Bruno Frank
Cervantes
Bruno Frank

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Das Dorf in der Mancha

Er sollte verheiratet werden. Das war die »günstige Wichtigkeit«.

Der Vater, der seine verschämte Heilkunst weitertrieb, hatte zweimal einem Geistlichen zur Ader gelassen, der aus einem unfernen Dorfe der Mancha nach Toledo gekommen war. Der schlagflüssige Herr fühlte sich wirklich erleichtert und war voller Lob. Das nächste Mal kam er als guter Bekannter und brachte, außer Wein und zwei Hühnern, auch seine junge Nichte mit, ein noch nicht großjähriges Bauernfräulein, das auf den Namen Catalina de Salazar y Palacios hörte. Sie war ein großes, etwas plump gewachsenes Mädchen, über dessen regelmäßigem und leerem Gesicht eine schwere Fülle von glänzend schwarzem Haar lastete. Ihr Vater war tot, die Mutter verließ niemals ihr Dorf Esquivias.

Auch sie selber war zum ersten Mal in der Stadt und sah mit einem etwas dumpfen Erstaunen die maurisch verschlungene Gassenwelt, die Paläste, Türme, Kirchen und Brücken der alten Residenz. Mit dem Onkel saß sie am Abend in dem saubern kleinen Innenhof bei den Eltern Cervantes. Die wohnten hier weit besser als in Madrid, in einem Häuschen am »Gemüsemarkt«, gleich hinter der Kathedrale. Die Mieten waren billig in dieser tausendjährigen Stadt gotischer, arabischer, kastilischer Herrscher, die sich langsam schon zu entvölkern begann. Auch hatte der Vater mit seinen Kuren mehrmals Glück gehabt. Er hielt sich jetzt für einen großen Arzt. Über die Krankheit jedoch, an der er selber litt, eine rasch ansteigende 272 Wassersucht, schien er sich nicht im Klaren zu sein. Mit kreischender Stimme verkündete er große Zukunftspläne.

Er war es auch, der dem Pfarrer von Esquivias und dem Fräulein von seinen Söhnen erzählte, von dem braven Offizier Rodrigo, der jetzt unter dem Herzog von Parma gegen die flandrischen Ketzer focht, vor allem aber von seinem Ältesten. Dessen Kriegstaten und heroische Leiden darzustellen, war er von seinen Bittgängen her geübt; mit Vergnügen sah er die gläubige Bewunderung seiner Zuhörer. Besonders Fräulein Catalina lauschte mit offenem Mund. Die Welt ihrer Lieblingsbücher schien ihr endlich fleischliche Gestalt zu gewinnen. Denn vom berühmten »Amadis von Gallien« über die Geschichte seines Sohnes Esplandian, Kaisers von Konstantinopel, bis zu der seiner Enkel, Urenkel und Urgroßneffen, hatte sie diese ganze Ritterliteratur verschlungen und in ihrem armen Kopf einen Traumbau unsäglicher Wunder, übermenschlicher Tapferkeit und Keuschheit aufgerichtet, dem in ihrem täglichen Dorfverkehr wahrhaftig garnichts entsprach.

Der alte Cervantes hatte wahrscheinlich ganz ohne Absicht ins Blaue hinein renommiert. Die schweigsame Mutter jedoch dachte weiter, als sie in den Augen des Landfräuleins ein staunendes Interesse an ihrem Ältesten aufflackern und wachsen sah.

Sie nahm den geistlichen Herrn ein wenig beiseite. Es war offenbar: eine Heirat lag nicht aus der Möglichkeit. Vielleicht sogar hatte man vage 273 an dergleichen gedacht, als man Dona Catalina zum ersten Mal in die Stadt reisen ließ. Schließlich, sie hatte das Alter, und, wie jedermann sehen konnte, alle Vorzüge, um einen Mann zu beglücken. Die Familie war gut, ausgezeichnet sogar, bei den Salazars wie bei den Palacios Generationen weit kein Tropfen maurisches oder Judenblut. – Dies war schätzbar, gewiß, Miguels fromme Mutter war die Letzte, es nicht anzuerkennen. Aber wie es denn im Greifbaren stand? Helden pflegen in dieser Welt nicht reich zu werden. Auch ihr Sohn war nicht reich. Die Verdienste und Vorzüge, die er mitbrachte – seine glorreiche Verstümmelung gehörte dazu – wollten aufgewogen sein. Ein Held hat Anspruch auf etwas Wohlstand und Wohlbehagen. – Auch in diesem Punkt konnte der Onkel beruhigen. Dona Catalina war das einzige Kind, war Erbin eines hübschen Grundstücks mit anständigem Haus, Obst- und Olivengarten, drei Joch Acker dazu, sehr gutem Hausrat, 18 Ziegen auch, 45 Hennen und einem Hahn. Es war alles vorhanden, um glücklich zu sein. Wenn man den Gesamtwert des Erbguts bescheiden anschlug, tausend Golddukaten erreichte er immer.

