Bruno Frank
Cervantes
Bruno Frank

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Theater

Als Cervantes gegen die zweite Nachmittagsstunde den »Spielhof zum Kreuz« betrat, war das Theater schon voll. Erstaunt, gefesselt, blickte er sich um. Das war etwas völlig anderes als die Jahrmarktsbuden, darin er als Knabe die verschollenen Komödien Ruedas hatte aufführen sehen.

Der Raum war, ganz dem Namen entsprechend, ein richtiger großer gepflasterter Hof, der durch die Hinterwände besonders hoher Häuser gebildet wurde. Die Bühne, um vier Fuß erhöht, nahm die eine Schmalseite ein. Sie war vorn offen und leer. Grob bemalte Vorhänge schlossen sie auf drei Seiten ab und stellten im Hintergrund eine Landschaft mit einem maurischen Schloß, links ein vornehmes Zimmer, rechts einen Garten dar. Eine Versenkung im Boden, mit einer Klappe versehen, repräsentierte den technischen Apparat.

Cervantes stand eingekeilt in eine dichte Masse von Männern, die, schwatzend und lachend und schon ungeduldig zum Teil, das längliche Viereck erfüllten. Ringsum an drei Wänden zogen sich erhöhte Stufensitze entlang. Alle Hinterfenster der Häuser waren Logen. Und Scherze, nicht von der feinsten Art, flogen zum ersten Stockwerk des einen Querhauses hinauf, wo sich, käfigartig vergittert, die Frauengalerie vorwölbte. Ein lichtes Flirren war dort von weißen Krausen, grell geschminkten Mündern, schlagenden Fächern.

Was für eine Menge müßiger Menschen am hellen Nachmittag! Alle schienen sich 222 untereinander zu kennen. Cervantes stand ziemlich einsam, unterm rechten Arm sein dickes Manuskript. Hie und da ging ein Ruck und Stoß durch die Menge, so daß man aufeinander taumelte, jedesmal dann, wenn einer der fliegenden Händler mit Früchten und Gebäck, deren helle Rufe nicht abrissen, sich den Weg zu einem winkenden Kunden bahnte.

Es war eine Komödie angekündigt, deren Titel lautete: »Liebeslist ist nie verlegen«, und als Verfasser war in den handgeschriebenen Anschlagzetteln am Eingang Herr Lope Felix de Vega Carpio genannt und unterstrichen. Nicht von dem Buchhändler allein hatte Miguel in diesen Tagen den Namen gehört. Er sollte ein noch ganz junger Mensch sein, dieser Lope, fruchtbar begabt bis zum Wundersamen, eines Tages hervorgetaucht aus dem Nichts als ein wahrer dramatischer Stern erster Größe.

Der ungeduldige Lärm des Stehpublikums hatte sich auf das Wüsteste verdichtet. Im Diskant und im Baß stieg der Ruf »Anfangen, anfangen!« aus einem hundertstimmigen Johlen und Blöken. Neben Cervantes stand ein ziemlich verwegen und verwahrlost aussehender, stämmiger Bursche, der in geringen Abständen so überschrill auf zwei Fingern pfiff, daß sein Nachbar meinte, das Trommelfell müsse ihm zerreißen. Mit einem Mal aber wandte sich der selbe Mann im blumigsten Kastilianisch an Cervantes und erbot sich, ihm sein Manuskript zu halten, da, wie er sich ausdrückte, »der Herr durch besondere Umstände das Tragen eines Pakets als Last empfinden müsse.« Miguel 223 dankte überschwenglich, wagte aber nicht anzunehmen. Schließlich trug er da seine letzte Hoffnung im Arm... Sie wandten beide ihre volle Aufmerksamkeit der Bühne zu.

Dort hatte, nach einem einleitenden Liedvortrag zu Gitarre und Harfe, und nachdem ein Sprecher im Pagenkostüm die Zuschauer durch eine dick auftragende Lobrede günstig zu stimmen versucht, die Komödie begonnen.

Was in diesen drei Akten vor sich ging, war ein wirbelndes und wirres Versteckspiel aller mit allen, darin in jedem Augenblick jeder die Existenzform tauschte, der Edelmann zum Arzt, zum Stierkämpfer oder zum Müller wurde, das Fräulein zum Zigeunerknaben oder zur Gärtnerin, die Gärtnerin zum Mohren oder Studenten, der Student zum Gespenst, das Gespenst zum buckligen Stummen, bis endlich, nach einer unversieglichen Springflut von Vers und Reim, von Terzinen Quintillen Romanzen Redondillen, durch Dazwischenkunft von Feen Göttern Ministern und Drachen, vier frischverlobte Paare glückatmend dastanden und an der vorhanglosen Rampe ihre heiteren Schlußreime sangen.

