Bruno Frank
Cervantes
Bruno Frank

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Der Sklave Don Miguel

Es ist mit der Genialität eines Mannes bestellt wie mit der Frauenschönheit: das Wort vermag sie nur zu behaupten, nicht sie spürbar zu machen.

Ein Mann hat nichts als Unglück gehabt, an großen Unternehmungen hat er teilgenommen, aber er blieb im Dunkel. Er ist verstümmelt und bettelarm. Ein Tor scheint aufzugehen in hellere Zukunft, aber vor ihm schließen sich die eisernen Flügel. Der Mann ist ruhmlos, unbekannt, eine Null im Haufen, und sein Los scheint es, in Ketten zu verkommen. Aber unterdessen ist mit ihm selber etwas Großes und Rätselhaftes geschehen. Aus seiner Person bricht eine wärmende und erhellende Kraft, die jeden anrührt, der ihm nahe kommt, die Vertrauen und Neigung erweckt wie die Aprilsonne Blüten auf brauner Ödnis, eine Kraft, der selbst die schachernden Henker nicht widerstehen können. Und so, dank einer geheimnisvollen menschlichen Herrlichkeit, bleibt er bewahrt in langer Gefahr, um dereinst die Frucht seines Lebens hervorzubringen.

Sein Glück, wenn es Glück war, begann damit, daß man ihn nach wenigen Tagen aus dem feuchten Gewölbe hervornahm. Er fand sich in einem oberen Stockwerk des Bagno. Hier ließ sich atmen. Die eine Längsseite des Raumes war völlig offen, ohne Sims noch Geländer.

Wo eigentlich befand er sich denn? Ein dreistöckiger Schuppen das Ganze, als Viereck angeordnet um einen Hof, in dessen Mitte ein Brunnen sprudelte. Die Sonne stand hoch, der Hof war 155 leer, sein weißer Sand blendete die Augen. An den offenen Gelassen ringsum zeigte sich niemand. Kettenklingelnd wandte Cervantes sich um in das seine. Der Hintergrund war in Nischen abgeteilt, jede mit Mauerringen versehen und mit einer Streu. Es war wie ein Tierstall. Wenige Gestalten nur bewegten sich kauernd, es entstand ein Geräusch, wie wenn sich Pferde in ihren Geschirren rühren.

Bei Sonnenuntergang erst bevölkerte sich der Saal. Die auf Arbeit Geschickten wurden hereingetrieben. Graues Brot und eine dünne Suppe wurden verteilt. Dann verging eine Stunde mit dem Anketten für die Nacht. Die Wächter schienen Auftrag zu haben, gewissen Gefangenen durch komplizierte und schwere Bande den Schlaf zu verderben.

Cervantes saß in seinem Mauerwinkel, Arme und Beine schon vorgestreckt, seiner verdoppelten Nachtketten gewärtig. Aber die Grüngekleideten gingen vorüber. Süß war der Schlaf bei gestreckten Gliedern.

Er fuhr in die Höhe, weil ihm etwas Kaltes die Schläfe berührte, und sah vor sich in höchst elegantem Stadtburnus Dali-Mami, wie immer sein elastisches Eisen in der Hand. Es war völlig hell im Gefangenensaal.

»Gut geschlafen, Don Miguel, das freut mich. Obwohl nicht so gut wie in Euerm Himmelbett in Madrid. Schreit nicht! Ich weiß schon: Ihr habt kein Himmelbett, Ihr seid auch kein Grande. Aber wenn Ihr noch einmal Esel zu mir sagt, muß ich 156 Euch leider totschlagen, trotz des Verlusts. Ich ertrag' das nur einmal.«

Er gab über die Schulter zurück seinen Trabanten einen Befehl. Einer verschwand und kehrte fast sogleich mit einer kurzen und leichten Fessel zurück, die zum Reif geschmiedet war.