Miguel Cervantes war mürbe. Er hatte sich vor dem Ausgefragtwerden gefürchtet, als er kam, und saß nun dankbar und müde in dem kleinen Hof, unweit der Mutter, die sein Kind neben sich hatte. Mit keinem Wort hatte sie nach Ana Franca gefragt, mit keinem Wort übrigens auch behauptet, daß das Enkelkind ihr gefalle. Mit einer 274 sachlichen Sorgsamkeit hatte sie sich gleich seiner angenommen. Eine Nachbarsfrau hatte ihr eine Wiege geborgt, die hielt sie mit dem Fuß in sanfter Bewegung.

Sie begann zu reden. Miguel hörte zu. Er war mürbe. Wenn dieses Mädchen nur kein Abscheu war und kein Teufel, würde er unterkriechen. Es war ja doch alles umsonst. Während die Mutter von Haus und Hausrat erzählte, gedachte er seines »Sangs der Kalliope«, dieser verzweifelten Huldigung vor der gesamten Literatur, dieser gunstheischenden Erniedrigung in Bausch und Bogen. Gar nichts hatte das alles genützt. Man wollte ihn nicht. Er war am Ende. Das Dorf in der Mancha, schweigsame Bauern, die von Madrider Erfolg oder Mißerfolg nichts wußten, Ölgarten und Acker, eine einfache Frau als Gefährtin, es verlockte ihn fast. Vielleicht ließ sie ihn Ana Franca vergessen, die ihm immer noch schlimm im Blute saß. Er sagte nicht Nein.

Er ritt hinüber, sich vorzustellen. Als er ankam, ging es gegen den Abend, und das kahle Esquivias präsentierte sich leidlich im sinkenden Licht. Er fand alles etwas bescheidener, als es ihm dargestellt worden; aber Catalina mißfiel ihm nicht. Nach den Erfahrungen, die er gemacht, übte ihre verschwärmte und etwas törichte Unschuld eine freundliche Anziehung auf ihn aus.

Sie von ihrer Seite sah ihn wohl nicht recht. Er hätte noch schmächtiger und weniger glänzend sein können, er war der tapfere, edle Weltfahrer für sie, hervorgestiegen aus einem ihrer Romane. 275 Aber ein gleiches Vorurteil umschleierte keineswegs die Augen der Mutter, Señora de Palacios. Zwischen ihr und Miguel herrschte Abneigung vom ersten Blick an. Sie war eine große, stattliche Frau seines eigenen Alters, von steifer Haltung. Man sah ihr die Kirchenfrömmigkeit an, und ihr schmaler Mund mit den nach innen gezogenen Lippen verriet Habgier.

Die Salazars und die Palacios waren Landedelleute der geringsten Sorte, von den Bauern kaum durch Anderes unterschieden als durch ihren Dünkel. Drei Knechte und eine Magd saßen an einem zweiten Tisch. Nach dem Gebet erst erschien eilig schnaufend auch der geistliche Onkel und begrüßte gutmütig den Freier.

Stockend ging das Gespräch. Miguel fühlte, daß er hätte erzählen sollen, aber unter dem abschätzenden Blick der Hausfrau verging ihm das Wort. Nur einmal, zu seinem eigenen Erstaunen, tauchte er weit in seine Erinnerung zurück und berichtete vom sanften Kardinal Aquaviva und vom Kanonikus Fumagalli. Das tat er, um den Oheim zu unterhalten. Er war glücklich, als Hammelsuppe, Käse und Dankgebet hinter ihm lagen.

Man ließ ihn mit Catalina ein wenig allein. Mit einer Kopfbewegung von geheimnisvollem Stolz winkte sie ihn nach der Ecke, wo ihre Schätze aufgereiht standen, dreißig oder vierzig zerlesene Bände, alle die Amadis, Felixmarte und Clarian, deren Turnieren und Drachensiegen er Catalinas keimende Neigung verdankte.

