Bruno Frank
Cervantes
Bruno Frank

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Der Kommissar

Philipp, Großkönig der katholischen Welt, Herr der Schiffahrt im Osten, Fürst der Inseln und Meere im Westen, war ein Greis und war krank. Eine bösartige Gicht lähmte und quälte ihn, sein erschöpftes Blut fing an, in Geschwüren auszubrechen, die nicht mehr heilten. Das Ende seines irdischen Weges war abzusehen. Aber noch hatte er nicht erfüllt, wozu ihn Gott in die Herrschaft berufen. Die Zeit war da.

Er war nicht müßig gewesen. Der Einheit und Reinheit des Glaubens über die Länder hin hatte seine lebenslange, schwere Mühe gegolten. Wo immer gegen den neuen Geist Hände sich erhoben, die Hand mit dem Kriegsschwert, die goldgefüllte Hand der Bestechung, die Meuchlerhand mit dem Dolch, immer hatte der kränkliche, leise Herr im Escorial sie gelenkt. Er allein hatte Frankreich in Bürgerkrieg und Elend gestürzt, die Niederlande zerfleischt und ihren großen Oranien gemordet, immer wieder den Stahl gezückt nach dem Leben der abtrünnigen Königin auf dem Throne von England.

Aber sie lebte. Das Mißlingen der letzten Verschwörung hatte Maria Stuart auf dem Schafott bezahlt; auch sie war für Philipp gestorben. Jetzt raffte er, am Abend seiner belasteten Tage, die Kräfte und Schätze der ihm anvertrauten Völker zusammen gegen dies England.

Nirgends so unangefochten wie dort regierte der Ketzergeist. Und er griff in die Weite! War nicht die Herrschaft über das Weltmeer Gottes Geschenk an Kastilien? England bestritt sie. Schon 293 brandschatzten seine Kapitäne die spanischen Küsten, sie erschienen in Afrika und Westindien, sie zerschnitten durch ihre tollkühnen Streifen den gottgewollten Zusammenhang der katholischen Weltmonarchie... Krieg gegen England! Philipp, König von England! War erst diese Insel der Schemel unter seinen Füßen, dann stand er in seiner letzten Stunde so hoch, wie er sollte, und bot Gott in den Wolken eine gerettete, reine, katholische Welt auf seinen Händen dar.

Jahrelang hat der König gezögert. Jetzt auf einmal kann er nicht mehr warten. Seine Minister und Generale warnen. Erst müssen die Niederlande völlig bezwungen sein. Ein Sturm oder sonst ein Unglück sind immer möglich, dann bedarf man der holländischen Häfen als Zuflucht. Aber der König hört sie garnicht. Da es Gottes Sache ist, die er führt, wie sollte Gott Sturm oder Niederlage zulassen! Er treibt zur Eile. Er, so gemessen, so höflich sonst, verliert seine Fassung, er schilt und kränkt seine Diener. Ihre Vorsicht ist Lauheit, ist mangelnder Eifer für Gott.

Unter den Zögernden, Warnenden, ist der Marquis von Bazan, sein Admiral. Der König verletzt ihn so tief, daß der Kriegsmann es nicht erträgt. Ein hitziges Fieber befällt ihn. Er stirbt. Die Armada ist ohne Führer.

Doch wozu ein kundiger Führer, da Gott selber führen wird. Ein frommer Christ, ein edler Name, mehr ist nicht vonnöten. Und er ernennt zum Großadmiral seiner Flotte den Don Alonso Perez de Guzman, Herzog von Medina-Sidonia.

294 Der Herzog erschrickt. Er ist ein eleganter Grande von ganz besonders unbestrittener Reinheit des Bluts, unermeßlich reich auch, einer von jenen beiden, denen die Mancha gehört. Aber er ist gar kein Seemann. In einem langen, jammervollen Brief fleht er seinen König an, ihn zu entheben. Er verstehe wenig vom Krieg und überhaupt nichts von Schiffahrt, er werde auch immer gleich seekrank. Es hilft ihm nichts. Die Armada hat ihre Spitze, »statt des eisernen Admirals einen goldenen.«

Auf den atlantischen Werften wird fieberhaft gebaut. Viele Schiffe, große schwere Schiffe, ausladend und pomphaft. Zwar weiß man, daß sie unpraktisch sind. Man kennt die flachen, wendigen Kähne der Engländer. Aber man wird diesen ketzerischen Freibeutern die Ehre nicht antun, sich anzupassen. Mächtige, geschmückte Galeeren, mit einer Bemannung schwer gerüstet wie Ritter zur Landschlacht, das ist Gottes würdige Garde.