»Das laßt Euch anlegen, Don Miguel, und tragt es am Fuß. Es ist nur eine Andeutung, wie Ihr seht. Alles andere fällt. Die Tage im Gewölbe unten haben Euch wohl belehrt, wie es sein kann hier bei uns! Wozu soll ein Herr wie Ihr mit zwei Zentnern Eisen am Leibe verhungern, wenn am Hofe in Madrid Ehren und Damen auf ihn warten! Schreibt also lieber fünf Briefe statt zwei; hat ein Freund die zweitausend nicht flüssig, so schickt sie der andre. Und nun behagt Euch in Algier!«

Dazu war beinahe Anlaß. Als ein Mann, dem wenigstens ein dürftiges Nachtlager und Essen gesichert ist, mochte er sich bei Tageslicht umhertreiben und umschauen, mit einem etwas plumpen Schmuckstück am Bein. Nicht der ihm zugeschriebene Rang allein verschaffte ihm soviel Freiheit. Es saßen genug Herren von Stand in den drei Bagni, denen Aufsicht und Ketten nicht einen Tag lang gelockert wurden. Eine Art grimmiger Sympathie Dali-Mamis war mit im Spiel. Cervantes zuckte die Achseln, wie er's bedachte, und machte sich auf, um in dieser wimmelnden Welt nach seinem Bruder zu suchen.

Am nächsten Tage schon fand er ihn, in einem Hause der Unterstadt, ganz nahe dem Bab-Azoun. 157 Hier in einem langen dunkeln Flur, der von der Straße zum Innenhof führte, erschien von ungefähr Rodrigos mächtige Silhouette, schwarz gegen die Helle. Er zersägte Holz und pfiff dazu.

Cervantes stand einen Augenblick still. Dann trat er unter das geschnitzte Schutzdach, das den Eingang überhing, und rief seinen Bruder an.

Der Fähnrich berichtete, guten Mutes. Er war auf dem Badistan von einem jüdischen Arzte erstanden worden, einem altern Herrn, seit langem hier ansässig, Witwer, dem vor kurzem sein Sklave gestorben war. »Sehr gutes Essen, mein Miguel. Und der jüdische Hund äußerst freundlich, eigentlich kaum ein Hund, man sagt ja nur so. Er spricht Spanisch mit mir, ich habe ihm schon von Dir erzählt.«

»Du solltest nicht immer allen Leuten von mir erzählen, Rodrigo! Es ist nicht ganz nützlich.«

In diesem Augenblick trat aus dem Innenhof Doctor Salomon Perez, im Käppchen, unter dem silbern die Schläfenlocken hervorkamen, und im langen, schwarzen, seidigen Kaftan.

»Ich bin gerufen,« sagte er in reinem Kastilianisch, »Ihr müßt mir den Arzneikasten nachtragen, Rodrigo!« Und er richtete seine gewölbten, stumpfbraunen Augen auf Miguel Cervantes.

»Ihr seid der Bruder meines Hausgenossen, es ist am Gesichtsschnitt wohl zu erkennen. Wie haben es Euer Gnaden in Algier getroffen?«

Eine höchst gemischte Empfindung, Mitleid, Heiterkeit, Rührung, Scham, streifte bei der 158 unterwürfigen Anrede an Cervantes' Herz. Wie in einem Blitzschein tauchte für einen Augenblick aus der Nacht der Zeiten das niebedachte Schicksal dieser Geächteten. Was mußte mit den Vätern dieses gelehrten Mannes geschehen sein, daß er zu einem Sklaven so sprach!

Er tat schon den Mund auf zum gewohnten Protest. Aber eine sehr ungewohnte Regung von praktischer Klugheit mahnte ab.

War es denn vernünftig, seine Legende ganz und überall zu zerstören? Sie brachte Vorteile. Sie schenkte Bewegungsfreiheit. Sie gab Zeit, Pläne vorzubereiten, die sich dunkel schon regten. Was drängte er sich denn, im Stapel der billigsten Menschenware zu verschwinden!

