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Achtes Kapitel

Gregory Vigil denkt

Gegen drei Uhr desselben Nachmittags schritt ein hochgewachsener Mann die Allee nach Worsted Skeynes hinauf; in der einen Hand trug er seinen Hut, in der andern eine kleine, braune Reisetasche. Ab und zu blieb er stehen und holte tief Atem, indem er die Flügel seiner geraden Nase blähte. Er hatte einen schönen Kopf mit vollem, angegrautem Haar. Sein Anzug hing lose an ihm, sein Schritt war elastisch. Wie er so mitten auf dem Wege dastand, tiefatmend, die feuchtschimmernden, blauen Augen gen Himmel, erregte er die Aufmerksamkeit eines Rotkehlchens, das aus einem Rhododendronstrauch neugierig näher kam und als er vorüber war, zu pfeifen begann. Gregory Vigil wandte sich um und zog die immer scherzbereiten Lippen kraus; und abgesehen davon, daß es ihm gänzlich an Embonpoint fehlte, zeigte er eine gewisse Ähnlichkeit mit diesem Vogel, der als ganz besonders britisch gilt.

Mit einer hellen Stimme, die dem Ohre wohltat, fragte Vigil nach Mrs. Pendyce und wurde sofort in das weiße Frühstückszimmer geführt.

Sie begrüßte ihn mit großer Wärme; denn wie viele Frauen, die sich allmählich daran gewöhnt haben, von ihrem Eheherrn die Redensart: ›Na ja, deine Familie!‹ zu hören, besaß sie eine starke Anhänglichkeit für alles, was ihr Fleisch und Blut war.

»Du mußt nämlich wissen, Grig«, begann sie, nachdem er Platz genommen hatte, »daß dein Brief mich recht beunruhigt hat. Helens Trennung von ihrem Mann hat schon zu so viel Klatsch hier Anlaß gegeben. Ja – es ist etwas ganz Alltägliches, ich weiß, aber Horace ist so –! Alle die Gutsbesitzer und Pfarrer und sonstigen Leute aus der Gegend, die zu uns kommen, sind darin genau wie er. Ich hab' Helen wirklich sehr gern; es ist solch eine Freude, sie nur anzusehen; aber Gregory, ich muß sagen, ihr Mann ist mir durchaus nicht unsympathisch. Er ist ein ganz toller Mensch, ich weiß; aber das hat für mich beinah etwas Wohltuendes; und sieh mal, mir scheint, sie hat darin eine gewisse Ähnlichkeit mit ihm!«

Gregory Vigil schoß das Blut in die Stirn; er fuhr mit der Hand nach seinem Kopf und sagte:

»Mit ihm? Mit diesem Manne? Kann eine Rose einer Artischocke gleichen?«

Mrs. Pendyce fuhr fort:

»Ich habe mich mit ihrem Besuch von Herzen gefreut. Sie war zum erstenmal bei uns, seitdem sie von ihrem Manne fort ist. Wie lange ist das her? Zwei Jahre? Die Maldens waren aber ganz empört über sie, das muß ich dir sagen. Meinst du, daß eine Scheidung wirklich unumgänglich ist?«

Gregory Vigil entgegnete: »Ich fürchte.«

Mrs. Pendyce begegnete offen dem Blick ihres Vetters; nur ihre Brauen waren vielleicht ein wenig mehr hochgezogen als sonst; aber als ob sie innerlich irgend etwas beunruhigte, begannen ihre Finger sich ineinander zu flechten. Sie sah im Geiste George und Helen Bellew beieinander. Ein unbestimmtes, mütterlich besorgtes Gefühl stieg in ihr auf, eine unbewußte Angst. Sie zwang ihre Hände zur Ruhe, senkte die Augenlider und sagte:

»Natürlich, Grig, wenn ich dir irgendwie nützen kann – Horace hat so eine Scheu vor allem, was mit den Zeitungen zu tun hat.«

Gregory atmete schwer. »Ja, die Zeitungen!« meinte er. »Das ist etwas Gräßliches! Und unsere Zivilisation! Die gestattet noch, daß man Frauen vor die ›Hunde gehen‹ läßt! Versteh mich recht, Margery, ich denke an sie. Ich bin nicht imstande, in dieser Angelegenheit irgend etwas anderes zu berücksichtigen.«

Mrs. Pendyce murmelte: »Gewiß, lieber Grig, ich verstehe wohl.«

»Ihre Lage ist schauderhaft; man sollte keiner Frau so ein Dasein zumuten. Dem elenden Klatsch aller Leute ausgesetzt!«

»Aber ich glaube, sie macht sich gar nichts daraus, Grig; sie schien mir in so ausgezeichneter Stimmung zu sein.«

Gregory fuhr sich mit den Fingern durch das Haar.