Doch sie ist teuer. Prunkschiffe und gegossene Kanonen sind teuer. Zehntausend Matrosen, zwanzigtausend Soldaten wollen zu essen haben, und am besten essen wollen die vielen Freiwilligen aus dem Adel, die sich zu der gottgefälligen Unternehmung drängen und jetzt schon glänzend und prahlerisch in den Seestädten herumliegen, einstweilen mit Duellen und Frauenjagd standeswürdig beschäftigt.

Die Kassen sind leer. Der gichtbrüchige Herr im Escorial sitzt Tag und Nacht über Erlassen 295 und Korrespondenzen, um sie zu füllen. Er erhöht seine Einfuhr- und Ausfuhrzölle: auf Waren von und nach Indien, auf Waren von einer Provinz in die andere, zwanzig und fünfundzwanzig Prozent, es kommt nicht darauf an. Den Kaufleuten, die aus den Kolonien kommen, beschlagnahmt er einfach ihr Geld und gibt ihnen dafür Anweisungen auf seinen Schatz, der nicht da ist. Er verkauft meistbietend seine Beamtenstellen und schafft neue zu diesem Zweck, er verkauft Kommenden, Adelsrechte, Posten von Regidoren und Corregidoren, Alcalden und Sekretären. Siebzigtausend Posten hat König Philipp zu verkaufen. Er nimmt Geld auf, wo er's bekommt, und verpfändet, was schon verpfändet ist; bedenkenvoll betrachten die Bankherren in Frankreich, Deutschland, der Lombardei, die königlichen Wechsel. Sie halten sich vorsorglich schadlos an ihren Spesen: eine Tratte von Madrid über Genua nach Flandern kostet Philipp dreißig Prozent. Geld! Geld! Aber nichts ist genug. Dieser König, der das gesamte Silber und Gold der Welt kontrolliert, muß mehr als einmal seine nächtliche Aktenarbeit vorzeitig abbrechen, weil kein Geld mehr vorhanden ist, um neue Kerzen zu kaufen.

Sein Land, das erdbeherrschende Spanien, hungert. Wie ein riesiger Polyp liegt über den sieben Millionen Menschen, die arbeiten, die eine Million adeliger und geistlicher Müßiggänger. Erbarmungslos pfändet der Steuerbeamte die Lebenssubstanz. Her mit der Nahrung! Her mit Weizen, Gerste und Mais, mit Öl, Wein, Zwieback und 296 Käse. Man wird euch bezahlen, wenn Gottes Sache geglückt ist, hier ist ein Zettel. Zwölftausend Zentner Zwieback hat Andalusien zu liefern, sechstausend Faß Wein die Stadt Sevilla, viertausend Arrobas Öl dieses Städtchen, achttausend Liter Getreide dies Dorf.

Auf ihren Maultieren durchreiten die Proviantkommissare des Königs das erliegende Land, sie pressen aus den Ausgepreßten das Letzte. Wo sie auftauchen, ist dumpfe Verzweiflung und Wut. Sie erbrechen Scheuer, Schuppen und Keller. Sie lassen dem Bauern nicht Korn mehr für seine Aussaat. So will es Gott.

Und einer von ihnen ist Miguel Cervantes.

*

Man hat ihm das Amt hingeworfen wie einem herrenlosen Hund einen Knochen. Er war am Ende. Nichts glückte. Es gab im weiten spanischen Reich für ihn nicht den täglichen Bissen Brot. Vorbei die armen Glücksfälle der Literatur. Niemand wollte »Numantia« auch nur lesen. Er war ohne Grad, ohne Rang, ohne Protektion. Er wäre gern Taglöhner geworden, Maurer, Anstreicher, Lastträger; er hatte nur eine Hand.