Er sagte: »Ich danke Euch, mein Herr Doktor. Es geht mir leidlich. Und es erfreut mich, meinen Bruder im Hause des Gelehrten zu sehen. Wissen macht sanft.«

»Wenn es nicht hochmütig macht und unempfindlich,« sagte Salomon Perez und wiegte stark seinen Kopf.

Der Fähnrich hatte den umfangreichen Arzneikasten aus dem Hause geholt. Cervantes sah ihnen nach, wie sie beide davonwandelten, der zarte Greis im Seidenmantel voran, der Bruder mit der roten Sklavenkappe hinterdrein, den schwarzen Koffer am Riemen über der Schulter. Sie verschwanden nach links hinauf, der Stadtmauer entlang, in der Richtung der Kasba.

Eine Woche später war Cervantes die ganze verwinkelte Siedlung völlig vertraut. Auf vielen 159 Stufen hatte er schon gesessen, schauend und im Gespräch. Und ungesucht war ihm alsbald ein Erwerb zugefallen.

Wieviel Sklaven lebten in Algier? Fünfzehntausend? Zehntausend gewiß. Alle fühlten sie das Bedürfnis, mit der Heimat Bericht zu tauschen. Aber des Schreibens kundig waren nicht viele. Wohl gab es öffentliche Schreiber, aber sie beherrschten die Sprachen nicht, waren teuer zudem, und ihre Briefe gar zu trocken und kalt.

Unter den Hufeisenbögen oder im Mauerschatten saß Cervantes und schrieb für die Wortlosen. In seiner raschen Feder ward jede Nachricht, jede Klage beredt und zum Greifen real, angemessen alles der Person des Senders und dessen, der die Botschaft empfing. Immer ließ er sich erst die fernen Freunde beschreiben, stellte jeden vor sich hin mit zeugender Einbildungskraft und erkannte vielerlei Schicksal.

Alle vertrauten sie ihm, sie hingen sich an seine Fersen in allen Gassen. Und als er sich, nach Monatsfrist, einen Standort wählte, war er oftmals umlagert. Kleine Münze nahm er als Entgelt, und von denen nur, die sie ihm aufdrängten.

Der Platz befand sich außerhalb der Mauer, vor Bab-el-Wed. Verließ man die Stadt durch dies Tor, so lag zur Linken auf einer Anhöhe eine Art Klösterchen mit der Grabstätte eines Heiligen, die Zawia Sidi Abd-er-Rahman. Hier unter einer hohen, alten, einzelnstehenden Zypresse saß Miguel Cervantes und schrieb seine Briefe an andalusische Bauern, mallorkinische Fischer, italienische 160 Stadtbürger, an Protektoren, Kanzleien und Klöster.

Manchmal auch blieb er allein. Dann ruhte er, schaute und sann. Bab-el-Wed und die Stadtmauer waren durch Buschwerk völlig verborgen, und das, aus gewissen Gründen, war gut so. Über grünes Hügelland hinweg sah er das Meer. Dies Meer seines Lebens, über das er blindlings hin- und hergeschwemmt wurde. Dies Mittelländische Meer, Wiege der beiden großen Gedanken, von denen das Herz der Menschheit lebt: griechischer Freiheit und jüdischen Erbarmens. Dies Meer, heute von finsteren Mächten umlagert, die schreckensvoller wüteten als seine Stürme.

