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9. Kapitel.

»Alt habe ich werden müssen,« sagte sie sich mit aufsteigender Bitterkeit, »um den Einfluß zu begreifen, den geistig tiefstehende, aber schlaue Frauen auf die klügsten Männer haben. Ich hätte es nie und nimmer geglaubt, daß mein Robby, das Kind, für das ich gelebt, gesorgt, seit es das Licht der Welt erblickt hatte, so gegen mich vorgehen könne, wie es jetzt der Fall ist, aber alles Klagen, alles Leiden, alle Schmerzen frommen zu nichts, es will getragen sein. Ich kann nichts tun als beten und hoffen, daß, wenn nicht jetzt, so doch in fernab liegender Zeit die Stunde schlagen wird, in der er klar sieht, in der er begreifen lernt, wie unwert sie seiner ist, erkennt, daß es keine Menschenseele besser mit ihm meinen kann, als seine arme, alte Mutter, die er jetzt schmäht, gegen die er jetzt nur Groll im Herzen trägt.« Schweigend gab sie dem Sohne Olas Brief zurück, schweigend nahm er ihn in Empfang, sperrte ihn in die Lade seines Schreibtisches und saß dann, starr vor sich hinblickend, vollkommen apathisch da. Sie weilte lange an seiner Seite, sie versuchte dieses und jenes zu sprechen, ihn aufzurütteln aus der dumpfen Apathie, in die er verfallen zu sein schien, aber er gönnte ihr weder Wort noch Blick.

»Es ist spät geworden, Robert, willst du dich nicht zur Ruhe begeben?« fragte sie endlich leise, indem sie mit der Hand liebevoll über sein üppiges dunkles Haar strich. Er schüttelte ihre Hand ab, als sei sie ein Reptil, das ihn berührt habe.

»Zur Ruhe begeben?« wiederholte er höhnisch. »Glaubst du, daß ich den Begriff »Ruhe« je wieder kennen werde, bevor es mir gelungen ist, sie wiederzufinden, die meines Lebens Stern?«

Sie schwieg, denn was hätte sie auch sagen sollen? Für alle Gründe gesunder Vernunft war er nicht zugänglich, nicht empfänglich, und sie sagte sich, daß ihr fürs erste nichts übrig bleibe, als abzuwarten, im stillen zu hoffen und zu beten, daß Gott ihn erleuchten möge, ihm den Weg des Rechtes, den Weg zur Pflicht zeige, ihm den Begriff beibringe, daß er jetzt mehr denn je die Aufgabe habe, einen Strich zu machen über alles, was gewesen, und nur seinem armen, mutterlosen Kinde zu leben.

»Willst du nicht mit mir zu Alfi kommen?« bat sie leise, er aber wehrte ungeduldig ab, und so verließ sie ihn denn schweren Herzens, um an dem Lager ihres Enkels in die Knie zu sinken, und während sie ihre Blicke voll unendlicher Zärtlichkeit auf das schlummernde Kind richtete, stieg ihr heißes flehendes Gebet für Vater und Sohn, für die beiden, die ihr Leben ausfüllten, zum Himmel empor. Mit zuckenden Lippen gelobte sie sich, dem armen mutterlosen Kinde diejenige ersetzen zu wollen, die reuelos von ihm gegangen, und keine Mühe zu scheuen, um den Vater darauf hinzuweisen, daß, wenn er auch ein falsches Glück verloren, das echte, höchste, reine ihm in seinem Kinde geblieben sei. Der Tag begann bereits zu grauen, als der Schlaf sich endlich auf ihre müden Lider senkte und sie wenigstens für Stunden dem bitteren Leid der Gegenwart entrückt war. Das Erwachen aber erwies sich als doppelt grauenvoll. Es hatte wiederholt an ihre Tür gepocht, bis der bleierne Schlaf von ihr wich, und als auf ihr in heller Verwirrung gestammeltes »Herein« der Diener Andreas über die Schwelle trat, erkannte sie auf den ersten Blick, daß Außergewöhnliches sich zugetragen haben müsse, denn der Mann stammelte völlig fassungslos:

»Ich bitte, gnädige Frau, der Herr Hauptmann scheint schwer krank zu sein, er redet irre und schlägt mit Händen und Füßen um sich. Ich wollte nur der gnädigen Frau Bericht erstatten, bevor ich um den Doktor gehe, denn ich wußte mir gar nicht mehr zu helfen.«

Frau von Marfen, die sich nur im Morgengrauen angekleidet auf das Bett geworfen hatte, sprang rasch auf und eilte dem Diener voran in das Gemach ihres Sohnes. Noch bevor sie die Tür zu demselben geöffnet hatte, tönte ihr sein irres, schrilles Lachen entgegen, das sie erbeben ließ. Was würde ihr bevorstehen? Hatte der Schmerz seine Sinne umnachtet, war er wahnsinnig geworden, oder handelte es sich nur um ein akut austretendes Fieber, das sich bald wieder legen würde? Sie befahl dem Diener, das Mädchen um den Arzt zu schicken und selbst hier zu bleiben, denn es durchzuckte sie der qualvolle Gedanke, daß ein Tobsuchtsanfall eintreten könne, der es unerläßlich mache, männliche Hilfe zur Seite zu haben. So sehr sie auch durch sanften Zuspruch bemüht war, Robert, der lang hingestreckt auf der Ottomane lag und das Antlitz von ihr abgewandt in die Kissen gedrückt hatte, zu beruhigen, es wollte ihr dies nicht gelingen. Allem Anschein nach erkannte er sie gar nicht und stieß nur von Zeit zu Zeit stöhnende Klagelaute aus, die fast an jene eines zu Tode gehetzten Tieres erinnerten. Auch als der heißersehnte Arzt nach etwa einer halben Stunde erschien, konnte er noch keine klare Diagnose stellen. Er konstatierte nur hitziges Fieber, forderte Bettruhe für den Patienten, verordnete kalte Umschläge auf Kopf und Herz, schrieb eine beruhigende Arznei auf und versprach, im Laufe des Tages wiederzukommen. Der besorgten Mutter konnte er nur sagen, er wisse noch nicht recht, um was es sich handle, er befürchte aber eine Gehirnhautentzündung oder ein Nervenfieber. »Wir wollen hoffen, daß es das letztere sei,« fügte er beruhigend hinzu, als er den Ausdruck unbeschreiblicher Angst in den Zügen der Mutter las. »Die Krankheit dürfte, das läßt sich heute schon bestimmen, eine langwierige werden, der eine ebenfalls langwierige Rekonvaleszenz folgen wird. Während dieser nun wird eine noch so gut geschulte, bezahlte Wärterin nicht genügen, da wird er der unermüdlichen Liebe und Sorgfalt einer Mutter bedürfen, und um ihm diese bieten zu können, müssen Sie tapfer sein, müssen Sie sich schonen und aufrechterhalten und während der Wochen, wo nur manuelle und nicht seelische Pflege notwendig sein wird, diese der bezahlten Hilfskraft überlassen, die naturgemäß Robusteres leisten kann, weil sie nur aus Berufspflicht und nicht mit sorgender Mutterliebe pflegt, folglich durch die Pflege weniger angegriffen ist.«