Er graste die Städte der Halbinsel ab, um Gotteslohn mitgenommen von langsamen Fuhrwerken. Die Stadtviertel, wo das Gesindel sich umtrieb, waren die seinen. Tausende von Taschendieben, Falschspielern, Zuhältern, wimmelten in diesen Tiefen, Angeber für die Polizei 297 dazwischen, Spitzel für die Inquisition. Die Versuchung, sich dorthin sinken zu lassen, trat heran, klingelnd mit Beuteln voll Kupferstücken. Ein Amt zu finden, ein Staatsamt, war ein fast unmöglicher Traum.

Wenn er nach Madrid kam, saß er in den Vorzimmern herum, mehr um die Zeit hinzubringen, denn aus Hoffnung. Die Schreiber hoben die Köpfe nicht mehr, wenn sie seine Stimme erkannten. Und er begriff zuerst nicht recht, es war ein nicht mehr erwartetes Wunder, als man ihm eines Tages in der Kriegskammer bedeutete, eine Aussicht sei da.

Die Behörden konnten nicht wählerisch sein. Provianteinkäufer für die Armada, wahrhaftig, die Posten waren nicht sehr gesucht. Jeder wußte, was sie bedeuteten. Man brauchte rüde Burschen dafür. Irgendein Rechnungsrat mochte geäußert haben, es sei da ein gewisser Cervantes, alter Soldat aus den Zeiten Don Juans, hartgehämmert in Afrika, der eigne sich sicher dafür, den Bauern das Fell abzuziehen.

Er hatte sich Herrn de Guevara vorzustellen, dem Generaleinkäufer und Hauptkommissar. Er scheute diesen Besuch, denn seine Kleidung war nicht anständig mehr, er sah aus wie ein Landstreicher. Aber der vornehme Beamte schaute ihn gar nicht an. Mit gekniffenen Nüstern, um den Armeleutegeruch nicht zu spüren, sprach er aus unerreichlicher Höhe herab zu Cervantes. Er habe sich sogleich nach Sevilla zu begeben. Im dortigen Bezirk sei sein Tätigkeitsfeld. 298 Weitere Instruktion durch Herrn de Valdivia, Provinzkommissar für Andalusien. Gehalt zwölf Realen pro Tag.

Zwölf Realen. Es war doppelt so viel, als ein Zimmermann verdiente oder ein anstelliger Hafenarbeiter. Es war genug, um zu leben. Genug, um der Mutter etwas zukommen zu lassen, die wieder nach Alcala gezogen war und sich dort in der Nähe ihrer frommen Tochter kränkelnd von Klosteralmosen fristete.

Genug auch, um nach Esquivias etwas Geld für die kleine Isabella zu schicken. Denn die beiden Hidalgas hatten Isabella nicht hergegeben. Unvermutet war er einmal im Dorfe erschienen, verwahrlost anzuschauen, und es hatte Skandal gesetzt. Aber er hatte die Kleine mit schlechtem Gewissen gefordert. Wollte er in der spanischen Unterwelt mit ihr umherziehen? Sie schien glücklich zu sein bei den Frauen. Sie gedieh. Den fremden, staubigen Mann, der sie küssen wollte, sah sie böse an, machte sich steif und wand sich aus seinen Armen. Geld aber wollte er hinschicken. Isabella sollte von ihm existieren. Es war ein letzter, armer Ehrgeiz.

Seit Monaten war er nun unterwegs auf den staubigen Straßen im Süden. Das Maultier war ihm von der Verwaltung gestellt. Er sah nicht mehr aus wie ein Strolch, er war gut gekleidet, in ein hochgeschlossenes Wams aus dunklem Samt, mit feiner Krause und einem leichten Tuchmantel darüber, wie es dem königlichen Beamten zukam. Auf diesen Anzug war der größere Teil 299 seines Vorschusses draufgegangen. An der linken Flanke des Maultiers baumelte in zwei Lederschleifen das Zeichen der ihm übertragenen Gewalt: der lange Stab mit der vergoldeten Krönung. Manchmal trug er ihn auch unter den Arm geklemmt, daß er aussah wie eine Lanze.