»Niemand versteht sie«, meinte er; »sie ist so tapfer!«

Mrs. Pendyce warf ihm einen flüchtigen Blick zu, und ein leises, ironisches Lächeln huschte über ihr Gesicht.

»Jeder, der sie ansieht, merkt ihr den Lebensmut an. Aber vielleicht verstehst auch du sie nicht ganz, Grig!«

Gregory Vigil faßte sich am Kopf.

»Ich muß einen Augenblick das Fenster öffnen«, sagte er.

Wieder begannen Mrs. Pendyces Hände nervös zu spielen; wieder zwang sie sich zur Ruhe.

»Vergangene Woche waren wir eine ziemlich große Gesellschaft hier; jetzt ist nur Charles noch da. Selbst George ist wieder fort; es wird ihm so leid tun, daß er dich hier verfehlt hat.«

Gregory wandte sich weder um, noch gab er eine Antwort; und ein gespannter Ausdruck trat in Mrs. Pendyces Antlitz.

»Ich war so froh, daß der gute Junge sein Rennen gewonnen hat! Ich fürchte, er wettet mitunter. Ein Glück nur, daß Horace nichts davon weiß!«

Immer noch schwieg Gregory.

Aus Mrs. Pendyces Antlitz verlor sich der besorgte Ausdruck und machte einer Art leiser Bewunderung Platz.

»Sag mal, Grig«, begann sie, »bei wem läßt du dir dein Haar pflegen? Es ist so hübsch und wellig und lang!«

Gregory wandte sich, ein wenig rot geworden, zu ihr.

»Ich bin seit Ewigkeiten nicht dazu gekommen, mir's schneiden zu lassen. Meinst du wirklich, Margery, daß dein Mann nicht einsieht, in was für einer schiefen Position sie sich befindet?«

Mrs. Pendyce senkte die Augen.

»Sieh mal, Grig«, begann sie, »Helen war oft bei uns, ehe sie ihr Haus verließ, und sie ist ja mit mir verwandt – wenn auch nur ganz entfernt. Bei solch peinlichen Fällen weiß man ja nie, was noch kommt. Horace wird sicherlich dafür sein, daß sie zu ihrem Manne zurückkehrt; oder wenn das nicht geht, so wird er sagen, sie müßte doch auf unsere Kreise Rücksicht nehmen. Die Affäre mit Lady Rose Bethany hat schon so viel Staub aufgewirbelt, und Horace ist irritiert. Ich weiß nicht, wie's kommt, aber die Menschen hier herum haben nun mal eine starke Antipathie gegen Frauen, die sich irgendwie herausstellen. Du solltest nur Pfarrer Barter und Sir James Malden und Dutzende von anderen hören; das wunderlichste ist, daß auch die Frauen diesen Standpunkt einnehmen. Freilich, mir scheint das merkwürdig, weil so viele von den Totteridges davongelaufen sind oder sonst Dummheiten gemacht haben. Ich kann mich eines Mitgefühls für sie nicht erwehren, aber ich muß doch auch bedenken, daß – daß – – du hast keine Ahnung, wie auf dem Lande sich Dinge, die Leute tun, herumsprechen, noch ehe sie geschehen sind! Es gibt ja keinen Gesprächsstoff als diesen und die Jagd!«

Gregory Vigil griff sich an die Stirn.

»So na, wenn es mit der Ritterlichkeit so weit gekommen ist, dann danke ich Gott, daß ich kein Landedelmann bin!«

In Mrs. Pendyces Augen zuckte es.

»Ach«, entgegnete sie, »wie oft habe ich ähnliches gedacht!«

Nach einer Weile unterbrach Gregory das Schweigen.

»Ich kann auf die Ansichten jener Herrschaften keine Rücksicht nehmen. Meine Pflicht ist klar. Helen hat sonst niemanden, der für sie einsteht.«

Mrs. Pendyce seufzte und sagte, indem sie sich erhob: »Recht so, Grig. Aber nun komm zum Tee!«

Am Sonntag wurde auf Worsted Skeynes der Tee in der Halle serviert, und gewöhnlich nahmen der Pfarrer und seine Frau daran teil. Auch der junge Cecil Tharp war mit seinem Hund herübergekommen, den man draußen, vor dem Haupteingang, leise winseln hörte.