276 Zwei Wochen später wurde der Besuch erwidert. Señora de Palacios erschien mit Tochter und geistlichem Bruder in dem Häuschen am Gemüsemarkt.

Der alte Cervantes war bettlägerig. Mit großer Mühe erhob er sich, geschwollenen Leibes und schon gezeichnet im abgemagerten Gesicht, und begrüßte schreiend die Gäste. Aber bald entstand Unfriede, ja Skandal. Denn Miguel Cervantes erschien mit der kleinen Isabella im Arm, die seine Mutter weislich hatte verbergen wollen, und erklärte unmißverständlich, dieses Töchterchen bringe er mit in die Ehe.

Frau Palacios schien augenblicks aufbrechen zu wollen. Wahrscheinlich war ihr der Vorwand willkommen. Mit Anstrengung beschwichtigte man sie. Ihr Bruder, seinem Stande zum Trotz, nahm die Überraschung weit menschenfreundlicher auf. Catalina selbst war errötet. Wortlos beugte sie sich über das grüngeäugte Geschöpf. Wer mochte sagen, was hinter ihrer unbeschriebenen Stirne vorging. Womöglich hielt sie das kleine, unheimliche Mädchen für das Kind irgendeiner Fee oder Prinzessin.

Man schied in bedeutendem Unbehagen, und nichts war beschlossen. Die Mutter schüttelte den Kopf. Sie verstand ihren Sohn nicht. Was hinderte denn, daß sie selber ihr Enkelkind großzog? Die Zeit war leider nahe, wo sie für niemand mehr zu sorgen haben würde.

Aber Miguel blieb eigensinnig. Ohne Isabella keine Ehe, es war darüber kein Wort zu verlieren. 277 Er hatte nun einmal die Frau geliebt, die so unwürdig davon gegangen war. Was ihm blieb von ihr, dies lautlose unschöne Geschöpf, wollte er unter seinen Augen bewahren.

Er kehrte zurück nach Madrid. Nachricht würde ihn bei Andrea erreichen. Er hatte noch viel zu ordnen in Madrid!

Er hatte garnichts zu ordnen. Er hatte auch nicht zu leben. Er mied die »Lügenbank«. Nach dem Mißerfolg seines Buches scheute er den Umgang mit den Kollegen. Es ist ein schwer erträgliches Gefühl, sich umsonst gedemütigt zu haben. Das »Wappen von Leon« betrat er nie. In noch bescheidenerer Schenke saß er manchmal mit einem Violinspieler namens Guzman zusammen oder mit einem Theatermaler, der Covarubbias hieß. Eine feste Wohnung besaß er nicht, er nächtigte, wo der Zufall es gab. Als Kopist, als Briefträger zwischen Verliebten, als Stellenvermittler, verdiente sich der Held von Lepanto und Algier manchmal ein paar Realen.

Dann, Ende November, kam ein Brief von der Mutter. Es war alles geregelt. Catalina war fest geblieben. Am zweiten Sonntag im Advent sollte die Hochzeit stattfinden.

Auf einem Esel ritt er die vereiste Straße nach Toledo. Ohne Umweg reiste er diesmal. Da ihm das kleine Tier leid tat, stieg er bald ab und zog es am Halfter hinter sich her.

In der kahlen, kleinen Kirche von Esquivias gab der Pfarrer und Oheim die Verlobten zusammen. Der Dezembersturm pfiff durch die Tür, 278 die nicht schloß, und es war so dunkel, daß vom Altarbild, das eine Himmelfahrt darstellte, nichts erkennbar blieb als die durchleuchteten Wolken zu Häupten der Jungfrau.

Niemand sonst war zugegen von beiden Familien. Miguels Mutter nicht, weil sie sich nicht getraute, ihren schwerkranken Mann allein zu lassen. Die Brautmutter nicht aus Protest. Wenn sie die hundert Schritte zur Kirche hinüber sich sparte, dann mußte es jedermann deutlich sein, wie sehr diese Heirat gegen ihren Verstand und Willen geschah. Aber es kümmerte sich niemand darum, man war nicht neugierig in den Dörfern der Mancha.

Als Trauzeugen fungierten drei ernste Bauern, von denen Cervantes nur einen kannte. In den Bänken des Hintergrunds knieten ein paar alte Weiber, das war seine Hochzeitsgemeinde.