Tiefer ging es nun nicht. Er hatte den Boden erreicht. Leuteschinder und Armenpresser: er machte sich keine Illusionen über sein Amt. Entschuldigungen gab es, gewiß. Er wäre fast Hungers gestorben, gewiß. Er handelte für den König, gewiß, war außer Verantwortung. Und trieb nicht er dies Geschäft, so trieb es ein Anderer und wahrscheinlich härter. Gewiß, gewiß. Aber das war alles ganz einerlei. Er hörte wieder die Männer von Esquivias, wie sie am Wirtstisch über die Steuerbeamten und Exekutoren sprachen, die ihnen den letzten Tropfen Blut wegsaugten. Solch ein Blutsauger war er jetzt selbst.

Er zog durch das Land im Osten Sevillas, von Marchena nach Estepa, von Aguilar nach La Rambla, von Castro nach Espejo, und es war überall dasselbe. Wo er ankam, sperrten die Bauern die Scheunen zu, verrollten die Fässer, nahmen die Räder von den Karren ab, die zum Abtransport dienen konnten. Manche machten die Sensen scharf. Die Weiber heulten vor ihm. In den Nächten schlief er in irgend einer Amtsstube, die Pistole in Reichweite, halb nur entkleidet.

Er hatte die Hölle, für zwölf Realen am Tag. Er war gar kein Mensch mehr. Er war ein Werkzeug in diesem klappernden, schadhaften 300 Staatsmechanismus. Ein scharrender, raffender Rechen für die Armada. Nicht denken! Denken war tödlich. Fing er zu denken an, so war diese Existenz nicht zu führen. Es gelang ihm auch, nicht mehr zu denken. Er ließ in sich einen eisernen Vorhang herunter. Dahinter lag alles, was er einmal gewesen. Mitunter, auf einsamer Rast, klopfte er seinem Maultier den Hals, griff ihm liebkosend ins rauhe Stirnhaar, blickte in das sanfte Feuer der langgeschnittenen, schönen Augen. Dies war, was ihm noch von Empfindung verstattet blieb.

Auf der Straße von Cordoba her näherte er sich dem Städtchen Ecija, einem Ort von fünf- oder sechstausend Menschen, wo es Arbeit gab für mehrere Tage. Es war Ende Juli und Mittag. Er hatte Mantel und Wams vor den Sattel gehängt und ließ sich im Schritt hin- und herwerfen, völlig benommen, in einem Hitzerausch. Vor Ecija war er gewarnt worden, man komme dort um vor Glut, »Bratpfanne« hieß der Ort in ganz Andalusien.

In weißem Dunst sah er jenseits des Flusses das mauerumgebene Städtchen liegen, angelehnt an runde, beackerte Hügel. Die Brücke über den Genil war hüben und drüben mit starken Tortürmen bewehrt.

Wie er den ersten durchritt, machten die Wachtsoldaten finster unbeteiligte Gesichter und grüßten nicht zurück. Jenseits, im zweiten Tor, kehrte sich der Stadtzöllner ausdrucksvoll nach der Wand. Seine Anreise war schon bekannt, er sah es. Solche Empfänge war er allmählich gewohnt.

301 Niemand zeigte sich in den engen, buckelig gepflasterten Gassen. Der stolpernde Tritt seines Reittiers hallte wider von den fensterlosen Mauern. Dann stand er auf einem kochenden Platz. Die grün und blau glasierten Ziegel des Kirchturms brachen augensengend das Licht. Er beschloß einzukehren.

In der Posada summten die Fliegen. Brot, Speck und Käse und ein guter, leichter Wein wurden ihm vorgesetzt. Die Wirtin, eine üppige, noch ganz anziehende Vierzigerin, setzte sich zu ihm. Er stellte obenhin ein paar Fragen. Seufzer waren die Antwort.

Man tue gern alles für seinen König. Man sei auf dem Laufenden hier, Ecija sei ja kein Nest. Man wisse, um was es gehe. Aber der Herr werde selber schon sehen, hier lasse sich nichts mehr holen. Die Stadt sei kahlgefressen. Solch ein Brot, wie er's da eben unter den Zähnen habe, hätte sie ihm vor zwei Jahren auch nicht vorzusetzen gewagt! Er persönlich sei ja ganz gewiß anders, aber seine Vorgänger hätten vor garnichts Halt gemacht. Sie allein kenne acht – nein, sie müsse nachrechnen, zehn Familien – so ausgeplündert im letzten Jahr, daß sie jetzt der Gemeinde zur Last fielen. Er solle sich nur in Acht nehmen hier am Ort! Die Leute seien rabiat. Sie habe geradezu Angst um ihn.

