Bruno Frank
Cervantes
Bruno Frank

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Im Schwarzen Hut

Sie heilten ihm die Brust und die Hand in den Baracken von Messina und Reggio. An der Brust wußten die Chirurgen wenig zu tun, die heilte wirklich. Aber von Cervantes' linker Hand blieb unter den Messern der Pfuscher nur ein unbeweglicher und fühlloser Stumpf.

Keine Möglichkeit gab es, Schmerz zu betäuben. Vor schlimmen Operationen machte man den Patienten betrunken und schwächte so sein Bewußtsein. Cervantes verschmähte das, er sah zu, wie die Messer in seinem Fleische wühlten. Es war ein Wunder, daß er hernach vom Starrkrampf verschont blieb. Die Kameraden um ihn starben wie die Fliegen im Herbst.

Monate dauerte die Rekonvaleszenz. Hinter dem Spital in Reggio lag ein kleiner Orangengarten, da saß er in der Sonne und las. Der Seelsorger des Spitals, ein Jesuit, hatte ihm einen Plutarch und einen Thukydides geborgt, beide in lateinischer Übersetzung; er erging sich in seinem Element, unter Brüdern. Der Tag der Schlacht hatte mit gewaltigen Griffen an seinem Innern geformt, nie würde jenes Fieber wiederkehren, dem er sich auftaumelnd damals entrissen hatte. Seine Seele war ruhig und stark, er war dem Tod kämpfend so nahe gewesen, hatte ihn so hundertfach neben sich wüten sehen, daß er ihm vertraut war und ihn nicht mehr schreckte. Erstaunlich war es, daß er noch lebte, ein eigentlich unerwartetes Geschenk; eine feste, gleichmäßige Heiterkeit hatte er als Lebensmitgift aus dem trunkenen Gemetzel davongetragen. Jedermann spürte das.

99 Der Hauptmann Urbina war mehrmals an seinem Lager erschienen und hatte ihm, im Auftrag des Feldherrn, Ehrengaben an Geld überbracht, einmal fünfzehn Dukaten, einmal zwanzig, dann wieder zehn. Cervantes hatte ihn im Verdacht, daß Don Juan von diesen Zuwendungen nichts wußte. Es stellte sich heraus, daß Urbina, jüngster in den Kriegsdienst verschlagener Sohn eines gelehrten und kultivierten Hauses, eine Zuneigung zu ihm gefaßt hatte. Auch vor der Schlacht hatte er ihn ja bewahren wollen, und die militärische Selbstüberwindung des Kranken hatte ihm Eindruck gemacht. »Ich habe es dem Feldherrn erzählt,« berichtete er, »ich habe es ihm mehrmals erzählt. Allernächstens kommt er und besucht Euch.« Aber Don Juan kam nicht. Er war glänzender beschäftigt. »Er wird Euch einen Empfehlungsbrief schreiben,« sagte Urbina, »er hat es mir zugesagt. Ich habe Eure Taten aufgezählt.«

»Was für Taten denn, Don Diego?«

»Redet nicht Unsinn! Wir wissen es beide. Der Empfehlungsbrief geht an den König. Mit dem reist Ihr nach Spanien zurück, der König macht Euch zum Hauptmann und gibt Euch eine Kompagnie.«

Das freilich wäre das Glück gewesen. Hauptmannsstellen waren höchst einträglich. Vater, Mutter, Geschwister hätten zu leben gehabt.