Die Braut schlug ihren obersten Rock über den Kopf, als man die Kirche verließ. Den halben Weg gingen sie beide rückwärts, zum Schutz gegen den tobenden Sturm. Zu Hause gab es kein Mahl. Frau Palacios hatte sich eingeschlossen. Miguel und Catalina versorgten das Kind, nahmen von einem kargen Imbiß, der dastand, und mochten einander gehören.

Es stand nun ein Feind auf gegen Miguel Cervantes, furchtbarer als fanatische Türken und blutlüsterne Renegaten. Ein laut- und gestaltloser Feind, gegen den keine Waffe zur Hand war: Langeweile.

Er fand sie in den Armen Catalinas. In ihrer ersten Umarmung erschrak er. Denn wenn dieses 279 Band nicht geknüpft werden konnte, wie würde ein Leben möglich sein, darin Einer so völlig auf den Andern verwiesen war. Jetzt an ihrer Brust erst kam es ihm völlig zu Bewußtsein: dies große Mädchen, von dem er nichts wußte, als daß sie kindische Bücher las, war von nun an seine ganze Welt. Mit angstvoller Zärtlichkeit, mit allen wissenden Künsten, suchte er den Weg zu ihrer Empfindung. Aber hier lag vermutlich der Irrtum. Der Landfahrer, der durch viele Abenteuer gegangen, dessen Sinne verwöhnt waren, begriff nicht die einfache, ganz unerschlossene Natur dieses Landmädchens, das halb so alt war wie er selbst. Er begann zu fragen, zögernd und tastend, er klagte sich an. Sie blieb freundlich. Sie konnte nicht antworten. Und als diese Kämpfe vorüber waren, von denen wahrscheinlich nur er allein wußte, blieb eben Langeweile zurück, Langeweile Leibes und der Seele.

Er fand sie überall. Langeweile, formlos brauende, allgegenwärtige, wurde sein Dasein. Er kleidete sich am Morgen an, und eigentlich war nun sein Tagwerk schon aus. Er schaute auf die Dorfstraße hinaus, auf der fast niemals ein Mensch sich zeigte. Ging man hier zweihundert Schritte weiter, so stand man am Ende, und draußen war es die Mancha. Endloses, flaches, kaum gewelltes Land, darüber eisiger Sturm blies. Der Blick hing sich an acht oder zehn Mühlen, die den Horizont umstellten, runde Windmühlen mit drehbarem, spitzem Dach, deren stillgelegte Flügel in den Scharnieren ächzten.

280 Hatte man das einmal gesehen, so kannte man es für immer. Und auch die Dorfstraße kannte man für immer, ihre schmutzigen Rinnen im verharschenden Schnee, die dieselben sein würden in allen künftigen Wintern, ihre weißen, niedrigen Hütten ohne Fenster.

Nur das Haus der Salazar y Palacios, in dem er wohnte, hatte ein Fenster nach vorn. Es hatte auch eine Art Giebel und ein Hoftor aus siebartig geschnitztem Holz, neben dem rechts und links vereiste Maiskolben niederhingen. Dafür eben waren sie Hidalgos. Auch er selber war ein Hidalgo und Doña Catalinas Mann. Er durfte nichts arbeiten im Hause. Dafür waren die Dienstleute da. Aber hätte er ihnen Aufträge erteilt, sie wären schwerlich befolgt worden. Ihre Brotherrin war Frau de Palacios. Es war ein Irrtum gewesen zu meinen, er werde etwas besitzen. Vielleicht hätte er darauf bestehen sollen, vor einem Notar diese Fragen zu regeln. Er hatte nicht darauf bestanden. Er war nur sterbensmüde gewesen und darein ergeben, unterzukriechen. Dafür saß er jetzt am Hidalgofenster und wußte, daß aus der Hütte links gegenüber um zehn Uhr die Alte herauskommen würde, um fünf Häuser entfernt sich ihr Gerstenbrot abzuholen, daß aber die Hütte rechts immer verschlossen blieb bis zur Stunde des abendlichen Kirchgangs.

Die Frauen seines eigenen Hauses hingegen gingen täglich zweimal zur Kirche. Einige Male begleitete er sie, dann ließ er's, aus Scham und aus Langeweile. Der Reverendo Palacios, 281 nachsichtiger als seine Schwester, nahm ihm dies Erlahmen keineswegs übel. »Ein Mann wie Ihr, Neffe, hat das nicht nötig vor Gott«, sagte er mit Zuvorkommenheit. Und es war so weit mit Cervantes, daß ihm dies Wort eines unwissenden Dorfpfarrers balsamisch ins Herz fiel.

