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10. Kapitel.

Einige Wochen waren noch in bangster Sorge vergangen, endlich aber brach der Tag an, an welchem der Arzt erklärte, die Genesung sei nun in kürzester Zeit zu erwarten. Das Bewußtsein hatte sich wieder eingestellt, und wenn auch die Schwäche noch sehr arg genannt, werden mußte, so ließ sich doch hoffen, daß bei entsprechender Pflege und guter Nahrung die völlige Herstellung nicht mehr lange auf sich warten lassen werde. Die Stimmung des Rekonvaleszenten war es, welche Frau von Marfen die größte Sorge einflößte, denn er ward finster, in sich gekehrt, für keinen liebevollen Zuspruch zugänglich, und sie wußte nur zu genau, daß seine Gedanken unausgesetzt bei ihr, der unseligen Frau, weilten, die sein ganzes Dasein zerstört und die Schuld an seiner Krankheit war. Bisher hatte Frau von Marfen noch nicht den Mut gehabt, ihrem Sohn von dem Wunsche zu sprechen, den Oberstleutnant von König bezüglich der unauffindbaren Pläne gehegt hatte, aber die Angelegenheit lag wie ein Alp auf ihrer Seele, sie wußte doch, daß sich die Sache nicht mehr lange werde hinausschieben lassen, und fürchtete doch die Aufregung, welche möglicherweise dadurch entstehen konnte. Freilich hoffte sie, daß Robert in der Lage sein werde, das Dunkel aufzuklären, daß er alsbald werde angeben können, wo die Pläne zu suchen seien, aber da er durch seine lange Krankheit von jedwedem Dienst ferngehalten gewesen, mußte man es immerhin nicht als unmöglich ansehen, daß ihn eine diesbezügliche Frage in Aufregung versetzen könnte. Oberstleutnant von König hatte schon zu wiederholten Malen gedrängt und gefragt, wann es ihm denn endlich ermöglicht sein werde, mit seinem Untergebenen Rücksprache zu halten, und wieder und immer wieder hatte die arme Mutter, durch bange Sorge dazu gedrängt, gestrebt, jede nur mögliche Aufregung fernzuhalten, hatte sich Ausreden gesucht, um das entscheidende Gespräch zu verzögern. Endlich aber sah sie selbst ein, daß es so nicht weiter gehen könne, daß irgendwie eine Klärung der Situation herbeigeführt werden müsse, und so entschloß sie sich denn, den Arzt zu Rate zu ziehen, und ihn zu fragen, ob man es wagen könne, mit dem Rekonvaleszenten eine ernste dienstliche Angelegenheit zu besprechen, ohne befürchten zu müssen, daß ihm dieses schaden könne? Doktor Lassing beruhigte sie einigermaßen, indem er ihr die Versicherung gab, daß der Herr Hauptmann eigentlich schon vollständig hergestellt sei, und sie durch ihre übergroße Ängstlichkeit seine Genesung behindere. Er solle nicht übermüdet werden, aber eine kurze Unterredung mit seinem Vorgesetzten werde ihm nicht schaden. In diesem Sinne verständigte nun Frau von Marfen den Oberstleutnant und bat ihn, am folgenden Morgen ihren Sohn aufzusuchen. Robert teilte sie dann vorbereitend mit, daß Oberstleutnant von König während seiner ganzen Krankheit sich äußerst liebevoll nach ihm erkundigt habe, ihn am folgenden Morgen besuchen werde. Robert nahm auch diese Mitteilung ziemlich apathisch entgegen, und der Mutter bereitete es tiefes Weh, sehen zu müssen, wie vollkommen gleichgültig er im Grunde genommen für alles geworden, was nicht mit Ola in Zusammenhang stand.

Der Morgen brach an, graue Wolken bedeckten den Himmel, und Frau von Marfen konnte sich der quälenden Angst nicht erwehren, die schwer auf ihrem Gemüte lastete. Sie sagte sich alles, was sich mit kluger Vernunft als Beruhigungsmittel sagen ließ, aber es frommte zu nichts.

Die Hausglocke erklang und gleich darauf meldete der Diener, daß der Oberstleutnant von König anfragen lasse, ob der Herr Hauptmann zu sprechen sei. Da klopfte ihr Herz zum Zerspringen. Trotzdem zwang sie sich zu äußerer Ruhe, begrüßte den Oberstleutnant freundlichst und geleitete ihn in das Arbeitszimmer ihres Sohnes. Während der ersten Worte der Begrüßung und Beglückwünschung über die nun endlich vorwärtsschreitende merkliche Genesung, blieb Frau von Marfen noch an dem Armstuhl ihres Sohnes stehen, dann aber erklärte sie, die Herren bei etwaigen dienstlichen Erörterungen nicht stören zu wollen, wies darauf hin, daß ein Glockenzeichen sie sofort herbeirufen könne, und verließ, ihrem Sohne liebevoll zunickend, das Gemach.