Zu Jahresanfang wurde es plötzlich kalt. Da verbrachte er einige Wochen »zu Hause« im Bagno, hielt sich in seinem Winkel oder saß vor den Stallnischen der Anderen. Eintönige Klagen empfing sein Ohr. Dann wieder erinnerte er sich des holden Zeitvertreibs seiner jungen Jahre, und er begann Verse zu schreiben. Es war nicht wie einst: kein Ehrgeiz, kein Preis beim Dichterturnier der winkte, kein Meister Hoyos, der den Schüler als einen künftigen Boscan oder Garcilaso lauteifernd rühmte. In Spanien, er wußte es wohl, war eine neue Literatur im kräftigen Emporblühen, unglaublich auch sollte der Zulauf sein, den neuerdings die Theatertruppen dort fanden. Aber er war abgeschnitten von alldem. Er wollte nur ein wenig vor sich hinsingen in seiner Gefangenschaft und sich erinnern. Der Gedanke gewann Gestalt in ihm, die Geschichte 161 seiner eigenen letzten Jahre in einen Zyklus zu bringen, dieser Jahre, die sich vor Fülle zu dehnen schienen wie ein Jahrhundert. Er begann, da die Reihenfolge ja gleichgültig erschien, mit einer trochäischen Elegie auf den Tod des sanften Aquaviva, die Verse flossen ihm gelind und ohne Mühe, dann überlas er sie und zerriß seine Blätter. Es war alles rhetorisch und leer, niemand, der dies las, konnte angerührt werden von dem milden Zauber des Knaben im Purpur. Aber vielleicht gelang das Heroische besser? Er entwarf eine Ode auf den Sieg von Lepanto. Die Jamben stürmten. Es klirrte und blitzte. Einen Tag lang gefiel es ihm. Jedoch in der Nacht erwachte er an seinen eigenen Versen:

Der Herr, der seine starke Hand läßt schauen
Und lohnt des Fürsten gläubiges Vertrauen,
Zu seines heiligen Namens Ruhm und Ehren
Will Philipps Spanien diesen Sieg gewähren –

und er wußte auf einmal, daß sie einer Ode des Dichters Herrera fast Wort für Wort entlehnt waren. Sogleich im Morgengrauen revidierte er sein Werk, doch es geschah ohne Zutrauen. Alles erschien ihm ruhmredig und aufgeschwollen, ein fader Geschmack legte sich auf seine Zunge. »Was tut Ihr, Don Miguel,« fragte ein valenzianischer Priester, der unter den Gefangenen war, und blieb vor der Nische stehen, »schon am frühen Morgen schreibt Ihr und schreibt!« »Ich schreibe Verse, ehrwürdiger Vater. Es ist immer noch besser als Läuse suchen.« Aber selbst das war ihm zweifelhaft.

162 Als schon im Februar wieder eine milde, ganz frühlingshafte Sonne schien, bezog er aufs Neue seinen Platz bei Sidi Abd-er-Rahman. Selten aß er auch nur seine Suppe im Bagno. Er kostete nichts. Er blieb ungeschoren.

Dem Glauben an seine Abkunft und Stellung trat er nicht mehr entgegen. Er tat jetzt sogar Einiges dazu, ihn zu nähren und lebendig zu erhalten. Briefe, darin er mit Madrider Geschäftsfreunden die Art der Zahlung diskutierte, fingierte Antworten sogar, ließ er offen umherliegen. Einige Male verschwanden die Briefe. Dali-Mami, wenn er am Abend inspizierte, leckte sich die Lippen beim Anblick des saftigen Bissens. Daß zweitausend Dukaten, eine gewaltige Summe, nicht ohne Schwierigkeiten eintrafen, schien nur natürlich.

In Wirklichkeit, das versteht sich, hatte Cervantes nichts unternommen. Wer denn auch sollte ihn loskaufen! Eltern und Verwandte vielleicht, die in ihrer Dürftigkeit belassen zu müssen sein nagender Kummer war?