Frau von Marfen sah ein, daß der Arzt im Rechte sei und fügte sich seinen Anordnungen. Bange Tage und Wochen vergingen, in denen der kleine Alfi der einzige Lichtstrahl in ihrem düsteren, sorgenvollen Dasein war. Seltsamerweise fragte das Kind gar nie nach der Mutter und lieferte damit den sprechendsten Beweis, wie wenig sich diese, als sie noch im Heim ihres Gatten geweilt, mit dem Kinde befaßt haben mochte. Irma von Marfen war durch diese Erkenntnis nicht überrascht, denn sie hatte seit Jahren gewußt, daß Ola dem Kinde, dem sie eigentlich nur das Leben geschenkt, mit Vorliebe aus dem Wege gegangen war und sich, durch tausenderlei gesellschaftliche Pflichten verhindert, nie so mit dem kleinen Mann befaßt hatte, wie es einer liebenden Mutter natürlich und selbstverständlich erschienen wäre. Bange Tage und Wochen waren es, in denen die Mienen des Arztes immer ernster wurden und Frau von Marfen sich bekümmerten Herzens fragte, ob es ihm wohl überhaupt gelingen werde, Robert zu retten.

Hauptmann von Büsing war in diesen schweren, sorgenvollen Tagen seiner mütterlichen Freundin treu zur Seite gestanden und täglich gekommen, um sich nach Roberts Befinden zu erkundigen, wie denn auch Vorgesetzte und Kameraden allgemeine Teilnahme für den kranken Offizier und dessen schwer geprüfte Mutter an den Tag legten. Frau von Marfen aber fühlte sich unfähig, die zahlreichen Besuche, die sicherlich aus Teilnahme, vielleicht aber auch ein klein wenig aus Neugierde sich einstellten, zu empfangen, und sowohl Damen als Herren erhielten von dem treuen Andreas immer den Bescheid, die gnädige Frau sei so vollständig mit der Pflege des Herrn Hauptmannes in Anspruch genommen, daß sie unmöglich irgend einen Besuch empfangen könne. Wochen waren vergangen, ohne daß Robert von Marfen wieder zur Besinnung gekommen wäre; bald stieg das Fieber, bald ließ es wieder nach, um am nächsten Tag desto heftiger wieder aufzutreten. Oberstleutnant von König, der Generalstabschef Roberts, also sein unmittelbarer Vorgesetzter, kam täglich, zuweilen sogar zweimal, um sich nach dem Befinden seines Untergebenen zu erkundigen, und seine mit fast angstvoller Hast hervorgestoßene Frage lief immer darauf hinaus, ob Hauptmann von Marfen denn noch immer nicht zum Bewußtsein gekommen sei. Er fühlte sich offenbar tief erregt, stets eine Verneinung auf seine Frage zu erhalten. Eines Tages nun, als er auch wieder zum zweitenmal vorsprach und wieder den Bescheid erhielt, dem Herrn Hauptmann gehe es immer noch im gleichen, brachte er offenbar einen Entschluß zur Ausführung, den er schon früher gefaßt haben mußte, denn er zog aus seiner Visitenkartentasche eine kuvertierte Karte und beauftragte den Diener, diese sofort Frau von Marfen zu überreichen; er werde auf die Antwort der gnädigen Frau warten. Andreas folgte alsbald der Weisung, und Frau von Marfen las mit einiger Verblüffung unter dem Namen des Oberstleutnants von König die ergebenste Anfrage, ob es ihm gestattet sei, in einer streng dienstlichen diskreten Angelegenheit mit der gnädigen Frau einige Worte zu sprechen. Ein unsagbares Angstgefühl, für das es keine rechte Aufklärung gab, bemächtigte sich Frau Irmas, und bangen Herzens fragte sie sich, um was in aller Welt es sich denn handeln könne, und sie gestand sich gleichzeitig ein, daß, was immer es auch sein mochte, sie schwerlich darüber würde Aufschluß geben können, denn Robert hatte nie die Gewohnheit gehabt, von irgendeiner dienstlichen Angelegenheit im heimischen Kreise zu reden. Er selbst aber war jetzt ganz bestimmt noch nicht in der Lage, Aufschlüsse zu erteilen, und der Arzt hatte auch so dringend geraten, daß, wenn das Bewußtsein, wie man nun hoffen durfte, bald wiederkehre, man den Rekonvaleszenten um keinen Preis mit irgend einer Frage quälen möge. Es war mithin ausgeschlossen, an ihn das Ansinnen zu stellen, er möge irgend eine Auskunft erteilen. Was war es nun, was Oberstleutnant von König von ihr wissen wollte?