Die Nachrichten von Hause klangen vage und wenig befriedigend. Zwar die eine der Schwestern war für immer versorgt: sie hatte den Schleier 100 genommen. Miguel versuchte, sie sich vorzustellen in ihrer Barfüßerinnen-Tracht, aber ihr Gesicht verschwamm ihm und entschwand. Wo Bruder Rodrigo sich kriegerisch umhertrieb, wußte er nicht. Den Lebenswandel der älteren Schwester Andrea umgaben Gerüchte; sie schien mit wechselnden Männern zu leben, nicht mehr im Elternhaus. Auch gab es kein Elternhaus mehr. Der kleine Besitz in Alcala war verkauft, schuldenhalber versteigert, wie Miguel vermutete. Nachricht kam aus Madrid, aus Sevilla, aus Valladolid. Der Vater, der in seiner Jugend einmal Rechtsstudien getrieben hatte, schien als eine Art Konsulent oder Winkeladvokat unstet sein Glück zu versuchen. Leicht fallen mochte es ihm nicht, denn jeder seiner Briefe klagte über zunehmende Taubheit. Die Mutter schwieg ganz. Sein Unvermögen, den alternden Leuten einen Abend ohne Sorgen zu schaffen, quälte Cervantes.

Endlich entließ man ihn als gesundet. Seltsam, doch keineswegs abstoßend anzuschauen, hing ihm der Handstumpf im Ärmel. Er sah aus wie ein Stück brauner Fels.

Welch ein Segen, daß es die Linke war! Man band sich eben den Schild am Arme fest... Frische Waffentaten gegen den Türken schienen in Vorbereitung. Vielleicht konnte er in neuer, glänzender Aktion das Glück an der Stirnlocke fassen.

Aber die Zeit des kriegerischen Gelingens war dahin, für ihn und für Don Juan. Planlos und ohne Stern wurden die Unternehmungen im Mittelmeer weitergeführt, verzettelt, mit immer 101 unzulänglichen Mitteln. Mehrmals hielt man die Faust zum Schlag schon erhoben und ließ sie nicht niedersausen. Dann wieder schlug man wohl zu, aber ein zweiter Streich war vonnöten, der blieb aus, und kaum verletzt erhob sich der Gegner. Längst gab es wieder eine mohammedanische Flotte. Sie gefangen zu nehmen und abzutun war Gelegenheit im Hafen von Navarino; aber Uneinigkeit lähmte jeden Entschluß, und unverrichteter Sache ging die Armada der Christen zurück.

Unruhig trieb den Feldherrn sein Ehrgeiz umher. Tunis eroberte er. Er eroberte es für sich, als sein Königreich, und ließ durch den Vatikan Philipp seinen Wunsch unterbreiten. Philipp erschrak. Selbst unkriegerisch, sah er mit Argwohn auf den Stürmer von halbechter Geburt. Vorsorglich wies er zunächst seine Kanzleien an, Don Juan d'Austria in der Korrespondenz ja nicht mit »Hoheit«, nur mit dem Exzellenztitel anzureden. Dann entzog er ihm sacht seine Unterstützung an Geld und Reserven. Im nächsten Jahr ging Tunis wieder verloren, und diesmal auf immer.

Don Juan warf seine Blicke über die Staaten. Er wollte herrschen. Bei der Republik Venedig hatte er angesucht, ihm für geleistete Dienste einen Teil ihres Inselbesitzes als souveränes Fürstentum anzuvertrauen. Die Antwort war, daß Venedig mit der Pforte Frieden schloß. Die Türken erstarkten, übermütig kontrollierten die berberischen Raubstaaten weiter das Mittelmeer. Ihre Korsaren streiften an allen Küsten entlang, brandschatzten die Seestädte, überfielen die Schiffe, führten 102 Menschen und Güter als gute Prise in ihre afrikanischen Nester hinweg.

Für die Truppen des Königs war selten der Sold da. Als überlästige Gäste lagen sie in den schönen Städten Italiens. War eben keine neue Unternehmung im Gang, so wurden die Regimentsverbände gelockert und die Mannschaften sich selbst überlassen. Truppweis durchzogen sie die Halbinsel, kühn anzusehen, stets das Wort Ehre im Munde, aber prahlerisch auch, ohne Achtung für Leben und Eigentum, düster und ausschweifend. Wahrhaftig, man liebte sie nicht.

