Bruno Frank
Cervantes
Bruno Frank

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Escorial

Es roch nach Verwesung.

Das Fenster der heißen Schlafkammer stand offen gegen den Septembertag. Räucherwerk war entzündet. Doch der Todesgeruch blieb. Seit Wochen zerfiel und zerging König Philipp bei noch atmendem Leib.

Er war mager wie ein Skelett. Aber einzelne Stellen des Körpers hatte die Wassersucht glasig hoch aufgetrieben, daß es grausig zu sehen war. Seine offenen, schwärenden Wunden sonderten Tag für Tag Schalen voll Eiter ab. Ihn zu verbinden, zu waschen, seine Lage um einen Zoll zu verändern, war längst unmöglich. Man hatte unter ihm sein Lager durchbohren müssen. Unbeweglich versank er in seinem Pfuhl.

Sein Bewußtsein blieb klar. Er litt unsäglich an sich. Sein Leben hindurch war er von pedantischer Reinlichkeit und Gepflegtheit gewesen, übertrieben zum Ekel geneigt. Aus einem getrübten Becher zu trinken, war ihm immer unmöglich. Nun schwirrten die Fliegen um ihn.

Er litt für seine Umgebung. Er sah, wie Ärzte, Beichtiger, Minister und Diener schwer bei ihm aushielten. Kaum entschloß er sich mehr, einen Dienst zu verlangen. Mußte es sein, so geschah es mit einer zarten Höflichkeit, die um Verzeihung bat. Entsetzlich war dies anzuhören von diesem Mann der kalten Distanz.

Gott prüfte ihn hart. Der ganze Leib ein Sieden und Wühlen, tobender Kopfschmerz, Übelkeit und Beklemmung, kein Schlaf in den Nächten, ein sengender Durst, den ihm die Ärzte zu löschen 351 verboten und den auch nichts mehr zu löschen im Stande war.

Er hatte sein ganzes Dasein als einen Vorhof des Todes betrachtet. Für die Stunde des Absterbens hatte er gelebt. Aber daß diese Stunde so endlos sich dehnen würde, als diese widrige greuliche Qual, das war nicht zu ahnen gewesen.

Er trug sie. Vierzig Herrscherjahre in starrer und einsamer Illusion trugen jetzt ihre erhabene Frucht. Nie kam über seine zersprungenen Lippen ein Wort der Klage. Mitten im fauligen Zerfall, in dieser Atmosphäre vom Schindanger, blieb er ein König. Noch war es möglich, zu diesem Menschenrest Majestät zu sagen.

Er blieb des Gedankens fähig, diese äußerste Heimsuchung sei Gottes Unterpfand für die ewige Herrlichkeit. Wer am schärfsten geprüft wird, der wird am höchsten erhöht. Er zog aus Leiden und Körperschmach die triumphale Bestätigung seines Glaubens, dem er sein Glück und das Glück seiner Staaten geopfert.

Wie unzulänglich mußten in solcher Prüfung die Tröstungen sein, die ein Mensch in sich selber fand! Eigenes Urteil und freie Gewissenserforschung, was waren das für schwankende Rohre, darauf die nordische Irrlehre sich stützte. Was für ein armseliges Geschöpf mußte der Ketzer sein im Augenblick des furchtbaren Übergangs.

Ihn, König Philipp, umringten in diesem Übergang alle Heiligen, alle Seligen. Seit einem Menschenalter waren mit jeder Einzelheit die dreißigtausend Totenmessen angeordnet, mit denen der 352 ganze Heerbann spanischer Priester jetzt seiner Seele den Weg zur Seligkeit sichern würde. Vom Kissen aus fiel sein Blick durch den anstoßenden Raum auf den Hochaltar der Capilla Mayor. In Jaspis, Achat und Porphyr erschimmerte dort, wie Vorstrahl der Ewigkeit, das Tabernakel. Unter dem Altar jedoch lag sein Vater im Sarge, der Kaiser. Um ihn die Toten des Hauses. Dort, wenige Schritte entfernt, warteten ihre Leiber auf seinen Leib. Und oben im Glanz warteten ihre entsühnten Seelen, daß er aufschwebe zu ihnen, entsühnt.

Er ist umgeben, umstellt von den Zeichen der Erlösung. Wohin seine sterbenden Augen schauen, treffen sie auf einen Trost. Die weißgekalkte Wand der Schlafkammer verschwindet fast unter frommen Bildern. Auf Tischen und Taburetts sind Reliquien aufgestellt, die wunderkräftigsten seiner Schätze: ein Splitter vom echten Kreuze des Herrn, ein Arm vom Heiligen Vinzenz, ein Knie vom Heiligen Sebastian. In kostbaren Behältnissen liegt das Totengebein, in Samt gebettet, mit Gold geschient, von Juwelen farbig umleuchtet. Aber in den Vorhängen seiner Bettstatt ist das kleine Kruzifix aufgehängt, das Kaiser Karl einst in Yuste sterbend in Händen gehalten hat.