Nach einer Stunde etwa vernahm sie plötzlich ein mit großer Heftigkeit in rascher Aufeinanderfolge sich wiederholendes Glockenzeichen aus dem Zimmer ihres Sohnes und stürzte, so rasch ihre Füße sie tragen wollten, nach dem Gemache, in dem sie Robert und den Oberstleutnant vereint wußte. Schon als sie auf die Schwelle trat, erschrak sie so heftig, daß es ihr zumute war, als ob ihre Füße sie nicht weiter tragen können. Robert, der bisher noch nie für längere Zeit außer Bett gewesen, saß vor seinem Schreibtisch, dessen sämtliche Schubladen offen standen. Mit zitternden Händen wühlte er unter den verschiedenen Papieren, Schweißtropfen perlten auf seiner Stirn und ein Blick in seine erregten Züge genügte, um zu beweisen, daß man es hier mit Außergewöhnlichem zu tun habe. Oberstleutnant von König stand mit verschränkten Armen abseits, und aus seinen Zügen las man klar und deutlich, daß er heftig erregt sei.

»Um Gottes willen, Robert, was ist geschehen?« fragte Frau von Marfen mit zuckenden Lippen, aber er schien ihre Worte gar nicht gehört zu haben und warf nur unablässig in nervöser Hast Schriftstücke in den verschiedenen Schubladen hin und her, wie man es eben zu tun pflegt, wenn man um jeden Preis etwas finden will, was sich nicht finden läßt. Oberstleutnant von König war es, der sich endlich der qualvollen Unruhe erbarmte, die in den Zügen der Frau von Marfen so deutlich zutage trat, und erklärend sprach: »Sie sehen uns auf das tiefste bestürzt, gnädige Frau. Sie wissen, daß ich schon kürzlich den Schreibtisch Ihres Herrn Sohnes nach Plänen durchsuchte, die ich nicht fand. Diesen meinen Eingriff in sein Eigentum habe ich ihm heute mitgeteilt, und er erklärte mir darauf hin, daß es auch ganz unmöglich gewesen, die Pläne zu finden, da sie in einem nur ihm bekannten Geheimfach seines Schreibtisches wohl geborgen seien. Wesentlich beruhigt nahm ich diese seine Mitteilung entgegen, und Ihr Sohn erhob sich daraufhin, um mir die Pläne selbst zu übergeben. Er sperrte den Schreibtisch auf, er öffnete das Geheimfach, und nun stehen wir beide vor einem ungelösten Rätsel, denn – das Geheimfach ist leer, es enthält nicht nur nicht die fünf Blätter, die Ihr Sohn darin verwahrt hat, sondern es enthält rein gar nichts. Wieso das möglich ist, auf welche Art diese Blätter verschwunden sein können, das ist eine Frage, für die weder Marfen noch ich die Lösung finden. Ihr Sohn klingelte, um Sie zu fragen, ob Sie uns irgendeine Aufklärung geben können!«