General Pendyce lehnte mit übereinandergeschlagenen Beinen, die Fingerspitzen gegeneinander gepreßt, in seinem Armsessel und starrte auf die Wand. Der Gutsherr hielt sein neuestes Vogelei in der Hand und zeigte dem Pfarrer dessen Flecke.

In einer Ecke, an ein Harmonium gelehnt, auf dem nie jemand spielte, plauderte Nora über den Orts-Hockeyklub mit Mrs. Barter, die ihre Augen, während sie sprach, auf den Gatten geheftet hielt. Jenseits des Kamins unterhielten sich Bé und der junge Tharp, die Stühle sehr dicht aneinander gedrückt, über ihre Pferde; sie sprachen mit leiser Stimme und warfen sich ab und zu verstohlene Blicke zu. Es begann dunkel zu werden, die Holzscheite knisterten, und dann und wann senkte sich über das behagliche Summen der Unterhaltung ein kurzes, schläfriges Schweigen, ein Schweigen voll Wärme und Behagen, wie das Schweigen des Spaniels John, der an seines Herrn Stiefel geschmiegt eingeschlafen war.

»So«, begann Gregory leise, »jetzt will ich mal diesen Herrn aufsuchen.«

»Ist's denn wirklich nötig, daß du ihn sprichst, Grig? Ich meine – wenn du doch entschlossen bist –«

Gregory fuhr sich mit der Hand durchs Haar.

»Es gehört sich anständigerweise, denke ich!« Er schritt durch die Halle und ging so unauffällig hinaus, daß außer Mrs. Pendyce niemand sein Verschwinden bemerkte.

Anderthalb Stunden später kamen Mr. Pendyce und seine Tochter Bé auf dem Heimweg vom Sonntagsbesuch bei ihrem ehemaligen Diener Bigson, in die Nähe der Eisenbahnstation, die an der Straße zwischen dem Dorf und Worsted Skeynes lag. Der Gutsherr war mitten im Erzählen:

»Es geht mit ihm bergab, Bé – mit unserem guten, alten Bigson geht's bergab. Ich kann ihn kaum noch verstehen; er brummelt nur so; und er vergißt alles. Stell dir vor, er kann sich nicht erinnern, daß ich in Oxford war. Aber solche Dienstboten bekommen wir heutzutage nicht mehr. Der Mensch, den wir jetzt haben, ist ein Döskopf. Döst immer! Er – nanu, was ist denn das dort auf der Landstraße? In dem Tempo darf ja gar nicht gefahren werden! Wer ist's? Ich kann's nicht erkennen!«

Mitten auf der dunklen Landstraße kam ein Dogcart in vollster Eile dahergejagt. Bé ergriff ihren Vater beim Arm und zog ihn hastig beiseite, denn Mr. Pendyce stand vor lauter Mißbilligung da wie eine Bildsäule. Kaum einen Fuß breit von ihm entfernt, jagte der Dogcart vorüber und verschwand, mit einer scharfen Wendung in die Station einbiegend. Mr. Pendyce drehte sich um.

»Wer war denn das? Unerhört! Und noch dazu am Sonntag! Der Kerl muß betrunken sein; er hat mir fast die Beine abgefahren. Hast du's gesehen, Bé, er hat mir fast die –«

Bé entgegnete:

»Es war Hauptmann Bellew, Vater; ich hab' ihn erkannt.«

»Bellew? – Der betrunkene Kerl da – Bellew? Ich werd' ihm das anstreichen. Hast du's gesehen, Bé? – Er hat mir fast die –«

»Vielleicht hat er schlimme Nachrichten bekommen«, meinte Be. »Da fährt der Zug eben fort; hoffentlich hat er ihn noch gekriegt!«

»Schlimme Nachrichten? Ist das ein Grund, mich zu überfahren? Du hoffst, er hat ihn noch gekriegt? Ich hoffe, er ist 'rausgeflogen aus seinem Wagen. So ein wüster Kerl! Ich hoffe, er hat sich das Genick gebrochen.«

In dieser Tonart fuhr Mr. Pendyce fort, bis sie an die Kirche gelangten. Auf dem Gang, der zu ihren Plätzen führte, kamen sie an Gregory Vigil vorüber, der, nach vorn geneigt, die Arme auf das Betpult gestützt und die Hände über den Augen hielt ... Um elf Uhr desselben Abends stand vor Mrs. Bellews Wohnungstür in Chelsea ein Mann und zog heftig die Klingel. Sein Gesicht war totenbleich, aber seine kleinen dunklen Augen funkelten. Da wurde die Tür geöffnet, und Helen Bellew stand, in Gesellschaftstoilette, eine Kerze hoch emporhaltend, auf der Schwelle.