Dreimal schon hat er gebeichtet und kommuniziert. Unersättlich hört er die heiligen Texte. Aber morgen ist sein größter Tag. Morgen soll er die letzte Ölung empfangen. Es wird die krönende Zeremonie seines strengen und zeremoniösen Daseins.

353 Er ist bereit. Er hat sich das Haar und die Nägel schneiden lassen, um in würdigerem Zustand dies Sakrament zu empfangen. Er hat sich die Teile des Leibes bezeichnen lassen, die der Priester benetzt. Er kennt schon das Silbergefäß mit dem vom Papste geweihten Olivenöl. Der neue Erzbischof von Toledo wird ihn salben. Die Assistenz ist genau bestimmt: Beichtiger, Prior und Hauskaplan, Majordomus, Minister und Oberste Hofchargen. Und auch sein Kronprinz soll anwesend sein, der eine törichte, blutschwache Erbe, der ihm aus vier Ehen geblieben ist; auf diesen hat es Gott gefallen die Last des bröckelnden Reiches zu legen.

Zum letzten Mal hat er heute die Geschäfte dieses Reiches verwaltet. Es waren Schriftstücke aus vier Erdteilen. Aber die Arme schmerzen zu sehr, die Finger der rechten Hand sind eine blutende Wunde; so haben ihm denn sein Beichtiger Fray Diego und sein Kammerdiener Moura die Papiere verlesen, ihm auch das eine und andere Stück vor die Augen gehalten. Randbescheide hat er diktiert. Das war nun zu Ende. Hinweg alles irdische Werk! Von morgen an gehörte, was vom Leidensweg übrig war, ganz dem Gebet.

Er lag allein. Die Beiden, lautlos, warteten nebenan.

Ein einziges Blatt war zurückgeblieben. Unbewegten Gesichts hatte er seine Lektüre angehört und dann befohlen, es vor ihm auf die Decke zu legen, mit der Schriftseite nach unten.

Er hielt die Augen geschlossen. Aus der Kirche 354 kam ein leises Klappern und Klirren, es mochte der Sakristan sein, der Gerät und Leuchter zurechtrückte zum Abenddienst. Der König schaute nach innen und schaute zurück.

Er ging in Leid. Er war ein Besiegter. Sprünge und Risse durchzogen sein Reich. Zum dritten Mal, vor wenigen Monaten, hatte er seinen Bankerott erklärt. Volkskraft, Seeherrschaft, Weltregiment, es war alles in Frage gestellt für die eine Idee.

Und den vollen Sieg dieser Idee hatte Gott nicht gewollt! Zwar Spanien und auch Italien waren bewahrt vor dem Gift, in Deutschland, in Polen der Krankheit Einhalt geboten. Aber Oranien herrschte in Holland und über Britannien die greuliche Jezabel.

Dies war abgetan. Eine Wunde nur brannte. Er wendete mit den wunden Fingern das Papier auf der Bettdecke um.

Es war ein gedrucktes Blatt, eine öffentliche Kundmachung, gestern mit der Gesandtenpost aus Paris gekommen. Zu Häupten trug es das Lilienwappen und noch ein anderes. Sein Text war französisch, und er begann:

»On fait à savoir à Tous que bonne, ferme, stable et perpétuelle Paix, Amitié et Réconciliation est faite et accordée entre Très-haut, Très-excellent et Très-puissant Prince, Henry par la grâce de Dieu Roy Très-chrétien de France et de Navarre, notre souverain seigneur; et Très-haut, Très-excellent et Très-puissant Prince, Philippe Roy Catholique des Espagnes...«

355 Friede, Freundschaft, Versöhnung, er hatte sie Frankreich gewähren müssen, jetzt noch vor seinem Ende! Sich besiegt erklären. Calais und Blavet herausgeben. Verzichten auf allen Gewinn aus der ungeheuren Anstrengung von vierzig Jahren. Und das Königtum dieses vierten Heinrich anerkennen, der alles war, was er haßte.

Er hatte sich bekehrt, dieser König, jawohl. Er war das Haupt der Ketzerei gewesen, und jetzt war er Katholik. Er warf einen Glauben von der Schulter wie einen Mantel. Tausendmal schlimmer war er als die, die im Brande der Scheiter für ihren Irrtum bezahlten. Es war unausdenkbar und doch offenbar: dieser König glaubte an nichts. Was Philipps Herz und Geist in siebzig Lebensjahren erfüllt hatte, für diesen Heinrich zählte es nicht. Die Herrschaft zählte, die Einheit des Landes zählte, die Wohlfahrt seines Volkes zählte. Dafür würde er Türke werden, Feueranbeter. Sein berühmtes Edikt, das den Glaubensfrieden verkündete, Rechtsgleichheit der Konfessionen – was war es anderes als das Achselzucken eines gottfremden Menschen, dem irdisches Glück über alles galt.