Aber sie bemühten sich längst. Rodrigo, obwohl es ihm strenge verwiesen worden, korrespondierte über den Freikauf. Es ging kein trinitarischer Mönch zurück übers Meer, der nicht mehrere seiner Briefe mit sich führte, orthographisch fragwürdige, aber eindringliche Schreiben. Er selbst sei leidlich zufrieden, hieß es da, aber das mit Miguel, das sei ein Unglück. Niemand in Spanien wisse, wie schrecklich das Bagno sei. So eilig wie möglich müsse der Bruder ausgelöst 163 werden, in aller Interesse. Und verführerisch ließ er immer wieder Miguels berühmte Zukunft erschimmern. Er bekam Phantasie. Er log sogar, was seiner schlichten Natur eigentlich wenig entsprach. Aus Miguels plumpem Fußschmuck wurden Eisenbarren und schwere Ketten.

Der taube Rechtskonsulent Cervantes und seine stille Frau, die Tochter im Kloster und die andere, die sich mit Männern umhertrieb, sie sahen den Sohn und Bruder in Banden schuften und schwitzen. Miguels eigene Briefe, die weit tröstlicher klangen, schrieben sie seinem Stolz und der Schonung zu. Sie verkauften, was immer entbehrlich war, sie suchten Geld zu entleihen, die Schwester Luisa bemühte sich um eine Beihilfe bei ihren Oberen, die Schwester Andrea kaufte sich weder Kleider noch Schmuck mehr von den Geschenken ihrer Liebhaber, sondern legte Real auf Real; sie petitionierten, sie saßen ganze Tage in den Vorzimmern der königlichen Ämter, sie lebten fast nur von Zwiebeln und Brot.

Aber die Summen, die aufgebracht werden konnten, waren erbärmlich. Sie wagten garnicht, sie Miguel zu nennen. Auch hatte Rodrigo dies aufs Strengste verboten.

Cervantes wußte von nichts. Es ging ihm nicht schlecht. Er hätte zufrieden sein können.

Er war es nicht. Seit kurzem nicht mehr. Mit jedem Tag nahm seine peinvolle Unruhe zu. Er litt. Er fühlte sich, als das Frühjahr heran war, von Gram, Zorn und Elend völlig zerrissen.

Einst vor Lepanto hatte ihn der bloße Bericht 164 von der kyprischen Greueltat aufs Fieberlager geworfen. Jetzt sah er Ähnliches täglich mit leiblichen Augen. Die Zeit war hart, er war ihr Kind und hart war er gegen sich selbst. Aber er war ein Mensch der Empfindung und Phantasie, qualvoll befähigt, fremde Qual mitzufühlen. Und was er sah, war zuviel.

Allenthalben war das Strafensystem von furchtbarer Strenge. Man verbrannte, räderte, schleifte zu Tod, ließ durch Pferde zerreißen, die Glieder einzeln zerbrechen. Für ein paar gestohlene Heller fiel eine Hand vom Block. In allen Christenstädten krochen die Krüppel der Justiz zu Hunderten herum.

Wie erst hier, in diesem Ausguß der alten Welt, worin ihr Menschenabhub trüb zusammenschäumte, und Habgier, Fanatismus und Grausamkeit sich mischten wie nirgends. Hinrichtung, Verstümmelung, Folter waren tägliche Kurzweil, das Wehgeheul der Gequälten so gewohnt wie Eselgeschrei und Geklingel der Wasserverkäufer, die Prügelstrafe, die fast immer zum Tode führte, eine regelmäßige Einrichtung wie der tägliche Markt. Kam man um Mittag vor der Djenina vorbei, darin der König wohnte, so sah man auf dem Platz die Delinquenten nackt ausgestreckt. Zwei Grüngekleidete hockten einem jeden auf Beinen und Hals, zwei andere prügelten mit schweren Stöcken in genauem Rhythmus auf ihn ein und riefen einander abwechselnd die Anzahl der Schläge zu: hundertfünfzig, zweihundertfünfzig, vierhundert. Dann wurde die blutende und 165 zertrümmerte Masse zur Seite geschleift. Um halb zwei sank auf der großen Moschee die weiße Flagge, dann war Pause für heute.

