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25. Kapitel.

In der Pension Luzius hatte inzwischen die plötzliche Abreise Ola von Marfen-Thorns einige Überraschung hervorgerufen, obzwar die junge Frau der Vorsteherin erklärt hatte, sie sei von einer Verwandten in Familienangelegenheiten abgeholt worden.

Die beiden Damen waren inzwischen in dem gemütlichen Heim der Mutter angelangt, und erst nachdem diese alle möglichen Änderungen im Hause getroffen, damit ihre Schwiegertochter bei ihr bleibenden Aufenthalt nehmen könne, war Frau von Marfen, die ältere, zu der Freundin hinausgefahren, der sie Alfi bei ihrer Abreise anvertraut, um das Kind wieder zu sich zu holen und der Mutter zuzuführen. Olas Aufregung war unbeschreiblich, während sie allein in dem Gemach auf und ab schritt, das Frau von Marfen ihr zur Verfügung gestellt. Wie würde Alfi sich ihr gegenüber benehmen? War die Mutter ihm eine Fremde geworden? Eine Fremde, von der er sich scheu abwandte? Würde es ihr gelingen, das Kind wieder an sich zu fesseln, von dem sie sich, ach, jetzt fühlte sie es mit vernichtender Deutlichkeit, viel zu leicht losgesagt hatte! Das waren Fragen, die sie naturgemäß nicht wenig quälten, und die Minuten, die verstrichen, wurden ihr zur Ewigkeit. Während sie in Gedanken versunken sich niedersetzte, weil sie das Gefühl hatte, daß ihre Füße nicht mehr die Kraft haben würden, sie zu tragen, ging plötzlich geräuschlos die Tür auf, und die weiche, leise Stimme ihrer Schwiegermutter sprach:

»Da bringe ich den kleinen Alfi seiner Mutter wieder, die er lang entbehrt und nun doppelt lieb haben will!«

Und im selben Augenblick schlangen sich zwei weiche Kinderarme um Olas Hals, und eine jubelnde, fröhliche Knabenstimme rief: »Hurra, meine Mami ist wieder da, jetzt lasse ich sie aber nimmer fort zu der fremden Großmama, die sie so lang pflegen mußte!« Erschüttert drückte Ola von Marfen ihr Kind an sich; sie verstand den ganzen Zartsinn der Frau, die sie Jahre hindurch angefeindet und die nun in edler Vergeltung ihr die Brücke gebaut hatte, durch welche der Vereinigung mit ihrem Kinde jeder Stachel genommen war und durch die sie selbst, gewiß nicht vor dem Kleinen allein, sondern auch vor der Welt, dank ihrer gütigen Schwiegermutter in dem verklärten Licht treu erfüllter Kindesliebe dastand.

Alfi, der natürlich regelmäßig die Schule besuchte, teilte seine freie Zeit nun gleichmäßig zwischen Mutter und Großmutter und war dabei froh und vergnügt. Die beiden Frauen empfanden dankbaren Herzens das Glück, welches ihnen durch das Kind geboten wurde, aber eine jede von ihnen fühlte sich trotzdem von einem dumpfen Druck belastet. Die Sorge um ihren Einzigen, um ihren Robert und um sein verfehltes Dasein lastete schwer auf der Mutter, während Ola der Gedanke an ein erstes Wiedersehen mit dem Gatten wie ein Alp auf der Seele lag, da sie sich ja doch die bange Frage stellte, ob er es über sich bringen werde, zu verzeihen, was sie an ihm verbrochen? Als die beiden Damen eines Tages von einem gemeinsamen Spaziergang mit Alfi heimkehrten, gerieten sie in mächtige Erregung, als die Dienerin ihnen die Visitkarte des Oberstleutnants von König übergab und gleichzeitig meldete, er habe lebhaft bedauert, Frau von Marfen nicht getroffen zu haben, und bitte sie, es ihm nicht übelzunehmen, wenn er zu später Stunde nochmals vorspreche, da er bereits am nächsten Tage abreisen müsse.