Und Gott gewährte es ihm. Philipp war unterrichtet. Gott hatte auf diesen Frevler alle Regentengaben gehäuft. Unabnutzbar war seine Arbeitskraft, untrüglich sein Gedächtnis, selbständig sein Urteil, blitzend klar sein Verstand, unschreckbar sein Mut.

Den übermütigen Adel trieb er mit kurzen, eisenharten Schlägen zu Paaren, erwählte mit 356 genialem Blick seine Minister, gab dem Volk das Bewußtsein, daß ein erleuchteter Wille es führe und schütze. Nicht aus Aktenstößen heraus, aus der Mönchszelle, regierte er Frankreich, er reiste umher, ging unter die Leute, jeder Untertan durfte ihm nahen, mit jedem sprach er in seiner Sprache und erfragte Wünsche und Not. Wie unter einem Mairegen blühte dies Frankreich empor. Dem Landbau, dem Gewerbe, dem Handel galt gleiche, tatkräftige Sorge. Finanz und Justiz wurden mit sicheren Griffen gesäubert. Kein Vorurteil galt, nach keinem Wappen, nach keiner Blutsreinheit wurde gefragt, eine ungeheure Welle von Vertrauen schwoll diesem ganz irdischen, ganz illusionslosen König entgegen.

Paix, Amitié, Réconciliation – wahrhaftig, so hatte kein Druckwerk je noch gelogen. Wie oft hatte Philipp versucht, ihn ermorden zu lassen!

Vor wenigen Wochen einmal hatte er in tiefer Nachtstille lange ein Bild des Widersachers betrachtet. Dann war es fortgeschafft worden für immer. Aber es hatte sich eingeprägt, er kannte ihn ganz. Den kleinen festen kräftigen Mann und sein starkes Gesicht. Das freche, krause Haar, hochgekämmt über der freien Stirn. Die riesige, sinnliche Nase. Den breiten, genießenden Mund über dem viereckig geschnittenen Bocksbart. Und diese Augen, funkelnd von Leben und Ironie, »höllisch kluge und himmlisch freundliche Augen«, wie ihm ein taktloser Späher einmal geschrieben, mit den geistreich spielenden Falten darum.

357 In großer Gala stellte jenes Bildnis ihn dar. Aber man sah es ihm an, daß er sie lässig und spöttisch trug. Ein uneleganter, geschmeidiger, kleiner Gascogner war das, keine Spur feierlich; sicherlich kam es ihm nicht darauf an, kräftig nach Schweiß und nach Knoblauch zu riechen. Der schämte sich nicht! Die Korrespondenzen aller Gesandten waren voll von empörendem Klatsch. Durch dreihundert Liebschaften war er hindurchgegangen und hatte sich niemals geschämt. Die Frauen, von denen er Freuden empfing, er sperrte sie nicht in ein Kloster, wenn er gesättigt war. Ganz frech ehrte und beschenkte er sie. Er war dankbar für die empfangene Lust. Härte und Grausamkeit waren ihm fremd. Er strafte ja kaum den Verrat.

Philipp haßte ihn. Wie er ihn haßte! Dieses Heinrich ganze Existenz war ein Hohn auf sein eigenes siebzigjähriges Königsdasein, auf sein ganzes strenges, entsagungsvoll dunkles Leben im Dienste der einen, der erhabenen, der ja doch einzig wahren Idee. Wie konnte Gott es zulassen, daß frecher Unglaube so triumphierte! Dein Wille geschehe, oh Herr... aber unbegreiflich und schrecklich war dieser Wille. Sein Haß war es, was König Philipp noch abtrennte vom Frieden des Hintritts. Nicht Gebet, nicht Beichte, nicht Abendmahl hatten diesen Haß aus seiner Seele geschwemmt, der vielleicht ein heimlicher, tiefer, entsetzlicher Zweifel war. Oh Gott, steh mir bei! Laß mich nicht zu Schanden werden in meiner letzten Stunde, neige Dich zu mir, mein Gott, gib mir Kraft, gib mir Kraft!

358 Die Beiden im Vorraum, der Beichtiger und der Diener, vernahmen einen zerreißenden Schrei. Sie stürzten herzu.

Der König, der sich seit Wochen nicht einen Zollbreit hatte bewegen können, saß aufrecht im Bett, mit stürzenden Tränen. Er hatte das Kruzifix des Kaisers aus den Vorhängen herabgerissen und preßte es mit den blutenden Händen inbrünstig an seine Lippen. 359

 


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