Mit schreckensbleicher Miene hatte Frau von Marfen diese Erklärung entgegengenommen, sie war in militärischen Dingen viel zu versichert, um nicht sofort die Tragweite dessen zu begreifen, was sich ereignet hatte. Mit qualvoller Deutlichkeit wußte sie, daß durch dieses geheimnisvolle Verschwinden wichtiger Schriften möglicherweise die ganze militärische Laufbahn ihres Sohnes in Frage gestellt sei, ja, daß sich vielleicht noch Schlimmeres zutragen könne. Sie wußte, daß es für ihn eine zwingende Notwendigkeit sei, die verhängnisvollen Pläne wieder zur Stelle zu bringen, aber – konnte ihm das gelingen? Ein Zufall hatte diese Pläne sicherlich nicht hinweggezaubert, sondern böse Absicht war es gewesen, von wem freilich – das ließ sich nicht erklären. Wer konnte ein Interesse daran haben? War es ein Racheakt, der sich gegen Robert allein richtete, oder handelte es sich um ein Verbrechen im größeren Stil, nicht um ein Unrecht, das einen einzelnen vernichten konnte, sondern um einen Landesverrat, um eine Spionageaffäre? Der Racheakt, der sich gegen den einzelnen richtete, war viel leichter ans Tageslicht zu ziehen, als wenn es sich um eine Verschwörung handelte, bei der ohne Zweifel nicht eine Persönlichkeit, sondern mehrere die Mitwirkenden waren. Alle diese Gedanken stürmten mit beängstigender Klarheit auf die arme Frau ein, und Oberstleutnant von König, der wohl sah, wie sehr sie litt, sah, wie sie nach Worten rang, ohne dieselben finden zu können, fühlte grenzenloses Mitleid mit der armen Mutter, und bestrebt, ihr Mut zuzusprechen, sagte er: »Es ist ganz richtig, gnädige Frau, daß wir jetzt noch vor einem Rätsel stehen, aber der Zufall, welcher im Leben eine wesentliche Rolle spielt und, wenn man es am wenigsten ahnt, zur Hilfstruppe wird, kann auch in diesem Falle uns beistehen. Wir wollen nichts unversucht lassen, um das Unfaßliche zu ergründen, erschwerend wirkt dabei nur der Umstand, daß wir möglichst geheim operieren müssen und dadurch in unseren Schritten gebunden sind. Auf die Dauer kann ich natürlich dem Ministerium die Tatsache nicht verheimlichen, daß die wichtigen Pläne, deren Einsendung schon wiederholt urgiert wurde, nicht vorhanden sind. Ich möchte aber die dienstliche Mitteilung so lange als nur irgend möglich hinausziehen und diese Zeit zu den emsigsten Nachforschungen benützen. Du, mein lieber Marfen, wirst mir dabei, so weit es dein noch immer geschwächter Gesundheitszustand erlaubt, an die Hand gehen müssen. Vor allem sage mir, ob in der letzten Zeit vor deiner Erkrankung, wenn du an deinem Schreibtisch gearbeitet hast, sonst irgend jemand im Zimmer gewesen, ob es je vorgekommen sein kann, daß du deine Schlüssel liegen gelassen oder, wenn auch nur für einen Augenblick, das Gemach verlassen hast?«

Robert von Marfen schüttelte fast unwillig den Kopf.

»Nein,« erwiderte er lebhaft, »ich kenne ja doch die ganze Größe der Verantwortung, welche mich trifft, wenn ich die Zeichnungen solcher Pläne übernehme. Ich habe immer nur bei versperrten Türen daran gearbeitet und immer nur, wenn ich allein war. Die Schlüssel zu meinem Schreibtisch trug ich stets in der Tasche meines Beinkleides und hatte sie des nachts unter meinem Kopfkissen. Das Geheimfach ist durch einen Druck auf die Feder zu öffnen, und mir scheint es ganz und vollständig unverständlich, wie diese Pläne hinweggespenstert sein können.«

»Wenn die Sache sich so verhält, so muß der Diebstahl, denn um einen solchen handelt es sich wohl, entweder während du außer Haus warst, verübt worden sein, oder bei der letzten großen Dienstreise, die du nach Laibach gemacht hast, denn während deiner Krankheit kann ein Eingriff in deinen Schreibtisch nicht gut geschehen sein, weil deine Frau Mutter oder die Wärterin doch unablässig in deinem Schlafzimmer waren, dessen Tür in das Arbeitszimmer mündet und, wie ich glaube, meist offen steht. Der Schreibtisch ist vermutlich mit einem Nachschlüssel aufgesperrt worden; das Zimmer konnte man ja wohl auch während deiner Abwesenheit betreten, nicht so?«

»Allerdings, aber wie man in das Zimmer gelangt sein kann, ohne daß jemand es bemerkt hat, das ist es, worüber ich mir den Kopf zerbreche! Es gibt nur eine Möglichkeit, und zwar, daß irgend jemand vom Garten aus über die Freitreppe und durch die Balkontür eingedrungen, aber meines Wissens war diese immer versperrt, wenn ich vom Hause abwesend war, ja, ich pflegte sie selbst immer abzusperren, und ich entsinne mich auch, es nur ein einziges Mal vergessen zu haben.«

»Immerhin scheint sich mir auf solche Art eine Möglichkeit zu zeigen, wie es gelungen sein kann, in dein Zimmer zu gelangen«, entgegnete Oberstleutnant von König. »Freilich werden wir dadurch immer noch nicht klüger. Es genügt nicht, zu konstatieren, daß der Einbruch geschah, sondern wir müssen wissen, wer ihn verübte, um vielleicht daraus den Schluß zu ziehen, weshalb er verübt ist, und dann auch nach einer Handhabe zu suchen, die es uns ermöglichen könnte, die uns entwendeten wichtigen Pläne zurückzuerlangen.«