Miguel Cervantes erschien das alles als ein recht geschickter und bunter, aber doch auch leerer und etwas alberner Zeitvertreib für die großen Kinder im Parterre, die jede Überraschung und jedes Witzwort mit lärmenden Zurufen begrüßten. Dagegen setzten sofort die Pfiffe und Schmähungen wieder ein, wenn eine der Larven da oben sich in längerer Versrede erging. Das wollten sie nicht, 224 die »erzenen Hörer«, die »Infanteristen«, die »Musketiere«, von denen im Vorspruch mit so schmeichlerischer Komik die Rede gewesen war. Rasende Handlung und Verwandlung wollten sie, und die Zauberklappe im Boden sollte nicht stillstehen. Aber sie hatten wohl Unrecht, die Lärmenden. Gerade in jenen kunstvollen Reden schien Cervantes der eigentliche Wert des Ganzen zu ruhen. Da klangen Strophen auf von einer beseligenden Anmut und Harmonie, rührend, voller Weisheit, wehmütig-heiter, daß ihm klar wurde, dieser Herr Lope sei offenbar doch mehr als ein einfallsreicher Hanswurst.

Es wurde etwas geboten für das billige Eintrittsgeld! Pausen gab es hier nicht. Kaum war nach einem Akt die Bühne frei, so begann auf ihr eine Zwischenkomödie, dazu bestimmt, den Zuschauer nicht Atem schöpfen zu lassen. Es waren ganz primitive, blitzschnell sich abspulende Szenen: die nach dem ersten Akt spielte zwischen einem Sterndeuter, einem Polizisten und zwei Vagabunden und endete damit, daß der Astronom ohne Fernrohr, der Polizist ohne Säbel und Bandelier dastand; die nach dem zweiten machte auf Sinn überhaupt keinen Anspruch, sondern war einfach ein Rüpelspiel, das sich an groben Flüchen und Pöbelwitzen und an einer wüsten Balgerei als Krönung genug sein ließ.

Man hatte gute drei Stunden gestanden, als »Liebeslist ist nie verlegen« mit jenem Chorliedchen an der Rampe schloß. Die Sonne war schon hinunter. Es wurde kühl.

225 Cervantes mit seinem Manuskript hatte sich auf eine der erhöhten Bänke im Hintergrund zurückgezogen und sah zu, wie der dämmernde Spielhof sich leerte. Der Direktor Velazquez, war ihm gesagt worden, hatte irgendwo in dem hohen Häuserviereck auch seine Wohnung.

Aber ihn aufzuspüren, blieb Cervantes erspart. Kaum nämlich hatten die letzten Zuschauer den Corral verlassen, so zeigte sich auf der Bühne, hervorgetreten aus den Vorhängen, eine Gruppe von drei Männern. Zwei von ihnen waren in bürgerlicher Kleidung, der dritte einer der Schauspieler und noch im Kostüm. Er setzte ein Windlicht auf den runden Tisch, der vom letzten Akt her noch dastand. Die beiden Anderen nahmen rechts und links Platz.

Die ganze Länge des Hofes lag zwischen ihnen und Cervantes. In der nun fast völligen Dunkelheit konnte man ihn schwerlich bemerken. Unbeweglich saß er, um kein Aufsehen zu machen. Er war von dem, was er sah und vernahm, sogleich völlig gefesselt.

Nicht der aufrecht stehende Schauspieler in Bürgermeistertracht mit der Kette zog ihn hauptsächlich an, auch nicht der Herr zur Linken, der augenscheinlich der Direktor selbst war, ein schwerer, schlau aussehender Bürger. Er verwandte seine Augen nicht von Herrn Lope Felix de Vega. Der habe, war ihm berichtet worden, im fünften Jahr seines Lebens Lateinisch gelesen und im zwölften Komödien verfaßt. Nun, da er sah, daß diesem Erfolgreichen wirklich kaum der Bart 226 sproßte, schien das nicht mehr so unglaublich. Quecksilberig warf er sich droben auf seinem Stuhle umher, krähte mit einer hellen, metallischen Stimme und lachte ein Lachen, das noch nicht recht fertig war. Aus dem Vorhang im Hintergrund war noch eine Frau zu den Dreien getreten, ein schönes, großes, vollbusiges Frauenzimmer, nicht tugendhaft anzusehen, das schweigend ihrem Gespräch zuhörte.