Sie war näher gerückt. Der Blutsauger, der ihr Städtchen bedrohte, schien ihr nicht zu mißfallen. Er war todmüde. Er sank ein wenig zurück und schloß die Augen. Sein Kopf lehnte gegen den 302 reichen Busen der Wirtin. Zwischen den beiden hohen Kissen lag er eingebettet. Die Fliegen summten um den Rest Wein, der im Becher geblieben war. Sie blickte auf den felsigen Handstumpf des Mannes, auf seinen hohen Amtsstab, der an der Wand lehnte, und schüttelte mit träumenden Augen den Kopf, sie wußte selbst nicht, warum.

Es sah wirklich recht hoffnungslos aus in Ecija! Scheuer, Vorratskammer und Keller leer, die Bauern, denen die Requisitionszettel vom Vorjahr noch nicht eingelöst waren, zum Widerstand deutlich entschlossen. Es war hier nicht der stolze, ruhige Schlag wie in Kastilien, sondern eine geschmeidigere Rasse, viele Köpfe arabisch geprägt, klug und lebendig. Unter Gebärdenspiel folgten sie ihm, während er prüfte, unterhandelte, von Scheuer zu Scheuer schritt. Zwei Polizeidiener stapften hinter ihm drein, die er mit Mühe requiriert hatte; sie machten verlegene Gesichter. Ihr Bürgermeister war nicht in der Stadt. Vorgestern, hieß es, sei er nach Osuna verritten; ungewiß, wann er zurückkam, vielleicht heute, vielleicht nächste Woche.

Der Haufe, der auf seinem Inspektionsmarsch hinter Cervantes herzog, wurde immer dichter. Er spürte um sich, auf seinem Rücken, den scharfen und bittern Hohn dieser Ausgeschöpften. Ja, nicht wahr, hier hatten einmal die Majestät und sogar der Himmel ihr Recht verloren! Cervantes war es klar, daß sie ihn etwas betrogen. So völlig garnichts konnte schwerlich vorhanden sein. 303 Aber die Wahrheit genügte. Und wenn er daran dachte, daß ihm Kriegsamt, Auditeurshof und Rechnungskammer und außerdem Herr de Valdivia noch persönlich eingeschärft hatten, aus Ecija unweigerlich 500 Fanegas Mehl und 4000 Arrobas Öl zu ziehen, mußte er innerlich lachen. Er lachte sogar wirklich, unerwartet und laut, so daß ihn sein hämisches Gefolge erschrocken betrachtete. Hatte man ihnen zur Abwechslung einen irrsinnigen Kommissar geschickt?

Sie waren am Ufer des Genil angelangt. Hier lagen, außerhalb der Stadtmauer, drei Vorratshäuser dicht nebeneinander, völlig gleich und stattlich erbaut. »Aufmachen!« sagte Cervantes und stieß mit dem untern Ende seines Stabes gegen das erste Tor. Getuschel und unterdrücktes Gelächter ward hörbar. Das werde sich der Herr Kommissar wohl zweimal überlegen, hieß es dann. Zwar zu holen sei hier noch allerhand, hier habe keiner gepfändet. Aber alles sei kirchliches Eigentum, seien Vorräte des Klosters La Merced, dem ja weit herum die besten Landstücke gehörten.

Und schon sah Cervantes von der nahen Stadtmauer her mit fliegender Sutane einen Geistlichen heraneilen, gefolgt von zwei Brüdern des Klosters. Er winkte von Weitem mit beiden Armen.

Herangelangt, grüßte er kaum. So wenig, erklärte er gleich, kenne doch wohl der Herr Beamte seine Instruktion nicht, um an geistliches Gut seine Hand zu legen. Er warne vor Übergriffen!