»Verzeihen Sie, gnädigste Frau, daß ich in dieser für Sie so sorgenschweren Zeit Sie auch noch mit meinem Besuch behellige, und seien Sie überzeugt, daß es nicht geschehen wäre, wenn nicht die zwingende Notwendigkeit an mich herangetreten, mir Licht und Klarheit zu verschaffen. Ihr Herr Sohn hat in hohem Auftrag äußerst wichtige Pläne anzufertigen gehabt, und es war dieses eine ihm anvertraute geheime Mission. Der Zeitpunkt, zu welchem diese Pläne hätten abgeliefert werden sollen, ist während seiner Krankheit abgelaufen. Ich wußte das natürlich, hoffte aber, die Angelegenheit bis zu seiner Genesung hinausschieben zu können. Nun aber wurde ich gedrängt, es sind Komplikationen eingetreten, die es ganz unerläßlich machen, diese Pläne sofort zur Stelle zu schaffen, und ich muß Sie, gnädige Frau, ganz ergebenst bitten, mir dabei behilflich sein zu wollen. Ich überlasse es Ihnen, an Ihren Sohn die wichtigen Fragen zu stellen, und will nur von ganzem Herzen hoffen, daß es uns bald gelingen möge, zu finden, was wir so dringend benötigen.«

»Herr Oberstleutnant, halten Sie es nicht für Mangel an gutem Willen meinerseits, wenn ich unumwunden erkläre, daß ich absolut nicht weiß, wie ich es ermöglichen soll, Ihnen behilflich zu sein. Mein Sohn hat von jeher jede dienstliche Angelegenheit seinem ganzen Haushalt streng ferngehalten. Wenn er zu Hause arbeitete, geschah es im versperrten Zimmer, und weder ich noch sonst irgend jemand haben je gewußt, ob er die Arbeiten, die er zu liefern hatte, bei sich im Hause behielt oder ob er sie gleich fortschaffte. Die Schlüssel zu seinem Schreibtisch und zu seinem Arbeitskasten trug er immer bei sich, sie befinden sich auch jetzt in dem Nachtkästchen neben seinem Bett. Ich hätte nie den Mut, die Schlüssel anzugreifen, weil mich die Angst verfolgen würde, daß ein zufälliges, unabsichtlich damit verursachtes Geräusch imstande wäre, ihn aufzuschrecken, ihm zu schaden. Sein gegenwärtiger Gesundheitszustand ist allerdings, Gott sei Dank, etwas besser, aber wenn auch das Fieber nachgelassen, so ist doch das Bewußtsein nicht zurückgekehrt, und selbst, wenn ich wollte, könnte ich mithin keine Frage an ihn stellen, die geeignet wäre, uns Aufschlüsse zu geben. Es erübrigt uns folglich nichts anderes, als Sie zu bitten, Herr Oberstleutnant, die Genesung meines Sohnes abzuwarten, die ja, so Gott will, nicht mehr gar so lange auf sich warten lassen dürfte!«

»So gern ich Ihnen auch gefällig sein möchte, gnädige Frau, es geht nicht. Ich bin gezwungen, die Pläne, die man von mir verlangt hat, dem Ministerium einzusenden; es sind wichtige Blätter, an deren Hand man dann weitere Entschlüsse treffen wird. Sie wissen ja, gehorchen ist des Soldaten erste Pflicht; ich habe die strikte Weisung erhalten, diese Pläne vorzulegen, und es muß geschehen. Ich sehe aber andrerseits ein, in welch schwieriger Lage Sie sich befinden, wie der Gedanke Sie aufregen muß, Ihrem Sohn möglicherweise durch Fragen Gemütsbewegung zu bereiten, seinen Zustand zu verschlechtern, und es fällt mir ein einziger Ausweg ein, den einzuschlagen mir zwar peinlich ist, dem ich aber nicht gut aus dem Wege gehen kann. Damit es Ihrem Sohne nicht in einem möglicherweise eintretenden lichten Moment auffällt, wenn man in der Lade neben seinem Bett nach seinen Schlüsseln kramt, müssen sein Schreibtisch und sein Arbeitskasten aufgesprengt werden.«