Bei dem Stück des Abends hielt man sich nicht lange auf. Es handelte sich um die Gestaltung des Spielplans in den kommenden Wochen. Das Bürschchen Don Lope – der Lauscher im Dunkel nahm es mit Beklemmung wahr – schien es für selbstverständlich zu halten, daß ungefähr dieses ganze Repertoire von ihm allein bestritten würde...

Wenn man Hirtenstücke wolle, etwa nach Art der Komödien, die von den Italienern hergestellt würden, damit könne er dienen. Er persönlich halte zwar von dieser Gattung nicht viel, da man die rechte Kraft und den rechten Witz darin nicht zeigen könne, sich auch von der Wirklichkeit allzu weit entfernen müsse, aber auf einen Ausflug in dies Gebiet komme es ihm nicht an. Und er hielt einen Papierstreifen nahe vor das Windlicht und las einige Stücktitel ab, die er notiert hatte: »Die Liebe des Albanio und der Ismenia«, »Belardo rast«, »Das Schäferspiel vom Hyazinth«.

Sehr schöne Titel, unterbrach ihn Velazquez, aber ob man nicht von den Stücken etwas zu sehen bekommen könne?

»Ihr braucht nur zu bestellen, Don Geronimo, 227 das wißt Ihr doch! Ihr gebt mir die Zahl der Rollen an und ein wenig den Charakter des Ganzen, ob Ihr mehr Gefühl wünscht oder mehr Burleske, und in drei Tagen, wenn nötig in zweien, habt Ihr das Stück. Wobei sich das Honorar im Falle besonderer Dringlichkeit von 60 auf 80 Taler erhöht, denn meine Nächte gebe ich nicht gern umsonst her, für die hab' ich bessere Verwendung.« Und er schickte einen ziemlich frechen Blick an der vollen Figur der zuhörenden Dame empor.

Er persönlich, fuhr er offenbar sinnlich inspiriert fort, habe allerdings augenblicklich weit größere Lust, ein paar Amazonenstücke zu schreiben –Dramen, in denen speziell Dona Elena Velazquez Glanzrollen fände, es sei ja ein Jammer, wie wenig Freude sie in letzter Zeit am Auftreten zeige.

Da war der Direktor allerdings völlig der Meinung des Herrn Lope! Er sah nicht ein, worauf eigentlich seine Tochter wartete mit ihrer Ziererei. Vermutlich auf die Jahre, da sie ohne Maske zahnlose Kupplerinnen spielen würde.

Lope parierte galant. Bis dahin seien es immer noch vier oder fünf Jahrzehnte. Jedenfalls: sie habe nur zu befehlen, und augenblicklich präsentiere er ihr auf seinen Knien ein Schauspiel über die berühmte Dame Lucinda, die ihre beleidigte Ehre am König von Arkadien rächt, oder über die schöne Räuberin von Estremadura, die in den Bergen auf ihren Schlössern haust und alle Männer, die dort ihres Pfades ziehen, erst betört und dann ermordet, bis auch ihr Herz das Schicksal ereilt.

228 Sehr beliebt, meinte der Vater, seien neuerdings in Valencia und Sevilla Stücke gewesen, in denen ein Ungläubiger, ein Maure oder ein Türke, die Hauptrolle spiele. Von solch einem Plan habe doch der Herr Verfasser jüngst etwas fallen lassen – oder irre er sich?

Der lebendige junge Herr ließ sich keinen Augenblick bitten. Gut, daß man ihn daran erinnerte! Etwas Wirksameres als das Verbrecherdrama vom Mohren Hamet, das er fix und fertig in seinem Schädel trage, lasse sich allerdings schwerlich erdenken. Und er skizzierte – während dem Namenlosen mit seinem algerischen Manuskript dort hinten vollends der Mut schwand – eine Geschichte vom stolzen und edlen Seeräuber Hamet, der in die Gefangenschaft der Christen gerät, aus wilder Sehnsucht nach seiner verlorenen, dunklen Geliebten furchtbare Greuel verübt, dann entflieht, eingeholt wird, überwältigt, und schließlich durch den Henker ein gottseliges Ende nimmt, nachdem er bereut und sich zum Christentum bekehrt hat. Ein besonders ergreifender Zug, unterstrich der Autor, von dem er sich viel verspreche, werde es sein, wenn gerade jener Spanier ihm als Taufpate diene, dem er in seinem Liebeswahn die schöne Gattin erstochen habe.

Sehr fein, bemerkte Velazquez, verliebt, blutig und fromm, eine überaus glückliche Mischung! Das sei ein Stück, das auf alle Fälle geschrieben werden müsse, und bald. Wenn nun zum Phantastischen noch ein realerer Stoff träte, dann wäre 229 für viele Wochen gesorgt, einer aus jüngster Vergangenheit etwa, national dazu, was ja immer Furore mache, ein Feldzug, ein Sieg...