Seit kurzem regierte in Algier ein neuer König. Der Pascha Ramdan war abberufen worden, und seine Stelle nahm ein italienischer Renegat ein, der einmal Andreta geheißen hatte und sich jetzt Hassan-Veneziano nannte, gewiß einer der fürchterlichsten Menschen des Jahrhunderts. Durch ungeheure Zahlungen an die Würdenträger des Serails in Stambul und an die Frauen des Sultans hatte er seine Berufung durchgesetzt und machte sich nun daran, diese Bestechungsgelder samt Zinsen aus seinem Pachtkönigreich herauszuwirtschaften. Wehe dem Gefangenen, der jetzt noch die Flucht vorbereitete! Neue, langsame, durchdachte Marterung war eingeführt. Zum Abschreckungszweck trat der besondere Geschmack des neuen Machthabers. Hier regierte die kalte, lustvolle, methodische Grausamkeit in Person. Es gab sogar Mauren und Türken genug, die sich offen entsetzten. Das herkömmliche Hängen, Köpfen, Erwürgen, Verbrennen bereitete ihm wenig Genugtuung. Er bevorzugte erlesene Prozeduren, das Pfählen zum Beispiel, wobei dem Delinquenten ein spitzer Stock der Länge nach durch den Körper getrieben wurde und der König seinen Trabanten Wetten darüber anbot, an welcher Stelle des Kopfes die Eisenspitze zum Vorschein kommen werde, durch Auge, Mund oder Wange. Gelegenheit zu dergleichen Belustigungen war stets reichlich vorhanden. Er sah etwa einer 166 Sklavenkolonne bei irgendeiner Arbeit zu, erklärte sich unbefriedigt und befahl kurzerhand, sämtlichen Beteiligten die Ohren vom Kopfe zu schneiden. Befand er sich in humoristischer Laune, so ließ er ihnen die blutigen Muscheln auf die Stirne heften und ließ sie so, bei schrillender Janitscharenmusik, im Kreise um den Platz vor der Djenina traben.

Seine Härte machte übrigens nicht Halt bei den christlichen Sklaven. Er terrorisierte seine Miliz, brachte die Gilde der Reïs durch die bösartigsten Schikanen gegen sich auf, war verhaßt in ganz Nordafrika –- und zugleich bewundert für seine wilde Tapferkeit, die so wenig Grenzen kannte wie seine Bestialität.

Er sah aus wie der Seeräuber des Märchens: hochgewachsen, hager und bleich, mit spärlich sprießendem rotem Bart und glänzenden rotunterlaufenen Augen. Die ihm nahe kamen, behaupteten, es gehe ein Blutgeruch von ihm aus.

Dies war der Mensch, dem der einhändige Sklave Miguel Cervantes Trotz bot, und den er, in gewisser Weise, bezwang.

Zunächst einmal freilich hatte ihn Hassan von seinem Platze bei der Zawia vertrieben. Die Schreibunkundigen fanden ihn nicht mehr. Zu fürchterlich belebt war jetzt der Hinrichtungsplatz vor Bab-el-Wed. Es nützte auch nichts, daß grünes Buschwerk Tor und Mauer verbarg. Immer war Geschrei der Opfer zu hören, man spürte den Dunst von verbranntem Fleisch oder den Verwesungsgeruch der Leichen, die man liegen 167 ließ, unter Verbot der Bestattung. Jedem zur Warnung sichtbar, verfaulten hier die, die kühn und verzweifelt genug gewesen waren, der Hölle zu entfliehen.

Aber dies blieb das Ziel des Cervantes. Das Grauen warf ihn nicht mehr danieder aufs Fieberlager, die Zeit war vorbei. Fliehen wollte auch er, möglichst viele Genossen mit sich in die Freiheit reißen, und draußen in der christlichen Welt zum Ansturm aufrufen gegen die Hölle. 168

 


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