Ein Mann wie Ihr! Als ein Unnützer und Geduldeter saß er in der gemeinsamen Wohnstube herum, die allein geheizt war. Frau Palacios ging ab und zu, wachte über die Küche und über das Kleinvieh. Ihre trockene Stimme schalt draußen mit dem Gesinde. Dann wieder nahm sie beim Ofen Platz, spann oder strickte wie Catalina. Und beide sorgten sie für das Kind.

Denn dies war Cervantes' Trost, und er hatte es nicht zu hoffen gewagt: Mutter und Tochter liebten die kleine, häßliche Isabella. Es war für beide wie eine gleichzeitige Mutterschaft, Hauptinhalt ihrer Gespräche. Er, der diese grünäugige Mitgift ins Haus gebracht, war dabei ausgeschaltet, daß er der Vater war, beinahe vergessen. Selten einmal, schüchtern, trat er an die Wiege heran und versuchte es mit den ungeschickten Liebkosungen und Schmeichelworten der Männer. Dann war es ihm, als ob ihn sein Kind mit Abneigung betrachte. Vermutlich war dem Geschöpfchen nur sein bärtiges Angesicht ungewohnt; er aber sah in Ana Francas grünen Augen Ana Francas Mißachtung und Zorn. Ja, auch die hatte er nicht zu gewinnen vermocht, das Sinnenwesen so wenig wie die unerschlossene Catalina.

Denn von ihrer Neigung, die sie so hartnäckig 282 auf dieser Ehe hatte bestehen lassen, war nicht mehr viel übrig. Sie hielt auch Miguel nicht mehr für einen zweiten Florimon oder Olivante. Es war ihr sogar nur oberflächlich ins Bewußtsein gedrungen, daß sie nun eine verheiratete Frau sei. Es war ja auch so wenig verändert! Sie saß unter der Obhut der Mutter wie ehedem. Der schmächtige Mann mit der einen Hand, dessen Lieblingsplatz das Fenster war, vor dem es nichts zu sehen gab, störte nicht sehr.

Niemand nötigte ihn, zu Hause zu bleiben. Aber wohin hätte er gehen sollen. Die Gespräche mit dem geistlichen Herrn waren bald erschöpft; immer früher kehrte Miguel von seinen Besuchen dort heim. Um fünf Uhr wurde es Nacht. Ein einziges Öllämpchen war angezündet, außer dem, das vor dem Marienbild brannte.

Er suchte das Wirtshaus auf. Es war eines von der bescheidensten Sorte, zu trinken gab es nichts als einen mäßigen Wein aus der Gegend. Der Wirt aber, ein ruhig verständiger Mann, unterschied sich angenehm von jenen Beutelschneidern an den großen Straßen, deren tückische Geldgier die Reisenden fürchteten. Von seinem Schlage waren auch die Bauern von Esquivias, die sich um seinen Tisch her versammelten. Cervantes kam es mit einem Mal zum Bewußtsein, daß er manche Stände in Spanien gekannt hatte: Soldaten, Beamte, Priester, Gelehrte, ein wenig den Hof und den Adel, aber nichts vom spanischen Volk. Das hatte keine Stimme. Man trat es wie die Erde, über die es gebückt stand.

283 Er hatte in anderen Ländern Bauersleute gesehen. So aber waren sie nicht gewesen wie diese, die im dunkeln Kittel, gegürtet mit einem Strick, auf ihren ungegerbten Schuhen hier zur niedrigen Türe hereintraten. So felsig umrissene Gesichter hatten sie nicht gehabt, auch diese große Haltung von Freien nicht, nicht diesen Klang der Wahrheit auf der wenig gelenken Zunge.