Es kam ein Tag, da König Philipp seinen Generalissimus aus dem Südmeer zurückrief. In unklaren Ausdrücken wurden irgendwelche Aufgaben in der Lombardei in Aussicht genommen. Der Zeitpunkt war offen gelassen, als Sammelplatz der Truppen Genua bestimmt. Das Regiment Figueroa, dem Cervantes nun zugeteilt war, gehörte zu ihnen.

Ihm fehlte jede Lust, mit dem Haufen zu ziehen; ohne viel Beschwer erlangte er die Erlaubnis, sich allein von Neapel nach Genua durchzuschlagen. Jedes Maul, das nicht gestopft werden mußte, bedeutete eine Erleichterung für die bedrängte Heeresverwaltung.

Rasch war ein Pferd aufgetrieben. Ein neapolitanischer Ölhändler, der nach Rom wollte, beglückwünschte sich, für den unsichern Weg militärische Begleitung zu finden. Auf einem guten Rappen trabte Cervantes neben und hinter ihm drein die alte Via Appia. Am vierten Mittag 103 durchquerte er auf hohem Damm den bläulichen Dunst der Pontinischen Sümpfe. Zur Rechten und Linken hoben aus dem giftigen Gras Büffel das zottige Haupt. Aber als es gegen den Abend ging, standen vor ihm in der goldenen Sommerluft die Hügel und Kuppeln von Rom.

Nachdem er dem Kaufmann sein Tier zurückgegeben, war noch die ganze Stadt zu durcheilen. Ihm klopfte das Herz. Jetzt erst wurde es ihm bewußt, wie sehr er sich freute, den Kanonikus Fumagalli wiederzusehen und den gütigen Aquaviva. Wahrscheinlich hatte er es nur darum durchgesetzt, einzeln auf dem Landwege zu reisen.

Alle Tore am Palast standen offen. Niemand kümmerte sich um den fremden Kriegsmann, niemand befragte ihn. Unter dem Papst, der jetzt hier residierte, schien Verkehrsfreiheit zu herrschen im Vatikan. Er stülpte sich den Eisenhut verwegen ins Gesicht, schob seinen Dolch im Gürtel nach vorn und stürmte die bekannten Treppen empor, um dem streitbaren Alten recht militärisch in die Arme zu eilen. Kleriker, die neben ihm herniederstiegen, blickten sich um und zuckten die Achseln.

Da war die Tür. Mit einem Ruck stieß er sie auf und stand still. Von seinem Betschemel erhob sich mit Indignation ein fremder Priester, jung, spitznäsig und pergamenten, und fragte gemessen nach dem Begehr. Cervantes stammelte. Sein Blick ging über das Zimmer. Noch hingen die Hannibalsteppiche an ihrer Stelle.

Der Priester wußte nichts. Vor ihm hatte ein 104 Beamter der Index-Kongregation in diesen Wänden gehaust. Nicht einmal den Namen des Kanonikus hatte er jemals gehört.

Dann stand Cervantes vor dem Appartement Aquavivas. Er pochte schüchtern ans Vorzimmer. Niemand rief. Drinnen war alles leer, die Türen, die von einem Zimmer zum andern führten, standen offen. Es herrschte eine lebenslose Ordnung.

Ein Hauswart gab dem fremden Soldaten endlich Bescheid. Niemand lebte mehr. Bald nach dem strengen Papst war der Kanonikus Fumagalli gestorben, vor zehn Tagen aber der Kardinal. Im Lateran war sein Grab.

Der Pförtner suchte in seinem Pult. »Ich muß noch das Blättchen haben, Herr Soldat,« sagte er freundlich, »das sie nach seinem Absterben verteilt haben. Aber Ihr werdet es auch nicht lesen können, es ist lateinisch.«

»Gebt immerhin,« sagte Cervantes.