»Mich braucht Ihr nicht lang zu kitzeln, damit ich lache! Was sagt Ihr zu einer Belagerung von Maastricht?«

»Ausgezeichnet!« riefen seine drei Zuhörer, alle zugleich. Die Belagerung von Maastricht war ein Ereignis vom Vorjahr.

»Ich werde da,« erklärte Lope, »einmal das ganze Heer auf die Bühne bringen – habt keine Angst, Velazquez, Ihr mietet Euch fünfzehn Straßenlümmel für ein paar Maravedis und laßt es hinter der Szene tüchtig krachen, was auch billig ist – die ganze großartige Aktion durch den Herzog von Parma wird aufgerollt, man hört die Soldaten durcheinander fluchen und schreien, spanisch flämisch französisch und welsch, der Herzog nimmt selber die Schanzschaufel in die Hand und greift in die Radspeichen, um die Kanonen vorwärts zu bringen, alles ist Pulverdampf, Eisengeklirr und Staub von den Hufen, und mittendrin, das muß sein, laufen zwei Frauenzimmer herum, eine aus Spanien und eine Flämin, und schleppen Munition, beide in Mannskleidern, beide verliebt, und während die Geschütze donnern, führen sie einen spitzigen, geistreichen Liebeskrieg gegeneinander, wobei die Spanierin – er sah wieder zu dem Busen der reizvollen Elena empor – zuletzt mit der Zunge obsiegt wie der Herzog mit seinen Kanonen.«

Hier wurde, zum ersten Male, der Schauspieler 230 gesprächig. Er war ein großer, bauchiger Mann mit ungemein gutmütigen Zügen und einer ziemlich vertrunkenen Baßstimme. Das leuchte ihm ein, diese Belagerung von Maastricht! Das werde nun wirklich einmal ein Drama nach seinem Herzen, hier sei auch mit der Rolle des todesmutigen und genialen Herzogs Alexander endlich die ideale Aufgabe für ihn gefunden...

Alle lachten. Er entrüstete sich. »Laß gut sein, Gutierrez,« erklärte der Direktor, »Schauspieler sind verrückte Menschen, das weiß ich am besten. Aber so verrückt doch nicht! Was? den schlanken, feinen, scharfen Herzog willst Du spielen, den jeder Mensch in Madrid von Angesicht oder von den illustrierten Flugblättern her kennt! Die Parterre-Infanterie reißt mir ja die Bühne in Fetzen. Was meinen Sie, Lope?«

»Ich will das keineswegs sagen! Herr Gutierrez verfügt über ein so eindrucksvolles Talent, daß es physische Unterschiede vergessen macht. Aber schade wär's, wenn er den Prinzen spielte!«

»Schade?«fragte Gutierrez stirnrunzelnd, »wieso denn schade?«

»Weil das jeder kann. Ein Held, ein hübscher, siegreicher Prinz, das ist was für fade Puppen. Für Euch hätt' ich da etwas anderes...« Und er entwarf mit farbiger Beredsamkeit eine Figur, die ihm ganz offenbar erst in diesem Augenblick entstand: einen alten knurrigen Kriegsoberst der Spanier, bauernschlauen Abgott des Lagers, voll von grobem Humor, den schließlich seine Soldaten, als Fleisch von ihrem Fleisch, in seinen 231 Gichtstiefeln im Triumph über das Schlachtfeld tragen...

Es war kalt geworden. Dort oben trennte man sich.

Leute kamen und nahmen die Vorhänge ab, so daß die nackte fugenlose Mauer erschien, hinter der vermutlich Direktor Velazquez wohnte. Dann trugen sie Tisch, Stühle und Windlicht hinweg.

Cervantes, das Manuskript »Handel und Wandel in Algier« auf seinen Knien, blieb allein im dunkeln Spielhof zurück. Er saß noch eine Weile. Der Gedanke, dem Direktor sein Stück vorzulegen, tauchte garnicht mehr auf. Er saß vor einer nackten, hohen, fugenlosen Mauer... Ihm blieb nur der König. Der König war in Portugal.

In der elterlichen Wohnung schien man zu schlafen. Er hatte sich sein Lager in der Medizinkammer des Vaters gerichtet. Als er sich ausstreckte, spürte er unter der Kopfrolle etwas Hartes. Es waren acht Goldstücke, in ein Stückchen rotes Tuch gewickelt. Nur von Andrea konnte das kommen. Es war die Reise nach Portugal.

Er errötete heftig, obwohl er allein war, küßte das Tuch und löschte sein Licht. 232

 


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