den Friedhof. Er setzte sich auf eine Bank unter einen Maulbeerbaum, den Grabstätten der Winlows gegenüber; denn Coldingham war Lord Montrossors Landsitz, und hier lagen alle die Winlows begraben. Über ihnen in den Zweigen summten geschäftige Bienen und der Pfarrer dachte:

›Ein schöner Platz zum Ausruhen ist das! So etwas haben wir auf Worsted Skeynes nicht! ...‹

Aber plötzlich fiel ihm ein, daß er kein Recht hätte, hier zu sitzen und nachzudenken. Wenn sein Weib stürbe! Es kam ja manchmal vor; die Frau von John Tharp auf Bletchingham war gestorben, als sie ihrem zehnten Kinde das Leben gab! Seine Stirne wurde feucht, und er trocknete sie. Einen ärgerlichen Blick auf die Gräber der Winlows werfend, verließ er seinen Platz.

Er ging den äußeren Weg entlang und kam auf den Kricket-Platz hinaus. Ein Match war eben im Gange, und der Pfarrer blieb unwillkürlich stehen. Die Coldingham-Partei griff an.

Mr. Barter sah beobachtend zu. Er vertiefte sich so sehr, daß er anfangs den Ehrenwerten Geoffrey Winlow gar nicht bemerkte, der mit Kniepolstern und einer grün und blaugestreiften Sportjacke, eine Zigarette rauchend, rittlings auf einem Feldstuhl saß.

»Ah, Winlow, Sie spielen gegen das Dorf? Ich werd's wohl nicht abwarten können, bis Sie schlagen. Bin gerad nur so vorübergekommen – hatte etwas Wichtiges zu erledigen – muß eilen, heimzukommen.«

Die sichtliche Feierlichkeit seines Ausdruckes erregte Winlows Neugier.

»Können Sie nicht dableiben und mit uns frühstücken?«

»Nein, nein; meine Frau – muß gleich nach Hause!«

Winlow murmelte: »Ach, ja natürlich.« Seine kühlen, blauen Augen, die stets die Situation beherrschten, ruhten auf des Pfarrers erhitztem Gesicht. »Übrigens«, meinte er, »ich fürchte, George Pendyce steckt in Schwierigkeiten. War genötigt, sein Pferd zu verkaufen. Habe ihn vor zwei Wochen in Epsom gesprochen.«

Des Pfarrers Züge hellten sich auf.

»Ich wußte ja, daß diese Wetterei ihm Ungelegenheiten bringen würde«, erwiderte er. »Tut mir leid – wirklich sehr leid.«

»Man erzählt«, fuhr Winlow fort, »daß ihn das Rennen am Donnerstag viertausend Pfund gekostet hat. Er saß vorher schon bis über die Ohren in Schulden. Armer, alter George! Ein riesig guter Junge!«

»Ja«, wiederholte Mr. Barter. »Es tut mir sehr leid, wirklich sehr leid. Es stand vorher schon schlecht genug um ihn.«

Ein Schimmer von Interesse erschien in Winlows kühlem Blick.

»Sie meinen wegen Mrs. – Hm, nicht wahr?« fragte er. »Die Leute reden darüber; das kann man nicht verbieten. Mir tut der arme Pendyce so leid und besonders seine Frau. Ich hoffe, daß man George helfen wird.«

Der Pfarrer runzelte die Stirn.

»Ich hab' getan, was ich konnte«, sagte er. – »Gut getroffen, junger Mann! Da steh ich nun und schwatze. Ich muß ja fort!«

Und wieder nahmen Mr. Barters Züge eine gewisse Feierlichkeit an.

»Ich vermute, Sie spielen am Donnerstag gegen uns für Coldingham? Guten Morgen!«

Winlows Gruß mit einem Nicken beantwortend, ging Mr. Barter davon.