Sein Erscheinen erweckte erst Unbehagen. Nie war das geschehen. Ein »Sohn von jemand Rechtem« setzte sich nicht unter Bauern. Einige verspürten Mißtrauen, alle warteten ab, mit einer zurückhaltenden, ernsten Höflichkeit. Cervantes kam wieder, saß unter ihnen, trank seinen Becher. Keiner deutete an, er ahne auch nur, was ihn hertrieb an ihren Weintisch. Das Mißtrauen schwand. Sie sprachen wie je von ihren Geschäften, mit langen Pausen dazwischen. Vom schlechten Markt, davon, daß in den Städten ein Hühnerei mit vier Maravedis bezahlt werde, während ihnen selbst nicht mehr verblieb als ein halber. Nein, es blieb ihnen nichts! Von dem Goldstrom, der sich durch Spanien ergoß, netzte sie nicht der letzte Tropfen. Niemand dachte für sie, sie waren verlacht und verachtet. Einst war es anders gewesen, zur Zeit der Großväter. Damals war der Bauer frei, erwählte selbst seine Bürgermeister, ihm gehörte das Land, und es gab ein Recht für ihn. Heute gehörten drei Viertel der Mancha zwei vornehmen Herzögen, die um den König lebten. Ihre Beamten und Einnehmer preßten die Bauernschaft. Wer dem Namen nach noch ein Gütchen 284 besaß, der erlag unter Steuern, Abgaben, Zinsen.

Dies alles vernahm Cervantes. Längst sprachen sie vor ihm wie vor Ihresgleichen. Er blickte ihnen auf die gemeißelten Brauen und dachte, daß ein wahrhaft adeliger Adel, ein Fürst mit freiem, unverstelltem Gemüt, aus diesem Volk das herrlichste der Erde hätte bilden können.

Sie wußten jetzt gut Bescheid über ihn, hatten gehört, was sein Handstumpf bedeutete, und Einiges noch dazu. Es gefiel ihnen, daß er nicht prahlte. Ihm tat es wohl, unter diesen zu sitzen. Nie trank er einen zweiten Becher, aus Sorge, daheim um Taschengeld bitten zu müssen. Das wenigstens wollte er nicht. Er erlangte an diesem ungestrichenen Tisch ein wenig zurück von Freude und Sicherheit. Hatte man ihn denn nicht immer gern gehabt, wenn er irgendwo in der Welt unter wirklichen Männern saß. Da gehörte er hin.

Übrigens waren ein paar in der Gesellschaft, die sich von der ernsten, gemessenen Mehrzahl unterhaltlich abhoben. Gutmütige, behagliche Burschen, obwohl von den ärmsten, Spaßmacher, Geschichtenerzähler. Es war nicht vom feinsten Geist, was sie vorbrachten. Aber lieber war es ihm immer noch als der Kulissen- und Poetenklatsch im »Wappen von Leon«.

Lieber auch, er gestand es sich ein, als die Unterhaltungen, die ihn zu Hause erwarteten.

Seit Jahren pflegte Frau Palacios ihrer Tochter zweimal wöchentlich vorzulesen, und zwar unveränderlich aus dem selben Buch, dem Hausschatz, auf den sie schwur: aus der 285 »Vollkommenen Ehefrau« des Augustiners Luis de Leon. Diese Gewohnheit, die mit der Hochzeit eine Unterbrechung erfahren, hatte sie neuerdings wieder aufgenommen, so als wollte sie dartun, daß sie diese Ehe als bedeutungslos und Catalina noch immer als ein bildungsbedürftiges junges Mädchen betrachte. Übrigens war das Buch, das in Briefform abgefaßt war, wirklich vortrefflich, voller Kenntnis des weiblichen Herzens und jeden häuslichen Geschäfts. Aber es zeigte sich leider, daß Frau Palacios immer die gleichen Kapitel bevorzugte. Auf gewisse Kernsätze des Augustiners kam es ihr an, mit denen sie jedesmal schloß: Warnungen vor auffallendem Putz und übermäßigem Schminken, vor Liebeskorrespondenz, heimlich im Busen verwahrten Gedichtchen, vor allem aber und immer wieder vor dem hochbedenklichen Lesen der Ritterbücher.

Das fand sie vielleicht jetzt besonders am Platz, nachdem diese Narrheit ihr einen so fragwürdigen Schwiegersohn ins Haus geführt hatte.

Aber hier endete ihr Einfluß. Catalina lebte und webte weiter in ihrer Welt. Die Reihe ihrer Ritterromane verlängerte sich. Jeden der fliegenden Händler, die mit ihren Eselkarren die Mancha durchzogen, fragte sie gierig danach, und beinahe jeder zog unter Stoffen und Schals irgend ein neues derartiges Produkt hervor.