Was würde Oberstleutnant von König mitzuteilen haben? Denn daß er nicht ohne Grund gekommen und ein zweitesmal zu kommen beabsichtigte, das stand fest. Aber alle Kombinationen vermochten doch nicht Klarheit zu bringen, und wenn Frau von Marfen der Zeit auch gern Flügel verliehen haben würde, so erübrigte ihr doch nichts, als in Geduld zu warten, bis der bewährte Freund zum zweitenmal kam. Und endlich erscholl die Hausglocke, meldete die Dienerin Oberstleutnant von König an, und als Frau von Marfen ihm in die Augen sah, wußte sie, daß es Gutes war, was er ihr zu berichten hatte. »Gestatten Sie, teure Freundin, daß ich mich ein Stündchen bei Ihnen häuslich niederlasse,« sprach er, ihre Hand an seine Lippen ziehend, »denn es ist vielerlei, was ich Ihnen zu berichten habe. Das Bekenntnis eines Toten, welches die Unschuld Ihres Sohnes klar und deutlich dokumentiert, habe ich höheren Ortes deponieren müssen, als Beweisstück dessen, daß ich gute Gründe habe, zu wünschen, mein junger Freund, Hauptmann von Marfen, möge von dem häßlichen Verdacht, der auf ihm gelastet, vollständig rehabilitiert werden, man wolle ihn reaktivieren und ihm seinen früheren Rang wieder verleihen. Ich glaube, daß man meinen Charakter und meine Gesinnungsweise hinreichend kennt, um vollständig davon überzeugt zu sein, daß ich nicht mit voller Entschiedenheit für irgend jemand eintreten würde, wenn ich nicht von der Überzeugung durchdrungen wäre, daß ich mich für einen Ehrenmann einsetze!« Nachdem Oberstleutnant von König alles, was er in der ganzen Angelegenheit selbst erlebt und erfahren hatte, der in höchster Spannung lauschenden Mutter mitgeteilt hatte, sprach er endlich:

»Ich kann mit vollster Bestimmtheit die frohe Nachricht geben, daß ich die beiden Tage meines hiesigen Aufenthaltes dazu verwendet habe, um im Ministerium durchzusetzen, was ich durchsetzen wollte, nämlich Roberts Rückversetzung in das aktive Heer. Es handelt sich jetzt nur noch darum, zu bestimmen, wer ihm privatim, bevor er es dienstlich erfahren kann, von allem Geschehenen und von dem Resultat, das daraus hervorgeht, Mitteilung machen soll? Sie, gnädige Frau, oder ich – ich möchte der Mutter die Freude nicht nehmen, daß sie die erste sei, die ihren Sohn davon verständigt, daß sein Name gereinigt ist von jedem unwürdigen Verdacht, aber …«

»Nein, o nein, verehrter Freund, Sie, der Sie dieses große Werk vollbracht, Sie sollen auch der erste sein, der ihn davon in Kenntnis setzt, daß das Glück nicht für immer von seiner Schwelle gewichen, und dann, wenn der dumpfe Druck von ihm genommen, der ihn zu Boden gedrückt, dann sprechen Sie ein Wort für mich, dann sagen Sie ihm, er möge zu der Mutter kommen, die seiner harrt und die ihm einen sprechenden Beweis dafür liefern wird, daß sie stets nur treue Liebe für ihn im Herzen getragen und kein Opfer gescheut hat, ihm diese zu beweisen. Mehr, mein verehrter Freund, will ich auch Ihnen nicht verraten! Bringen Sie nur meinen Sohn dazu, zu mir zu kommen, alles andere wird sich finden!«

»Ihre Worte sind mir zwar rätselhaft, verehrte Frau, aber nicht an mir ist es, zu forschen, da ich Ihnen blind vertraue, habe ich ja doch oft genug Gelegenheit gehabt, zu sehen, mit welch hingebender Zärtlichkeit Sie an Ihrem Sohn gehangen, und wenn ich es selbst nicht gewußt, so hätte mein Freund Büsing das Seine getan, mich darüber aufzuklären. Ich werde Robert selbstverständlich genau von allem unterrichten, was sich seit dem Tage zugetragen, an dem Ihre Frau Schwiegertochter in Venedig zu Konsul Fries vorgeladen wurde, werde ihm auch nicht verheimlichen, daß Fräulein Fiori in seinem Interesse zu Ihnen gereist ist, und habe in meinem Bureau in Triest auch eine genaue Abschrift des Bekenntnisses Ettore Baldonis. Da es mir aber dringend geboten scheint, Robert von allem auf das genaueste zu unterrichten und nichts zu übersehen, werde ich, sobald ich in Triest angelangt bin, ihm an seine mir genau bekannte Adresse telegraphieren und ihn bitten, sich in dringender Angelegenheit sofort zu mir zu begeben. Er hat viel zu viel angeborene und anerzogene Subordination, um diesem meinem Ansuchen nicht umgehend Folge zu leisten, dessen bin ich gewiß, und damit ist der erste Schritt zu einem neuen, glücklichen Leben getan! Und nun gestatten Sie mir, gnädige Frau, daß ich Ihnen in Verehrung die Hand küsse und mich auf unser nächstes, hoffentlich wolkenlos frohes Wiedersehen freue!«