»Ich bitte,« fügte der Oberstleutnant mit leichtem Lächeln hinzu, »in dieser Handlungsweise weder einen gehässigen Gewaltakt noch eine Hausdurchsuchung sehen zu wollen, sondern einfach eine durch die Verhältnisse, durch die Krankheit Ihres Herrn Sohnes bedingte Zwangsmaßregel, der wir uns fügen müssen, wenn wir zu dem Ziel gelangen wollen, welches wir anstreben. Sie mögen überzeugt sein, daß ich das unerläßliche Aufsprengen des Schreibtisches und des Kastens nur von einem meiner militärischen Untergebenen besorgen lassen werde, auf dessen vollständige Diskretion ich mich unbedingt verlassen kann. Außer dem Manne, dessen mechanische Dienste ich brauche, werde ich allein zugegen sein bei der Öffnung beider Einrichtungsstücke. Allein werde ich auch nach den Plänen suchen, die zustande gebracht werden müssen, und bitte daher nur um Ihre Gegenwart, gnädige Frau. Sie sollen Gelegenheit haben, sich zu überzeugen, daß ich in diskretester Weise vorgehe, und gewiß allen Schriften oder Briefen, die sich sonst in dem Besitz Ihres Sohnes befinden mögen, nicht einen einzigen Blick zuwende. Ich erfülle nur die mir auferlegte Pflicht, die Pläne zur Stelle zu schaffen, weil ich mich eben dieser Pflicht nicht entziehen kann, und Sie mögen gewiß sein, daß Sie sonst in jeder Hinsicht auf meine Diskretion sich verlassen können. Die Angelegenheit drängt so sehr, daß ich Sie um die Erlaubnis bitten muß, schon heute meine diesbezüglichen Schritte unternehmen zu dürfen. Ich bin über die Einteilung Ihrer Wohnung nicht so ganz orientiert, hoffe aber, es läßt sich alles, was zu geschehen hat, so veranstalten, daß ihr armer Kranker dadurch in keiner Weise behelligt wird.«

»Das Arbeitszimmer meines Sohnes ist nach dem Hof zu gelegen, er wählte sich selbst diesen Raum, weil er dort am meisten Ruhe hatte zu seinen vielfachen Arbeiten. Das Gemach, in dem er gegenwärtig liegt, befindet sich im entgegengesetzten Teil der Wohnung. Selbst wenn er bei Bewußtsein wäre, brauchte er nicht zu ahnen, daß jener Raum betreten wird.«

»Ich danke Ihnen, gnädige Frau, für Ihr gütiges Entgegenkommen. Es ist mir vollkommen begreiflich, daß Sie alles, was ich tun muß, peinlich empfinden werden, aber Sie sind selbst Soldatenfrau, Sie wissen und begreifen, daß ich nicht anders handeln kann und das zur Ausführung bringen muß, was mir befohlen wird. Wir wollen hoffen, daß ich rasch finde, was ich suche, damit die peinliche Angelegenheit zum Abschluß gebracht wird und wir Marfen, wenn er vollständig genesen ist, in wenigen Worten die Sachlage erklären können. Für jetzt gestatten Sie, daß ich mich empfehle, und Sie tragen wohl gütigst Sorge, daß, wenn ich um vier Uhr nachmittags wiederkehre, wir in keiner Weise gestört werden!« Er zog Frau von Marfens Hand an die Lippen und entfernte sich mit tiefer Verbeugung.