304 Die Leute waren im Halbkreis zurückgewichen. Gespannt wartete man auf den Ausgang. Manche grinsten fatal. Ach nein, er würde sich's nicht getrauen, der Herr Staatseinnehmer! Es war ja auch alles Spiegelfechterei, abgekartet womöglich. Staat und Kirche, das waren Verbündete, das war dasselbe. Gemeinsam schnitten sie Riemen aus der Bauernhaut.

Von Übergriffen sei nicht die Rede, erklärte Cervantes. Die Requisitionen geschähen zu einem frommen Zweck, für den Kreuzzug gegen England. Wer da mehr zur Beihilfe veranlaßt sein könne, als eben die Kirche?

Aber der Pfarrer war gut beschlagen. Verächtlich zur Seite blickend, legte er dar, daß ja gerade die Kreuzzugsbeihilfe König Philipp in diesem Fall wieder zugestanden worden sei. Auch der Zehnte von allem geistlichen Einkommen werde natürlich weiter erhoben. Und bis auf den Scudo genau zeigte er sich über die Summen unterrichtet, die Seine Heiligkeit, Sixtus der Fünfte, in Ansehung des Zwecks noch selber gespendet hatte. Nichts sei versäumt worden. Nun müsse eben die Bevölkerung steuern.

Die Bevölkerung habe gesteuert, gefront und geblutet, erwiderte Miguel in einer nervösen Erbitterung, über die er sich selber verwunderte. Nicht das Korn für die Aussaat habe man Vielen gelassen. Es könne nicht christlich und nicht gottgefällig heißen, wenn der Klerus, sitzend auf vollen Kisten und Säcken, dem zuschaue. So bitte er denn um die Schlüssel!

305 Die habe er nicht, erklärte der Geistliche.

»Aufbrechen!« befahl Cervantes den Polizeidienern. Die schauten einander unschlüssig an. Das war ein sehr schwieriger, kniffliger, ein kitzeliger Fall.

Cervantes hob seinen rechten Fuß und trat mit voller Kraft gegen das Tor, daß es krachte. Zwei solcher Stöße noch, und es sprang auf.

»Da kommt unser Bürgermeister!« rief einer der Polizisten und atmete laut auf, wie erlöst aus schwerer Gewissenspein.

Cervantes wandte sich um. Dort kam er vom Stadttor her, ein kleiner Herr in dunkler Gewandung, auch er von ferne schon winkend wie vorher der Pfarrer.

»Die weltliche Hand wird Euch zurechtweisen,« sagte der mit wiedergefundener Würde.

Cervantes, auf seinen Stab gestützt, ließ den Alcalden herankommen. Es war ihm ganz klar: er hatte seine Instruktion überschritten. Aber das Gefühl gegen Unrecht, verschüttet durch den schrecklichen Zwang seiner Funktion, war wieder lebendig in ihm. Es war nicht bloße Anteilnahme an den Leuten von Ecija, die gefielen ihm gar nicht besonders, es war das weite, starke und großmütige Gefühl wie in alten Tagen – in den alten, den guten Tagen der Sklaverei und der Rebellion.

Der Bürgermeister war heran. Er brachte erst seinen Atem in Ordnung und schloß die Augen dabei, die in einem verknitterten, aber noch nicht alten Gesicht wie zwei kleine Wasserpfützen lagen. 306 Als er sie wieder auftat und auf diesen Kommissar richtete, um dessentwillen man ihn alarmiert hatte, da weiteten sie sich plötzlich in einem gewaltigen Erstaunen, das rasch in Entzücken überging. Cervantes, Pfarrer, Mönche, Gendarmen und Volk sahen, höchst verblüfft, den Alcalden die Arme ausbreiten. Ein seliges Lächeln erschien auf dem verliebt zur Seite geneigten Gesicht. Er tat den Mund auf. Er sprach in Versen:

»Und es hüllt ein Strom von Gnaden
Cristobal Mosquera ein,
Mit Talenten reich beladen,
Könnt er selbst Apollo sein!«

Der Pfarrer runzelte die Stirn. Es war klar, daß hier der Verstand gelitten hatte. Ein Sonnenstich wahrscheinlich auf dem glühenden Wege von Osuna her. Denn wie anders erklärte es sich, daß der Mann in offenbar bester Absicht hier ankam, dann aber nach diesem frechen Beamten die Arme ausstreckte und ihm Verse zusäuselte, in denen sein eigener Name so lächerlich figurierte.