Ungefähr acht Tage waren seit dieser Unterredung vergangen, deren Inhalt Frau von Marfen rückhaltslos ihrer Schwiegertochter mitgeteilt hatte.

Und der Tag brach an, an welchem eine kurze Depesche die für den Abend zu erwartende Ankunft Robert von Marfens meldete. Ola war kreideweiß geworden, als ihr die Mutter davon Mitteilung machte.

Ola sah den ganzen Tag über aus wie ein Gespenst, und es bedurfte ihrer ganzen Willenskraft, um sich so weit zu beherrschen, daß dem Knaben ihr Wesen nicht auffiel. Eisig kalt war die Hand, die sie der Mutter zum Abschied bot, als diese zur Bahn fuhr, ohne daß Alfi geahnt hätte, weshalb die Großmutter zu so ungewohnter Stunde von ihnen gehe.

»Mama, was ist dir denn, du spielst heute gar nicht so nett wie sonst mit mir?« fragte der Kleine einige Male, denn mit dem Scharfblick, der Kindern eigen zu sein pflegt, bemerkte er recht gut, daß die Gedanken der Mutter ganz und gar nicht bei den Spielen weilten, die sie sonst fröhlich und guter Dinge mit ihm zu betreiben pflegte. Da gab sie sich schließlich doch alle Mühe, sich um des Kindes willen zu beherrschen, ja sie erzählte dem Kleinen sogar Geschichten, die ihn derartig fesselten, daß er gar nicht hörte, wie die Wohnungstüre aufging und Schritte die Richtung nach dem Zimmer der Oma einschlugen. Es herrschte dann wieder verhältnismäßige Stille in dem Gemache. Mit ganz leiser Stimme erzählte Ola Geschichten, ohne eigentlich so recht zu wissen, was sie rede. Wie unter hypnotischem Zwang hatte sie gehandelt, und erst als sie tatsächlich losgelöst war von dem Gatten, dem Kinde, dem Heim, war ihr nach und nach die Erkenntnis dessen gekommen, was sie getan, war auch die Reue in ihrer Seele wach geworden.

Wie sie aber alles hätte ungeschehen machen können, das wußte sie damals nicht, und so hatte sie traumhaft und verständnislos weitergelebt, bis sie nach und nach immer unfehlbarer zu der Überzeugung gekommen war, daß der kurze Liebesrausch, dem sie sich hingegeben, gar keine Liebe sei, daß sie einem Abenteurer zum Opfer gefallen und ihr Herz doch eng mit der Vergangenheit verwoben war, von der sie sich gewaltsam losgerissen hatte. Dann war die Zeit gekommen, in der Ettore Baldoni sie betrogen und im Stiche gelassen: ihr folgte jene furchtbare Stunde ihres Lebens, in der sie, bei dem Verhör, das Konsul Fries mit ihr anstellte, erkennen mußte, daß sie, Ola von Marfen, tatsächlich verdächtigt worden sei, gemeinsam Sache mit einem Landesverräter gemacht zu haben. Und diese Erkenntnis trug vielleicht mehr als alles andere dazu bei, sie alles bereuen zu lassen, was sie von der Stunde an unternommen, da sie dem Hause ihres Gatten den Rücken gewandt. Alle Reminiszenzen dessen, was gewesen, erstanden jetzt vor ihrem geistigen Auge, während sie anscheinend unbefangen mit ihrem Kinde spielen mußte und dabei doch, grenzenlos gepeinigt, auf jedes Geräusch achtete, das von außen zu ihr hereindrang. Jede Minute dünkte ihr eine Ewigkeit, und fast fühlte sie sich erleichtert, als, vermutlich durch den monotonen Klang ihrer Stimme eingeschläfert, Alfis gleichmäßige Atemzüge ihr verrieten, daß der Sandmann ihm die Augen geschlossen. Sanft bettete sie das Haupt des Knaben in ihrem Schoße und faltete die Hände, ein heißes Gebet zum Himmel emporsendend, daß ihren Qualen ein glückliches Ende beschieden sein möge.