»Vix credi potest,« las er beim Öllämpchen mit verschleierten Augen, »quanto cum moerore totius urbis decesserit, tantam sibi benevolentiam et gratiam ab omnibus comparaverit, morum suavitate ac vitae innocentia.«

»Sanft war er und voller Unschuld, das ist wahr,« sagte er dann und reichte dem Mann das Seine zurück. »Die Seligkeit ist ihm gewiß.«

»Amen,« sagte der Pförtner.

Er schritt durch Galerien und dunkelnde Höfe und suchte den Turm, darin er gewohnt hatte. Er sah einen Stumpf vor sich. Sie rissen ihn ab. Lange stand er davor. In der sinkenden Nacht glich der 105 Stumpf einer riesigen, abgebrochenen Säule auf einem Grabmal der Alten.

Obgleich heute nirgends der Ausgang verwehrt schien, suchte er sich durch zu der kleinen Porta Posterula, die in lehmiges Ödland hinausführte. Er umschritt den Palastkomplex, fand Zäune und Gräben auf seinem Weg und gelangte durch die schweigenden Gassen des Borgo zur Engelsbrücke... In der nächsten Herberge warf er sich, ohne Licht anzuzünden, in seiner Kammer aufs Bett.

Am nächsten Morgen ganz früh zog er weiter, zu Fuß gegen Norden. Leicht war sein Gepäck. Einen kleinen Ledersack hatte er sich über die Schulter gehängt, daran baumelte auch sein Helm, fast anzusehen wie ein Kochtopf. Hiebschwert und Schild hatte er bei der Bagage zurückgelassen und trug nur Pistole und Dolch im Gürtel. Ein geknotetes Tuch schützte ihm das Haupt vor der Sonne, ein geschnittenes Holz schwang er als Wanderstab.

Nicht schnell kam er vorwärts. Er sah Viterbo mit seinen schönen Brunnen, Bolsenas Felsen im See, Siena das ernste und prächtige. Am zehnten Tag stand er im Toskanischen an einem Kreuzweg. Dort gleich zur Rechten lag Florenz, es war keine fünf Stunden hinüber. Doch es war nicht sein Weg. Er rastete ein wenig unter einer weitschattenden Platane, die dastand, und bedachte sich. Dann nahm er Sack und Stab wieder auf, ließ sich über den Arno setzen und wandte sich weiter schräg gegen das Meer.

106 Schön und friedlich war die Gegend, die sich da hinbreitete im sinkenden Licht. Sanfte Hügel überall, bedeckt mit Kastanie und Maulbeer, Reben an jedem Abhang, die Ebene angebaut wie ein Garten. Sorglos weitum verstreut Bauernhöfe und Villen, man sah es dem Lande an, daß hier seit Langem kein Krieg gewüstet hatte. Die Straße zog hügelan hügelab, eine Mondnacht war da, der einsam wandernde Soldat wurde müde. Da stand er ganz unvermutet vor Mauer und Tor. Über die Zinnen nickte ein Wald; kein Haus, kein Turm war drüben zu sehen. Vor dem Tor, im Schein einer Fackel, saßen Soldaten um einen Tisch und würfelten. Es waren deutsche Landsknechte, Cervantes sah's an der Tracht.

Gleichmütig wiesen sie ihn ab und deuteten zur Erklärung an seinem Aufzug hinunter. Er begriff, daß hier für fremde Bewaffnete kein Einlaß war. Verständigung durch Worte war schwierig. Da nahm er lachend seine Pistole vom Gürtel und zielte mit gespielt hilfloser Geste auf die Stadtmauer. Sie verstanden, lachten auch und ließen ihn ein.

Der innere Wall war dicht mit Bäumen bepflanzt, dies war der Wald, der dem Nahenden die Türme verdeckte. Durch enge Straßen, sauber gepflastert, schritt er voran. Niemand war unterwegs. Er überquerte ein kanalartiges Wasser und stand schon wieder am Stadtrand.

In einem Häuschen, das etwas abgesondert lag, schimmerte zu ebener Erde durch die geschlossenen Läden noch Licht. Über der Tür ragte 107 wagrecht ein geschmiedeter Arm mit einem Hut als Wirtszeichen, dessen schwarzer, frisch erneuerter Lack im Mondschein glänzte.