»Wer ist das? Was wünschen Sie?«

Der Mann trat näher in den Lichtkreis.

»Jaspar! Du? Was in aller Welt –«

»Ich muß dich sprechen!«

»Mich sprechen? Weißt du, wie spät es ist?«

»Spät? Das gibt's nicht! Aber du könntest mir wenigstens einen Kuß geben – nach zweijähriger Trennung. Ja doch, ja – ich habe getrunken, aber ich bin nicht betrunken.«

Mrs. Bellew gab ihm keinen Kuß; aber sie wandte auch das Gesicht nicht von ihm ab.

In ihren eiskalten, grauen Augen zeigte sich keinerlei Beunruhigung. »Willst du versprechen«, begann sie, »wenn ich dich hereinlasse, rasch zu sagen, was du zu sagen hast, und dann zu gehen?«

Die kleinen, braunen Teufel in Bellews Gesicht hüpften. Er nickte hastig. Dann standen sie am Kamin im Wohnzimmer, und auf beider Lippen kam und ging ein eigentümliches Lächeln.

Es war schwer, einen Menschen allzu ernst zu nehmen, mit dem man Jahre hindurch gelebt, mit dem man gemeinsam alle Stadien menschlicher Leidenschaft, engster Vertrautheit und allmählicher Entfremdung durchgemacht hatte, der all die kleinen Alltagsgewohnheiten kannte, die miteinander lebende Männer und Frauen einer vom andern kennen – und mit dem zu leben man schließlich aufgehört hat, nicht aus Haß, sondern weil die eigene Natur es so wollte. Keiner von ihnen brauchte dem andern nachzuspionieren; und mit einem leisen Lächeln, das wie das Lächeln des ewigen Wissens selbst war, sahen Jaspar Bellew und seine Frau einander an.

»Also«, begann sie von neuem, »weshalb bist du hierhergekommen?«

In Bellews Gesicht war eine Veränderung vorgegangen. Etwas Lauerndes lag darin. Er kniff die Lippen zusammen; eine tiefe Furche erschien zwischen seinen Augenbrauen.

»Wie – geht es – dir?« fragte er mit dumpfer, erstickter Stimme.

Mrs. Bellews helle Stimme erwiderte:

»Aber Jaspar, sag doch, was du willst!«

Die kleinen braunen Teufel in Jaspars Gesicht blitzten auf.

»Du siehst sehr hübsch aus heute abend!«

Seine Frau zog die Lippen kraus.

»Ich bin ziemlich dieselbe, die ich war«, meinte sie.

Ein starker Schauder schüttelte Bellew. Er heftete seine Augen auf eine Stelle des Fußbodens ein wenig zu ihrer Linken; dann hob er sie plötzlich wieder. Sie waren wie erstorben.

»Ich bin völlig nüchtern«, murmelte er dumpf. Dann begannen seine Augen plötzlich wieder zu funkeln. Er trat einen Schritt näher heran.

»Du bist noch meine Frau«, stieß er hervor.

Mrs. Bellew lächelte.

»Also, du mußt jetzt gehen!« entgegnete sie. Und sie streckte den unbekleideten Arm aus, um ihn fortzudrängen. Aber Bellew trat selbst ein paar Schritte zurück; seine Augen hafteten wieder auf jener Stelle am Boden ein wenig zu ihrer Linken.

»Was ist das?« stammelte er. »Was ist das – das Schwarze?«

Teufelei, Bewunderung, Spott und Neugier waren aus seinem Gesicht geschwunden; es war jetzt bleich und ruhig und hatte etwas furchtbar Ergreifendes.

»Wirf mich nicht hinaus«, stieß er hervor; »wirf mich nicht hinaus!«

Mrs. Bellew sah ihn durchdringend an. Aus dem Trotz in ihrem Blick wurde etwas wie Mitleid. Hastig trat sie ihm einen Schritt näher und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Schon gut – mein Freund – schon gut!« meinte sie. »Es ist nichts da! Nichts.«

 


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