»Herr de Cervantes! Don Miguel! Euer Gnaden erkennen mich nicht?« rief er jetzt wieder.

Cervantes kam eine Ahnung. Flüchtig wurde er rot.

»Erst müssen wir unser Geschäft bereinigen, Herr Alcalde,« sagte er offiziell. »Ich handle hier kraft meiner Vollmacht.«

»Kraft seiner Vollmacht, Don Bartolome!« wiederholte der Bürgermeister mit bedauerndem Achselzucken, »liefert die Schlüssel aus!« Er 307 konnte es kaum erwarten, hier zu Ende zu kommen.

Der Geistliche winkte mit entstelltem Gesicht. Einer der Mönche brachte die Schlüssel zum Vorschein. Ohne ein Wort machten sie alle drei kehrt, man sah ihre dunklen Gestalten im Stadttor verschwinden.

Die Speicher taten sich auf. In schöner Ordnung waren die breiten und tiefen Räume gefüllt mit Kisten, Säcken und Fässern, bis in den dämmerigen Hintergrund.

»Das wird genügen für alle,« sagte Cervantes. Ein Flüstern und Murmeln flutete gegen ihn her. Jeder wollte es gleich erkannt haben: dieser Mann mit der einen Hand war kein Kommissar wie die anderen! Man sah es am Auftreten. Man sah es an der feierlichen Art, wie der Bürgermeister ihn begrüßte. Man hörte, wie er ihn jetzt dringlich und ehrerbietig zu Gast lud. Er sei zwar Junggeselle, äußerte er, aber er lebe bequem.

Inzwischen war Cervantes ganz ins Klare gekommen. Wahrhaftig, dies war ein seltsamer Scherz! Dieser Bürgermeister war der Lizentiat Cristobal Mosquera de Figueroa, einer von den hundert Poeten, für die er in seiner »Galatea« das große, allgemeine Weihrauchfaß aufgestellt hatte. Wahrscheinlich hatte ihm seine Familie den Posten hier im Süden gekauft, um ihn loszuwerden und zu versorgen; aber auf die Literatur und den Lügenhof schaute er mit Sehnsucht zurück. Das war die große Zeit seines Lebens gewesen.

Als sie im Amtshaus angelangt waren, führte 308 Mosquera seinen Gast in die Wohnstube. »Ich habe die Ehre in Ehren gehalten,« bemerkte er formelhaft und wies auf eine Stelle der Wand, wo eingerahmt ein gedrucktes Blatt hing. Ein Lämpchen war darunter angebracht wie unter einem Heiligenbild. Es war das Blatt aus der Galatea, wahrhaftig, die Seite 328. Cervantes las:

»Manche hat Apoll begnadet,
Daß sie ihm als Dichter taugen,
Manchem hat er Stirn und Augen
Im kastalischen Quell gebadet.
Und so hüllt ein Strom von Gnaden
Cristobal Mosquera ein,
Mit Talenten reich beladen
Könnt er selbst Apollo sein.«

Als Cervantes gelesen hatte, stand er noch eine Weile davor. Er wagte nicht, sich umzudrehen, denn seine Augen standen voll ungewohnter Tränen. Das also war herausgekommen bei seinem Dichten: daß ihm ein Dorfschulze beim Steuereintreiben half. Das war das Ende von Mühen und Demütigungen. Das war sein Lebensresultat. Und für den kleinen Mann da hinter ihm war dieser Zettel der Inbegriff von Ruhm, Geist und schönerer Jugend. Vor diesem bißchen kaltherzig gespendeter Druckerschwärze verrichtete er seine Andacht. Sie war das Beste in seinem Dasein... Nun, jedenfalls behielten auf diese Weise die Leute von Ecija etwas zu essen!

Das requirierte Kirchengut ging auf dem Genil hinunter bis Palma del Rio, dann auf dem 309 Guadalquivir zum Ozean, und war am dritten Tage in Lissabon, wo sich ein Teil der Flotte zusammenzog.

Aber schon am Tage vorher, der ein Sonntag war, wurde Miguel Cervantes in der Klosterkirche La Merced von der Kanzel herab feierlich exkommuniziert. 310

 


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