Er pochte. Beim vierten Mal erst ward aufgetan, und eine Kerze in der Hand stand die Wirtin vor ihm, ein junges, rundliches Weibchen mit erschrockenem Gesicht. Er bat um Quartier.

»So spät, Herr Soldat,« sagte sie ängstlich.

»Eben! So spät. Da muß man schlafen gehen.«

Noch immer zaudernd ließ sie ihn ein und geleitete ihn die Stiege hinauf. »Wollt Ihr mir noch ein Brot heraufschicken und ein Glas Wein?« sagte er in der Kammer.

Sie nickte. »Ihr seid ein Spanier?« fragte sie unter der Tür.

»Die habt Ihr nicht gern, will mir scheinen.«

»Wir kennen sie wenig. Hier kommen keine her. Einer war hier im vergangenen Jahr. Der war aber ganz anders.«

»Wie denn?«

»Gewaltig.«

Er hatte weiterziehen wollen am Morgen. Aber er blieb.

Im saubern und weichen Bett hatte er gut geschlafen wie lange nicht. In keiner anderen Herberge am Weg hatte es Fenster aus Glas gegeben und nirgends ein Waschgefäß.

Wie er hinunter kam, bemerkte er, daß der »Schwarze Hut« sich fast an die Stadtmauer lehnte. Nur ein Gärtchen trennte das Haus von dem baumbestandenen Innenwall. Zwei Steintische, eingerammt, mit steinernen Bänken, 108 standen da. Cervantes bekam seine Morgensuppe.

»Da seid Ihr aber nahe am Feind,« sagte er zur Wirtin, die ihm gegenüber saß. »Wenn der kommt, springt er Euch gleich in den Garten.«

»Oh, zu uns kommen sie nicht. Uns schützt der Kaiser in Wien.«

»Wollen's hoffen!«

»Wir haben auch unsere Freiheiten,« sagte sie stolz, »nicht einmal die Inquisition gibt es bei uns.

Das ummauerte Örtchen, darin sich Cervantes befand, war die Stadt Lucca. Ein friedliches Gemeinwesen, das sich selber verwaltete, eine Art Republik oder ein Herzogtum ohne Herzog, unter dem Protektorat des Römischen Kaisers. Seine Landsknechte hatten vorm Tor unter der Fackel gewürfelt.

Zwei Kinder waren herangekommen, ein Mädchen von acht oder neun und ein Bübchen, das zwei Jahre jünger sein konnte. Es waren hübsche, saubere Geschöpfe, und sie sahen der Hausfrau ähnlich.

»Denen sieht man's an, wer sie an der Brust gehabt hat,« sagte Cervantes, »die könnt Ihr nicht verleugnen.«

»Und doch irrt Ihr Euch, Herr Soldat. Bloß der Kleine ist meiner. Das Mädchen« – sie neigte sich vor und flüsterte – »hat meiner Schwester gehört, drüben in Massa, die ist seit vier Jahren tot.«

»Oh!«

»Die Besten müssen immer am frühesten fort. So einen guten Mann habe ich gehabt...«

109 »Ihr seid schon Witwe! So jung.«

»Mit siebzehn hab ich geheiratet. Er hat den Kleinen garnicht mehr gesehen. Jetzt bin ich vierundzwanzig. Da ist das Leben schon aus.« Sie seufzte beschaulich.

»Freilich, freilich. Mit vierundzwanzig – was soll da noch kommen!«

Sie lächelte unbestimmt. Etwas ungemein Gutmütiges, Zutrauliches ging von ihrer ganzen kleinen Person aus. Jetzt schon am Morgen war sie sorgfältig angezogen und hatte das braunrötliche, ein wenig krause Haar adrett aufgesteckt.

Der kleine Junge war auf die Bank geklettert. Er stand neben der Mutter und schaute in Cervantes' linken Ärmel hinein.