Wie gelähmt verharrte die Mutter an der Stelle, an der Oberstleutnant von König von ihr gegangen. Die Angst schnürte ihr die Kehle zu, ohne daß sie sich eigentlich Rechenschaft darüber hätte ablegen können, weswegen sie solche Angst habe. Ein dienstlicher Auftrag, der vollführt werden mußte, was lag denn eigentlich weiter daran? Und doch vermochte sie nicht, sich einer namenlosen Bangigkeit zu erwehren, wenn sie sich auch sagte, es könne keine Ursache dafür bestehen, und das Schlimmste, was sich möglicherweise ereignen könnte, wäre der Umstand, daß die Pläne nicht fertig gearbeitet sind, was sich ja schließlich durch Roberts Krankheit sehr leicht und einfach erklären ließ. Obzwar sie sich das sagte und ihr Möglichstes tat, um sich selbst Mut und Ruhe zuzusprechen, wollten die Nerven dem Willen nicht gehorchen, zerbrach sie sich unausgesetzt darüber den Kopf, was sie denn wohl eigentlich tun könne, um eine möglicherweise an ihn herantretende Unannehmlichkeit abzuwehren, denn mehr als eine Unannehmlichkeit konnte ihm ja unmöglich erwachsen, schon deshalb nicht, weil Oberstleutnant von König ein außerordentlich wohlwollender und gütiger Vorgesetzter war, der selbst, wenn die Arbeiten nicht rechtzeitig abgeliefert werden konnten, die Krankheit als entsprechenden Milderungsgrund ins Treffen führen würde.

Wochenlang war Marfen durch das entschwundene Bewußtsein jedem Leid entrückt gewesen; erwachte nun der geschwächte Organismus wieder zum Bewußtsein, so war es immerhin fraglich, ob er die Kraft haben werde, das Leid zu tragen, oder ob er nicht unter demselben zusammenbrach? Vielleicht würde er bei ruhiger Überlegung gelernt haben, normaler zu denken, würde er einsehen, daß Ola nicht zu den Frauen gehörte, denen ein ganzer Mann nachweinen durfte. Vielleicht würde er lernen, zu begreifen, daß all das, was er an ihr so leidenschaftlich geliebt, nur in seiner Phantasie bestanden, daß sie nie diejenige gewesen, für die er sie gehalten, und vielleicht würde die Erkenntnis der Enttäuschung, die ihm zuteil geworden, ihn lehren, des Schmerzes Herr zu werden! Aber ach, all das waren nur schöne Phantasien, die sie quälten und keinerlei Gewißheit boten. Noch nie hatte sie so sehr empfunden, wie machtlos der Mensch mit der Wirklichkeit ist, wie er schließlich doch nur willenlos all seinen Wünschen, Ringen, Hoffen und Streben angesichts der vorgezeichneten Bahnen wandelt und sich dem Schicksal fügen muß. Lange, lange kniete sie betend am Lager ihres Sohnes, dann endlich, als sie sah, daß seine Atemzüge immer noch ruhig und gleichmäßig gingen, daß sie wirklich hoffen könne, der wohltätige Schlaf, den der Arzt schon lange gewünscht, habe sich eingefunden, erhob sie sich und verließ geräuschlos das Gemach, um alle nötigen Vorkehrungen im Hause zu treffen, die ihr für den Nachmittag die gewünschte Ruhe sichern sollten. Noch nie war ihr eine Zeit so lange geworden wie die Stunden, die sie von dem Augenblick trennten, in dem Oberstleutnant von König wiederkehren sollte, um die von ihm in Aussicht genommene Suche zu beginnen. Nachdem sie alles getan, was ihr im Haushalt und in der Einteilung des Tages notwendig erschienen, nachdem sie sich dann gezwungen, einige Bissen Nahrung zu sich zu nehmen, um sich bei der bevorstehenden peinlichen Prozedur aufrecht halten zu können, wanderte sie ruhelos in ihrem Zimmer auf und nieder, in fieberhafter Ungeduld harrend, daß es später werde. Mit dem Glockenschlage vier wurde ihr gemeldet, daß Oberstleutnant von König wiedergekommen sei und die gnädige Frau zu sprechen wünsche. Sie trat ihm ins Vorzimmer entgegen und führte ihn nach kurzer Begrüßung in das Arbeitszimmer des Sohnes. Ein paar Sekunden lang standen sich die beiden dort schweigend gegenüber, dann sprach der Offizier:

»Gestatten Sie, gnädige Frau, daß ich den Mann hereinrufe, der mich begleitet hat, damit wir so rasch als möglich die Mission zu Ende führen, die sich ja doch nicht hinausschieben läßt.« Er öffnete die Tür und rief einen Unteroffizier herein, dem er die erforderlichen Weisungen erteilte und der sich geräuschlos und geschickt an die Lösung seiner Aufgabe machte. Als sowohl die Schubfächer des Schreibtisches, als die Kastentüren offen standen, wurde der Mann entlassen, nachdem ihn der Oberstleutnant nochmals streng darauf hingewiesen, daß er die Verpflichtung habe, dieses Dienstgeheimnis zu wahren. Dann machte sich König in Gegenwart Frau von Marfens mit höchster Umsicht daran, allerorts nach den erwähnten Plänen zu suchen, aber trotz gewissenhaftester Forschung blieb sein Mühen ein vollständig vergebliches, und mit bedauerndem Achselzucken erkannte er schließlich die totale Erfolglosigkeit seiner Mission. »Ich habe getan, was meines Amtes gewesen, was die Pflicht mir auferlegte, aber meine Suche erwies sich als vollständig vergeblich.« Mit gefurchter Stirn, den Blick zu Boden gesenkt, offenbar in tiefes Nachdenken versunken, stand er da.

»Was nun, Herr Oberstleutnant? Was wird die Folge dieses vergeblichen Suchens sein?« fragte Frau von Marfen angstvoll. »Robert ist ja doch nicht schuld an seiner Krankheit, man kann ihm doch nicht Dinge zur Last legen, die außer dem Bereich seines Könnens liegen. Ich weiß nur auszusagen, daß ich nicht ahne, wo er die Pläne verwahrt hat, und deshalb auch nicht in der Lage bin, Angaben zu machen; aber der Gedanke ist mir qualvoll, daß meinem Sohn eine Schuld beigemessen werden könne, für die er mit Berechtigung sicherlich nicht verantwortlich gemacht werden kann …«

»Quälen Sie sich nicht, gnädige Frau, quälen Sie sich nicht mehr als notwendig, Sie mögen überzeugt sein, daß ich für Ihren Sohn einstehe, daß ich höherenorts die Sache so schildern werde, wie sie sich tatsächlich verhält; daß ich, von seiner Krankheit Bericht erstattend, versuchen will, zu erreichen, man möge sich mit der Zustandebringung der Pläne gedulden, bis Marfen wieder genesen. Ich werde so überzeugend berichten, daß man mir Glauben schenken muß, und wenn, hoffentlich in nicht allzu ferner Zeit, der Patient wieder so weit hergestellt ist, daß man ohne Gefahr für seine Gesundheit Fragen an ihn stellen, ihn um Aufklärung bitten kann, so wird sich ja, ich zweifle nicht daran, alles in Wohlgefallen auflösen. Nun aber, gnädige Frau, verzeihen Sie die verursachte Störung und denken Sie auch ein wenig an sich, denn wenn Sie sich in der Pflege Ihres Sohnes weiter so anstrengen wie bisher, so müssen Sie zusammenbrechen, und damit ist weder Ihnen noch unserm Patienten gedient, der,« fügte er lächelnd hinzu, »nicht nur der liebenden Mutter, sondern auch dem Allerhöchsten Dienst erhalten bleiben soll!«


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