Mutter und Sohn hatten inzwischen ein langes Zwiegespräch gehabt, und aus allem, was Robert redete, erkannte Frau von Marfen deutlich den günstigen Einfluß, den zum Teil der Umstand, daß ein drückender Alp von ihm genommen war, zum Teil aber auch gewiß der Zuspruch Oberstleutnants von König auf Robert hervorgerufen hatte. Er war nicht mehr schroff, unnahbar, bissig in seiner Art der Mutter gegenüber, wie er das früher bei jeder Gelegenheit gewesen, und im vollen Bewußtsein dessen, daß er erst ganz entwaffnet sein werde, wenn er alles wisse, fragte Frau von Marfen endlich leise:

»Und hast du nichts mehr von Ola gehört, mein Sohn, von ihr, die du so heiß geliebt?«

»Nein Mutter! Ich konnte nichts von ihr hören, denn ich würde nie den Mut besessen haben, nach ihr zu forschen, solange ein schmählicher Verdacht auf meinem Namen haftete, jetzt aber, jetzt will und werde ich nichts unversucht lassen, um sie wiederzufinden, um eine Verständigung, eine Klärung alles dessen herbeizuführen, was trennend zwischen uns gestanden; und du wirst sehen, Mutter, es muß noch alles gut werden! Auch du wirst schließlich erkennen lernen, daß eine Liebe gleich der meinen sich nicht hinwegwischen läßt, als sei sie ein Nichts; sie muß im Gegenteil Gegenliebe wachrufen.«

»Und was dann, mein Sohn, wenn ich vorgearbeitet hätte in deinem Sinne?«

»Was soll das heißen, Mutter?« fragte er bebend.

»Komm, mein Sohn!« sprach sie, ihre Hand in seinen Arm legend, »komm und lasse dich meiner Tochter zuführen! Was ihr dann beide miteinander zu sprechen habt, das geht keine Menschenseele an außer euch zweien, ich weiß aber, daß die Liebe den Sieg davontragen wird über alles Irren und Fehlen der Vergangenheit!«

Leise öffnete sie die Tür, und fast automatenhaft ließ er sich über die Schwelle schieben. Da sah er das Weib vor sich, das er geglaubt hatte für immer verloren zu haben, das Weib, dem die eine große, verzehrende Liebe seines Herzens gehörte, das Weib, dem er alles verzeihen konnte aus Liebe, und in dem Schoß der Frau ruhte sein schlafendes Kind. Er stand wie gebannt, unfähig, ein Wort zu sprechen, unfähig, einen Schritt nach vorwärts zu tun. Da war es seine Mutter, die rasch das schlafende Kind auf den Arm nahm und, Olas Hand erfassend, sich ihrem Sohne zuwandte:

»Mein Robert!« sprach sie mit tränenfeuchtem Blick, »ich lege das Glück und die Zukunft meiner Tochter in deine Hände; ich weiß, du wirst beides heilig halten!«

Lautlos verließ sie mit dem schlafenden Kind das Gemach, und Ola, die zaghaft zu ihrem Gatten emporsah, zitterte so sehr, daß man glauben konnte, sie werde in die Knie sinken, er aber breitete die Arme aus und zog sie an sich.

»Lassen wir die Vergangenheit mit ihrem Leid, ihren Schmerzen, ihrem Unrecht ins Meer der Vergessenheit versinken. Dein Glück, mein Glück, unser Glück, wir danken es der Mutter, die erneut uns zusammenführte!« sprach er weich.

» Mater dolorosa (schmerzensreiche Mutter)!« flüsterte Ola mit zuckenden Lippen. »In tausendfacher Liebe wollen wir ihr alles lohnen, was sie durch uns gelitten!«

Ende.

 

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