»Was hast Du denn da,« fragte er, angezogen und furchtsam zugleich, und deutete auf den felsigen Stumpf, »gar keine Hand, oder was ist's?«

Die Mutter war flammendrot. »So fragt man doch nicht, Domenico!« rief sie zornig.

»Laßt ihn doch... Da sind Deine zwei Pfötchen eben schöner,« sagte er zu dem Kind, und umschloß sie ihm sanft mit seiner Rechten.

»Was mögt Ihr alles erlebt haben! Ihr müßt uns erzählen.«

»Blutige Geschichten – was wollt Ihr damit!«

»Vielleicht heute Abend. Ihr seid doch noch da?«

»Ich werd' schon noch da sein,« sagte Cervantes.

Er war auch am dritten und am fünften Tage noch da. Ein leichtes, heiteres, friedevoll geschäftiges Leben zog ihn in seinen Zauber.

110 »Ihr habt viel Vertrauen, Frau Wirtin,« sagte er einmal. »Woher wißt Ihr, daß ich's bezahlen kann.«

»Wenn Ihr kein Geld mehr habt, nehm' ich Euch Dolch und Pistole.«

»Dann kann ich ja garnicht mehr fort!«

»Dann bleibt Ihr eben,« sagte sie leise.

Übrigens war das Leben billig im »Schwarzen Hut«. Ein Glas von dem leichten, erfrischenden Wein kostete bloß einen Soldo. Deshalb ging das Geschäft auch vortrefflich, immer war die Schankstube voller Menschen. Aber am Abend, wenn es stiller wurde, saßen die Nachbarn lauschend um Cervantes herum.

»Das nenn' ich erzählen, Frau Angelina,« sagte der Wagner Dinucci, als Cervantes gerade nicht dabei war. »Man greift alles mit Händen, ja man riecht es, wenn Ihr wißt, was ich damit sagen will. Das ist was anders als der Spanier, der im vorigen Jahr hier war...«

»Erinnert mich bloß nicht an den, Meister Dinucci! Mir tut noch mein Geld leid. Jeden Tag wollt' er ein Hähnchen, manchmal auch zwei, und dann war er fort und ließ mir ein Paar zerrissene Strümpfe im Kasten zu aller Bezahlung.«

»Ich seh ihn noch sitzen in Eurem Gärtchen mit seinen Bändern und Ketten. Wenn man dem glaubte, so gab's keine Stadt bis nach Peru, die er nicht kannte, in allen Schlachten war er dabeigewesen und hatte mehr Ungläubige umgebracht mit eigener Hand, als in ganz Afrika wohnen. Ich Ich Ich, ging das immer bei ihm, und es klang als 111 wollte er sagen: Ich Euer König. Habt Ihr den Don Miguel schon einmal Ich sagen hören? Mir scheint, er weiß garnicht, wie das Wort auf Italienisch heißt.«

»Trinkt das Glas auf sein Wohl,« sagte Angelina dankbar, »es kostet nichts.« Und sie goß ihm ein bis zum Rand.

Es konnte den harmlosen Leutchen nicht bunt und wild genug zugehen in Cervantes' Geschichten. Nie kam eine gedruckte Nachricht zu ihnen. Vor allem die algerischen Seeräuber beschäftigten ihre Phantasie. Welch ein Glück, daß die benachbarte Küste unwirtlich und arm war! So war hier noch keiner gewesen.

Cervantes mußte von ihren Schiffen erzählen, die klein und leicht waren, mit gewaltigen Segeln. Blies kein Wind, so ruderten sie wie der Blitz. Die Sklaven am Ruder fielen tot um vor Ermattung und wurden ins Wasser geworfen. Nachts fuhren sie ganz ohne Licht und Geräusch und waren plötzlich da wie der Tod. Ungeheure Schätze brachten sie heim. Auf ihren Galioten und Felucken war der Mastbaum hohl und inwendig ganz voller Gold: Zechinen und Dublonen. Das war lauter gemünztes Christenblut. Cervantes kannte sie alle bei Namen, die hochberühmt und gefürchtet die Meere durchschnitten. Da war Djafer aus Dieppe, Hassan-Veneziano, Dali-Mami. Und der Berühmteste von allen war Chaireddin Barbarossa gewesen, der war Beglerbey und Herr über Afrika.