Er vermied den Kirchhof und schlug den Fußweg quer über die Felder ein; er war hungrig und durstig. In einer seiner Predigten kam die Stelle vor: ›Wir sollten uns dazu erziehen, unsere Gelüste im Zaume zu halten. Nur wenn wir uns an Entbehrungen gewöhnen – an kleine Entbehrungen in unserm täglichen Leben – können wir zu jener wahrhaften Vergeistigung gelangen, ohne die wir nicht hoffen dürfen, Gott zu erkennen.‹ Und sowohl in seinem eigenen Hause wie im Dorfe wußte man, daß des Pfarrers Stimmung fast beängstigend vergeistigt wurde, wenn irgendein Zwischenfall seine Mahlzeiten hinauszögerte. Denn er war ein Mann von durch und durch robuster Gesundheit, der allen Anforderungen gerecht wurde, die seine kräftig, regelmäßig und freudig wie der Tag arbeitenden Verdauungs- und anderen Organe an ihn stellten. Nachdem er in seiner Predigt jenen erwähnten Ausspruch getan, pflegte er sich oft eine Woche lang das zweite Glas Bier beim Lunch zu versagen, oder die Zigarre nach dem Dinner, indem er statt dessen die Pfeife rauchte. Und er glaubte ganz ehrlich, daß er hierdurch zu einer vollkommneren Vergeistigung gelange; vielleicht war es auch tatsächlich so. Aber selbst, wenn er sich täuschte, gab es niemanden, der das bemerkte, denn die Mehrheit seiner Gemeinde nahm seine Vergeistigung als etwas Selbstverständliches an, und von der unbedeutenden Minderheit gab es nur wenige, die nicht ein Auge zugedrückt hätten im Hinblick auf die Tatsache, daß er ihr angestammter Pfarrer war, den eine Tradition auf diesen Platz gestellt hatte, mochte er wollen oder nicht. Ja, sie hatten tatsächlich um so mehr Respekt vor ihm, als er ein Oberpfarrer war, der nicht abgesetzt werden konnte. Und sie waren froh, daß sie nicht einen gewöhnlichen Pfarrer hatten, wie den von Coldingham, der von den Launen anderer abhing. Denn mit Ausnahme von zwei Taugenichtsen und einem Atheisten waren sie im ganzen Dorfe – gleichviel ob Konservative oder Liberale – (es gab jetzt Liberale, seitdem man daran zu glauben anfing, daß die Wahl wirklich eine geheime war) Anhänger des Systems der Überlieferung.

In Gedanken versunken, wandte der Pfarrer seine Schritte nach Bletchingham, wo es ein Temperenzlokal gab. Innerlich haßte er Limonade und Ingwerbier mitten am Tage. Beides verursachte ihm ein Gefühl von Kälte und Unbehagen. Aber er hatte die Empfindung, daß er anderswo nicht einkehren dürfe. Und seine Stimmung hob sich beim Anblick des Kirchturmes von Bletchingham. ›Butter und Käse‹ fiel ihm ein. ›Was gibt's besseres als Butter und Käse? Und eine Tasse Kaffee soll sie mir machen.‹

In jener Tasse Kaffee lag etwas Symbolisches für seinen Gemütszustand, das zu ihm paßte. Die braune Flüssigkeit war dunkel und schwer und durchdrungen von jener eigentümlichen Würze des Dorfkaffees. Er trank nur wenig davon und nahm seinen Marsch dann wieder auf. Bei der ersten Biegung kam er an der Dorfschule vorüber, aus der ein gleichmäßiges, aber unharmonisches Summen tönte, an irgendeine schwerfällige Maschine erinnernd, die schon ausgedient hat. Der Pfarrer blieb stehen, um zu lauschen. Er lehnte sich gegen die Mauer des kleinen Schulhofes und versuchte die Worte zu verstehen, die drinnen wie ein Choral angestimmt wurden. Es klang wie: ›Zwei und zwei ist vier; zwei und vier ist sechs; zwei und sechs ist acht;‹ und er schritt weiter, indem er dachte: ›Eine schöne Sache; aber wenn wir nicht achtgeben, treibt es uns zu weit. Wir machen sie untauglich für ihren Beruf‹, und er runzelte die Stirn. Er ging über einen Feldsteg und schlug einen Fußweg ein. Die Luft war von Lerchengesang erfüllt, und die Bienen umsummten den Klee.