Wieder einmal, an einem Sonntag im Frühjahr, fand Cervantes sie über einem jüngst erstandenen Band. Dieser sei nun, erklärte sie mit brennenden Backen, seit langer Zeit der schönste und 286 glänzendste. Er habe aber auch den Lieblingsenkelsohn des großen Palmerin von Oliva zum Helden, und sie müsse gestehen, daß vor seinen Taten und seinem Edelsinn selbst die seines Ahnherrn verblaßten.

Miguel nahm ihr schweigend das Buch aus der Hand. Er wußte längst, wie ernst sie das alles nahm. Hier ging es nicht um spielerische Unterhaltung. Sie hielt diese ganze Welt für genau so bewiesen wie die, die sie mit Händen griff. Diese götterähnlichen Ritter in goldenem Harnisch, diese unsäglich holden Prinzessinnen, keusch wie Eis, sie lebten wirklich für Catalina. Sie lebten für hunderttausend Catalinas im Lande. Dies Gefasel von Riesen und Drachen, Schutzgeistern, Hexenmeistern und gütigen Feen, von Flügelrossen, Flügellöwen, Palästen aus Kristall, schwimmenden Inseln und brennenden Seen, war ihrer aller tägliche Nahrung. Die Phantasie eines ganzen Volkes griff nach dem Unmöglichen.

Cervantes blätterte in dem Band. Ein Brodem von Irrsinn schlug ihm entgegen.

»Das gefällt Dir wirklich, Catalina?« fragte er endlich. »Du siehst nicht, daß einer von diesen Schmierern immer vom vorigen abschreibt und nur versucht, ihn durch neuen Aberwitz zu übertrumpfen?«

»Du bist bloß neidisch!«

»Warum? Meinst Du, ich brächte es nicht fertig, dergleichen zusammenzuphantasieren?« Und er dachte flüchtig an seine »Galatea«, dies vergleichsweise harmlose Modeprodukt.

287 Aber er hatte seine Frau nicht verstanden. Sie meinte nicht Neid auf literarischen Ruhm. Davon wußte sie nichts. Sie meinte den Neid auf Taten. Denn Buch und Tat waren dasselbe für sie.

»Neidisch, jawohl! Was ist Deine Türkenschlacht gegen Palmeranths Kampf mit den fünfzehn dreiäugigen Riesen! Das ist Heldenmut!«

»Das ist Heldenmut?« rief Cervantes zwischen Lachen und Zorn. »Ich werde Dir einmal zeigen, was Heldenmut ist!«

Er wußte, wovon er sprach. Es war ein kaum noch umrissener Plan. In diesem Augenblick kam er zur Reife.

Aus der kleinen Bibliothek, die der Pfarrer Palacios besaß, hatte er sich vor Wochen eine Anthologie antiker Klassiker ausgeliehen. Hier stieß er auf einen gewissen Bericht des Historikers Appian. Der griechische Text war in schlechtes Latein übersetzt, aber kein Mangel der Darstellung war im Stande, den Glanz dieser Tatsachen zu verdunkeln.

Es handelte sich um jene denkwürdige Belagerung der Feste Numantia. Zehn Jahre lang haben dreitausend todesmutige Spanier der dreißigfachen römischen Übermacht widerstanden und bereiten schließlich, da alles verloren ist, sich und ihrer Stadt selber den Untergang....

Cervantes hatte nichts vorzubereiten. An einem einzigen Tag, auf einem weiten Gang durch die Mancha, die spärlich grünte, schoß ihm das ganze Gewebe seiner Tragödie zusammen.

Vom nächsten Morgen an saß er hinten im 288 Gärtchen vor einem wackeligen Tisch, und die Dienstleute sahen mit Verwunderung den Gatten des Fräuleins, der da ohne aufzublicken, wie in einer stillen Raserei, Seite auf Seite vollschrieb. Hühner pickten und gackelten unter seinen Füßen. Ein Ziegenbock stellte sich vor ihn hin und sah ihn aus gelben Teufelsaugen lange starr an. Frau Palacios kam schlüsselrasselnd durch den Garten, machte Halt, zuckte die Achseln und ging ins Haus zurück.

Neben ihm lag aufgeschlagen der Text des Appian. Andere Hilfsmittel besaß er nicht. Er brauchte auch keine. Er kannte die Gesichter seiner numantinischen Helden. Es waren einfach die felsigen Gesichter der Bauern von Esquivias. Mochten siebzehn Jahrhunderte vergangen sein, mochte lateinisches, gotisches, maurisches Blut durch das ihre geflutet sein, sie waren wie einst! Dieses ernste und harte Land unter unerbittlicher Sonne erzeugte ewig das gleiche stolze und freie Volk. Er aber war nun sein Mund. Dies kam aus unterirdischen Quellen. Es brach mit solcher Gewalt hervor, daß die Hand kaum zu folgen vermochte. Es war Dichtung, was da entstand. Er war ein Dichter. Zum ersten Mal ganz.