Aber Fröhlichkeit gab es und unendliches 112 Lachen, wenn er die Janitscharen beschrieb, des Sultans Gardesoldaten, grausam tapfere Leute, nur sonderbar an Sitten und Tracht.

»Sie wohnen bei einander in ihren Kasernen, die fast sind wie Klöster. Keine Frau darf je zu ihnen hinein. Sie kochen sich selber und führen eine gemeinsame Wirtschaft. Das Essen muß ihnen das Wichtigste sein, denn nach der Küche heißen bei ihnen Würden und Rang. Oberkoch heißt einer, der bei uns ein Feldoberst wäre, da gibts Fleischröster, Bratenvorschneider, Brotbäcker und Küchenjungen. Kochmützen haben sie auf von verschiedener Gestalt, die sind mit Reiherfedern geschmückt. Und ihre Fahne – die ist ein Suppentopf.«

»Ein Suppentopf,« riefen sie alle, »ein richtiger, wirklicher Suppentopf?« Die Kinder, die nicht hatten zu Bett gehen wollen, schrieen am meisten, sie kletterten auf seine Knie.

Es war ein paar Stunden darauf in der Kammer. Die Kerze brannte noch. Das Fenster stand offen, man hörte den Brunnen. Angelina war eingeschlafen, ihr rechter Arm, sanft gepolstert, hing mit offener Hand über den Rand der schmalen Bettstatt. Aus ihrem krausen Haar kam ein Hauch von Orangenwasser, dem ganz schwach und nicht unangenehm ein kleiner Duft nach Gebratenem beigemischt war. Drüben auf dem Tisch, ein wenig zu nahe der Kante, sah Cervantes seinen Helm liegen, übermütig hatte Angelina ihn zuvor aufprobiert: den Eisenhut auf den rötlichen Locken, mit nackter junger Brust, hatte sie 113 ausgesehen wie eine ländliche Halbgöttin auf einer gemalten Allegorie. Cervantes lächelte und zog ihr sacht das Kissen zurecht.

Zwei Wochen war er nun hier. »Wenn wir also dann heiraten,« hatte sie heute zum ersten Male gesagt, ganz ohne Aufhebens und so nebenbei, als verstünde sich diese Absicht von selbst.

Und war es nicht wirklich das Beste? Ein vertrauender, freundlicher Mensch bot sich ihm an, häusliche Zufriedenheit, bescheidener Wohlstand. Ein Gastwirt in Lucca, Bürger unter Bürgern in einem kleinen Staatswesen, das sich duckte unter den Stürmen der Zeit – gewiß, mit anderen Träumen im Herzen war er ausgezogen. Aber sechs Jahre trieb es ihn nun umher, und er war nicht einmal so weit, denen zuhause aus ihren Sorgen zu helfen. Kirche, Meer oder Königshaus, – er gedachte der glückverheißenden Dreiheit. An ihm schien der Spruch sich nicht zu bewähren. Als Soldat war er nicht weitergekommen. Don Juans Brief an den König, den der gute Urbina verheißen, er kam nicht. Er würde auch niemals kommen. Und ohne einen solchen Protektor waren die militärischen Aussichten gar zu gering. Um im üblichen Turnus Hauptmann zu werden, mußte man zehn Jahre lang als Fähnrich gedient haben; und er war noch nicht einmal Fähnrich. Auch von Dichterruhm hatte er einmal geträumt. Er lächelte nachdenklich. Leicht und gefällig waren ihm die Strophen aus der Feder geströmt, und Meister Hoyos war voller Lob. Das lag weit dahinten. Jeder junge Herr in Spanien dichtete so. 114 Da wäre es in der Tat noch klüger gewesen, sich die Tonsur scheren zu lassen und auf eine Pfründe zu hoffen. Aber alle waren sie tot in Rom. Das war auch vertan und vergessen.