Am jenseitigen Ende des Feldes war ein von Weiden beschatteter, kleiner Teich. Etwa dreißig Meter davon entfernt auf einem schattenlosen Wiesenstreifen stand ein altes Pferd, das an einen Pflock gebunden war. Es hielt den vorgestreckten Kopf, der nur aus Knochen und Höhlungen zu bestehen schien und der die gelben Zähne zeigte, verlangend nach dem Wasser gerichtet, das ihm nicht erreichbar war. Der Pfarrer blieb stehen. Das Pferd war ihm persönlich nicht bekannt, denn es war drei Äcker weit von seiner Gemeinde, aber er sah, daß das arme Tier durstig war. Er trat heran, und da der Knoten am Halfter ihn in die Finger schnitt, beugte er sich nieder und zog an dem Pflock. Während er sich so, dunkelrot im Gesicht, abquälte und zerrte, stand der alte Gaul ganz still und glotzte ihn aus trüben Augen an. Mit einem Ruck richtete Mr. Barter, den Pflock in der Hand, sich auf, und das alte Pferd schreckte zurück.

»Ho, ho, Alter!« sagte der Pfarrer und murmelte dann ärgerlich: »Eine Schande, das arme Tier hier in der Sonne festzubinden. Ich hätte nicht übel Lust, seinem Besitzer gehörig meine Meinung zu sagen!«

Er führte das Tier zum Wasser hin. Das alte Pferd folgte ihm willig genug, aber ebensowenig wie es seine unangenehme Lage selbst verschuldet hatte, ebensowenig empfand es irgendwelche Dankbarkeit für seinen Befreier. Es trank sich satt und begann zu grasen. Dem Pfarrer stieg ein Gefühl von Enttäuschung auf, und er trieb den Pflock wieder in den weicheren Boden unter den Weiden ein; dann richtete er sich auf und blickte das alte Pferd scharf an.

Das Tier fuhr fort zu grasen. Der Pfarrer nahm sein Taschentuch heraus, wischte sich den Schweiß vom Gesicht und runzelte die Stirn. Undankbarkeit bei Menschen oder Tieren war ihm verhaßt.

Er empfand plötzlich eine starke Müdigkeit.

»Es muß jetzt vorüber sein«, sagte er zu sich, und eilte in der Sonnenhitze weiter über die Felder.

Die Tür des Pfarrhauses war offen. Er trat in sein Studierzimmer ein und setzte sich einen Augenblick nieder, um seine Gedanken zu sammeln. Er hörte ein Hin- und Hergehen, dann einen langgezogenen stöhnenden Laut, der sein Herz mit Entsetzen erfüllte.

Er stand auf und stürzte zur Klingel hin, aber er läutete nicht, sondern lief rasch die Treppe hinauf. Vor dem Zimmer seiner Gattin traf er die alte Kinderfrau. Sie stand da auf der Strohmatte, die Hände an den Ohren, und Tränen rollten ihr übers Gesicht.

»Ach, Herr!« sagte sie – »ach, Herr!«

Der Pfarrer starrte sie an. »Frau!« schrie er – »Frau!«

Er bedeckte die Ohren mit seinen Händen und lief wieder hinunter. In der Halle stand eine Dame. Es war Mrs. Pendyce, und er eilte auf sie zu, wie ein Kind, das sich wehe getan hat, zu seiner Mutter läuft.

»Mein Weib!« stieß er hervor – »mein armes Weib! Gott weiß, was sie ihr jetzt da oben antun, Mrs. Pendyce!« Und er vergrub sein Gesicht in den Händen.