»Heute also wirst Du sehen, was Heldenmut ist,« sprach er lächelnd zu Catalina, als er sich zum Vorlesen bereit machte. Zu dritt saßen sie um ihn im Garten, Catalina, die Mutter und der geistliche Oheim. Es war an einem warmen Nachmittag, schon gegen Abend.

Er begann und hatte augenblicklich vergessen, 289 wo und vor wem er las. Er las ausgezeichnet. Seine Stimme, nicht tief zwar, doch klingend und von männlicher Wärme, ließ den Gedanken klar und energisch hervortreten.

Er las die furchtbaren Endkämpfe der Belagerung, zeigte das Lager, malte die Stadt. Die seit zehn Jahren Eingeschlossenen flehen die Götter an. Ihre Priester wollen das Opfer darbringen, doch die Oberen verschmähen die Gabe. Der Erdboden klafft auseinander, ein Dämon steigt auf, streut das heilige Gerät umher und reißt den Opferwidder mit sich in die Tiefe. Finstere Zeichen sind dies. Aber die Stadt will völlig ihr Schicksal kennen, offenen Auges will sie den Untergang leiden. Ihr Magier Marquinus, in der Rechten die schwarze Lanze, in der Linken sein Buch, öffnet das Totenreich. Er ruft einen Knaben ins Leben zurück, der heute starb. Widerwillig, mit Ächzen, kehrt die schon wissend gewordene Seele nochmals in ihren Leichnam zurück und verkündet der Stadt den Untergang durch ihrer Bürger eigene Hände. Wenn die letzte Hoffnung dahin ist, wird Numantia Asche sein. Den Überwindern wird nichts zur Beute werden, kein Weib zur Sklavin, kein Armreif zum Schmuck. Schon schichtet sich auf dem Markte der Scheiterhaufen, der alle Schätze verzehrt:

Die bleiche Perle, die aus Ost gelandet,
Und Gold, zu schlanker Vasen Form gehämmert,
Demant, Rubin, Smaragd, der waldgleich dämmert,
Und Purpur, der des Feldherrn Leib gewandet...

290 Inzwischen ist die gemeine Not auf das Höchste gestiegen. Verhungernde liegen zu Hauf. Kinder saugen Blut statt Milch aus den Brüsten der entkräfteten Mütter. Da stürzen, das nackte Schwert in Fäusten, zwei junge Numantiner aus der Stadt, sie dringen ein in das Lager der Römer, sie rauben aus ihren Zelten das Brot. Der eine fällt, sein Freund, todwund, erreicht das Tor, die blutigen Brote tragend...

So weit war Cervantes gelangt. Er atmete hoch auf. Diese blutigen Brote, er wußte es, waren ein großes und ein neues Sinnbild.

Er hob seine Augen. Er sah seine Hörer.

Der Pfarrer schlief friedlich, den dicken Kopf zur Seite geneigt. Aber zwischen den Frauen ging ein Blick des Einverständnisses, den Cervantes auffing. Catalina lächelte dümmlich dabei. Das habgierige Gesicht ihrer Mutter jedoch war entstellt zu einer schnöden Grimasse. Mit unsäglicher Mißachtung waren die Winkel der dünnen Lippen nach unten gezogen. Eben schien noch der Mund das Wort »blutige Brote« mit lautlosem Hohn nachzubilden. Alle Niedrigkeit satten und bösartigen Dünkels war in diesem Weibergesicht versammelt.

Ihm fielen die Blätter aus den Händen. Wie ein Gelähmter, mit hängendem Kinn, saß er da. Es ging ihm furchtbar auf, wohin er verschlagen war. Er erhob sich und ging in das Haus.

In der Nacht verließ er Esquivias. Er hatte mit niemand gesprochen. Hier war das Wort ohne, Sinn. Sein Kind würde er fordern... Er wanderte 291 über die Feldpfade, die sich langsam erhellten, gegen Toledo.

Als er die Tür seiner Eltern aufklinkte, roch das Haus nach Weihrauch. Soeben war sein Vater gestorben. 292

 


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