Er löschte die Kerze mit seinem unempfindlichen Handstumpf und schlief ein neben Angelina. Er träumte selten. Heute träumte er. Er stand vor seinem Vatikansturm in Rom, Gewölk hing niedrig, Donner rollte, blaue Blitze durchleuchteten die Nacht. Der Turm, überhängend schon, stürzte mit gewaltigem Krachen, Staub und Trümmerwerk wirbelte. Er aber stand aufrecht im Steinschlag. Und es hallten die Worte aus übermenschlichem Mund, Fumagallis Spruch: Si fractus illabatur orbis – Und wenn das Erdenrund zusammenkracht, so treffen einen Unerschrockenen die Trümmer!

Er saß aufrecht im Bett. Die Dämmerung war schon da. Die Eisenhaube lag am Boden und war ein Stück herangerollt bis zur Bettstatt. Auch Angelina war wach, sie faßte nach seinem Arm. »Mir hat geträumt, sie schießen Dich tot,« sagte sie mit erschrockenen Augen.

»Der Helm ist heruntergefallen. Schlaf noch ein Weilchen!«

Zwei Stunden später stand er reisefertig vor ihr im Garten. »Was tust Du mit einem Krüppel und bettelarmen Soldaten,« sagte er. »Etwas Besseres verdienst Du und wirst es auch finden.«

Sie klammerte sich an ihn, sie weinte laut, unbekümmert, ob man es sähe, umschlang sie ihn und küßte ihm Brust und Mund. Er machte den 115 Abschied kurz. Er sah sich nicht um. Er schritt davon durch das nördliche Tor, das ganz nahe lag.

Draußen erst machte er Halt. Aber schon war nichts mehr zu sehen, kein Haus, keine Kirche. Die hohen, dichten Bäume des inneren Walls verdeckten die Stadt. Vor dem Tor saßen Landsknechte um eine Trommel und würfelten, schon jetzt in der Frühe.

Kräftig wanderte er hin im Augustmorgen und gewann das Meer. Am vierten Tag konnte er in Genua sein, bei seinem Regimente.

Aber als er am zweiten den Hafen Spezia hinter sich hatte und auf einer geraden und baumlosen Landstraße ausschritt, sah er in der Ferne einen Heerhaufen ihm entgegenmarschieren. Als sie näherrückten, erkannte er spanische Tracht, gleich auch schon das Fähnlein, das der Vorderste trug: es waren seine Leute.

Er wechselte Gruß und kurze Fragen. Aus der lombardischen Aktion war nichts geworden, sie zogen auf dem Landweg zurück nach Neapel. Verdrießlich war es, dies plan- und nutzlose Hin und Her. Er reihte sich ein und zog mit. Die Hintersten begannen ein frommes Marschlied zu Ehren der Jungfrau, aber bei der zweiten Strophe wußte keiner recht weiter, und sie verstummten. Es ging gegen Mittag, beizender Staub wirbelte auf. Cervantes hustete, er wechselte seinen Platz und reihte sich vorn ein. Nun marschierte er neben der Fahne.

Der sie trug, war ein großgewachsener, breiter Mensch, gut einen Kopf höher als Cervantes. 116 Wortlos schritt er neben dem her. Auf einmal fühlte er sich mächtig umschlungen und angehalten. Der ganze Zug kam ins Stocken.

»Wahrhaftig, er ist's,« rief der Fahnenträger, und sein Baß bebte vor Wonne.

»Wer soll ich sein, bei allen Türkenschweinen!« rief Cervantes wütend und machte sich frei. Da erkannte er seinen Bruder Rodrigo. 117

 


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