Sie, die als eine Totteridge geboren war, blieb regungslos stehen, dann legte sie ganz leise ihre Hand auf seinen breiten Arm, an dem die Muskeln heraustraten, so heftig preßte er die Hände zusammen, und sagte:

»Lieber Herr Pfarrer, Doktor Wilson ist so tüchtig! Kommen Sie mit mir ins Wohnzimmer!«

Der Pfarrer ließ es sich, wie ein Blinder stolpernd, gefallen, daß sie ihn fortführte. Er nahm auf dem Sofa Platz, und Mrs. Pendyce setzte sich neben ihn, ihre Hand noch immer auf seinem Arm. Über ihr Gesicht glitten kleine Schauer, als ob sie ihre Erregung gewaltsam unterdrücke. Mit ihrer leisen Stimme wiederholte sie:

»Es wird ja alles gut werden – es wird alles gut werden. Seien Sie nur ruhig!«

In der Art ihrer Teilnahme und Besorgnis lag sichtlich nicht etwa Stolz, sondern ein leises Staunen darüber, daß sie hier saß und des Pfarrers Arm streichelte.

Barter nahm die Hände vom Gesicht.

»Wenn sie stirbt«, sagte er mit einer ganz fremden Stimme, »ich könnt's nicht ertragen.«

Als Antwort auf diese Worte, die sich einem Gefühl entrangen, das tiefer war als Gewöhnung, glitt Mrs. Pendyces Hand von seinem Arm herunter und blieb auf dem abgenutzten Kattunbezug des Sofas, der ein grün-rotes Muster zeigte, liegen. Ihre Seele erschrak vor der Heftigkeit in seinem Ton.

»Bleiben Sie hier«, sagte sie, »ich will hinaufgehen und nachsehen.«

Befehlen lag nicht in ihrer Natur, aber der Pfarrer gehorchte mit einem Blick, der dem eines kleinen, reumütigen Jungen glich.

Als sie gegangen war, blieb er an der Tür stehen und horchte auf einen Laut – auf irgendeinen Laut, wenn auch nur auf das Rascheln ihres Kleides. Aber er hörte nichts, denn sie trug keine Seide; und der Pfarrer war allein mit der Stille, die er nicht ertragen konnte. Er begann, in seinen schweren Stiefeln durch das Zimmer zu schreiten, die Hände auf dem Rücken ineinandergekrampft, den Kopf hoch emporgehoben, die Lippen fest geschlossen.

Seine Gedanken gingen hierhin und dorthin, ängstlich, ärgerlich, willkürlich; zu beten vermochte er nicht. Die Worte, die er so oft gesprochen hatte, waren ihm wie durch eine Bosheit des Schicksals entschwunden. ›Wir sind alle in Gottes Hand! – Wir sind alle in Gottes Hand!‹ – statt dessen fiel ihm nichts anderes ein als die alte Redensart, die Paramor im Speisezimmer des Gutsherrn geäußert hatte, ›es gibt ein Maß in allen Dingen‹, und mit grausamer Ironie summte das in seinen Ohren weiter. ›Ein Maß in allen Dingen – Maß in allen Dingen‹ und da lag sein Weib – durch ihn – und –

Ein Laut wurde hörbar. Das braunrote Gesicht des Pfarrers konnte nicht blaß werden, aber seine geballten, großen Fäuste lösten sich. In der Tür stand Mrs. Pendyce mit einem eigentümlichen, halb mitleidigen, halb aufgeregten Lächeln.

»Es ist alles gut – ein Junge. Die Ärmste hat schrecklich viel durchgemacht!«

Der Pfarrer sah sie an ohne ein Wort. Dann stürzte er plötzlich an ihr vorüber zur Tür hinaus, eilte in sein Studierzimmer und verschloß die Tür. Jetzt erst kniete er nieder und verharrte minutenlang so, ohne an etwas zu denken.

 


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