Robert von Marfen saß jetzt untätig, mit finster gefurchter Stirn da und starrte regungslos vor sich hin, seine Mutter aber stand mit gerungenen Händen da, und man konnte in ihren tränenfeuchten Augen, an ihren zuckenden Lippen deutlich wahrnehmen, welch namenlose Angst sie quäle. Eine zweifache Angst: jene, daß die furchtbare Aufregung dem geschwächten Organismus des Sohnes schaden könne, und dann jene andere, die ihr zuflüsterte, daß dieses gänzlich unerwartete Ereignis möglicherweise Roberts ganze weitere militärische Existenz in Frage stellen könne. Der Name ihres Sohnes, der Name, welcher jener ihres Gatten gewesen und jener ihres Enkels war, er mußte rein gehalten werden, rein um jeden Preis, und sie wollte sich zu jedem Opfer, und sollte es das schwerste sein, bereit erklären, um ihr Kind zu schützen. Was sie aber zu tun habe, darüber war sie mit sich selbst ganz und gar nicht im reinen, und einstweilen klammerte sie sich nur an die Hoffnung, daß Oberstleutnant von König schützend und schirmend ihrem Sohne zur Seite stehen werde, und sie verlieh dieser ihrer Hoffnung auch beredten Ausdruck, indem sie, an König herantretend, die Hand auf seinen Arm legte und flehend sprach:

»Nicht wahr, verehrter Freund, Sie werden uns beistehen, Sie werden uns in dieser schweren Stunde nicht verlassen. Sie werden, wenn es sein muß, Zeugnis ablegen für die Unschuld meines Sohnes, Sie werden ihn nicht fallen lassen, Sie werden dem gequälten Mutterherzen den Trost gewähren, zu wissen, daß mein Sohn in Ihnen nicht nur einen wohlwollenden Vorgesetzten, sondern auch einen treuen Freund besitzt.«

»Beruhigen Sie sich, gnädige Frau, über Schuld und Unschuld haben wir einstweilen gar nicht zu debattieren, wir müssen nur alles daransetzen, um zu ergründen, durch wen oder zu welchem Zweck jene Pläne entwendet worden sind, deren Wichtigkeit für etwaige Feinde unseres Reiches absolut nicht in Abrede gestellt werden kann. Im Interesse Ihres Sohnes ist es, daß ich trachte, so lange als nur irgend möglich das Verschwinden jener Pläne geheim zu halten. Wenn wir rastlos forschen, arbeiten, uns bemühen, gelingt es uns vielleicht, das Verlorene zustande zu bringen, bevor wir gezwungen sind, den Verlust zuzugestehen. Sie selbst, gnädige Frau, bitte ich, die Augen offen zu halten, und wenn Ihnen die geringste Kleinigkeit vorkommt, die mit dem Verschwinden dieser Pläne in Zusammenhang gebracht werden kann, mir davon Mitteilung zu machen. Ich werde einstweilen nach Wien berichten, daß der Zustand des Herrn Hauptmanns von Marfen noch kein derartiger ist, daß man ihn mit dienstlichen Angelegenheiten behelligen kann, man möge daher noch etwas Geduld üben, und sobald es tunlich sei, werde ich die Übermittlung der Pläne veranlassen. Auf solche Art gewinnen wir Zeit, doch gestehe ich ehrlich, daß ich nicht glaube, daß es uns beiden allein gelingen wird, dem Verlorenen auf die Spur zu kommen, ich werde mich daher zum Polizeidirektor begeben und ihn bitten, mir einen findigen Detektiv zur Seite zu stellen, der sich natürlich unter dem Siegel des Amtsgeheimnisses bereit erklärt, nicht nur unsere Nachforschungen zu unterstützen, sondern auch mit der geschickten Spürnase des Geheimpolizisten alles daran setzt, um auf Wegen, die uns Militärs vielleicht verschlossen sein mögen, das zu ergründen, was wir wissen wollen. Dich, lieber Marfen,« fügte er zu Robert gewendet hinzu, »muß ich aber dringendst bitten, deine ganze Willensstärke zusammenzunehmen, dich aufzuraffen und mit aller Energie dein ganzes Können daranzusetzen, damit du bald gesundest und mir hilfreiche Hand leisten kannst bei dem Ziel, welches für mich momentan das wichtigste ist, die Ergründung und Auffindung der fehlenden Papiere.«


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