Bruno Frank
Cervantes
Bruno Frank

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Drei Verräter

Die Stadt Oran war von Spanien besetzt. Zwölf Tagereisen waren es dorthin. Aber für einen Flüchtling verbot sich diese kürzeste Strecke am Meere entlang, die genau überwacht war. Auf weiten Umwegen, tief nach Süden hinuntertauchend und dann zurückstrebend zur Küste, konnte ein Tollkühner hoffen, in drei Wochen Oran zu erreichen. Doch es war noch keinem geglückt.

Pfade gab es hier kaum, Felsengebirg nur, verbrannte Öden und Räuberstämme. Ein Führer war unerläßlich.

Gegen das Frühjahr hin hatte Cervantes einen gefunden. Es war ein abenteuerliches Subjekt portugiesisch-maurischer Mischung, seit zwanzig Jahren unterwegs hier, in den Königreichen Fez und Tlemcen so gut zuhause wie in den Oasen des algerischen Südens; mager und flink, nicht weiter hübsch anzusehen mit seiner schmutzigen Gesichtsfarbe, die an vertieften Stellen ins Grünliche spielte, und einer zu kurzen Nase, die ein brutaler Daumen höhnisch zur Seite gedreht zu haben schien; nicht jung mehr im übrigen. Die gefahrvolle Führung der elf Gefangenen sollte ein letztes gewinnbringendes Unternehmen für ihn sein, dann gab er »das Ganze« auf– man wußte nicht genau was. Eingenäht in seinen Haïk trug er zehn Schuldverschreibungen mit sich: zehn, denn Cervantes, der sich mönchsarm wußte, hatte sich zu nichts verpflichtet, wohl aber Rodrigo heimlich für sie beide. Mit seiner Riesenfigur den ganzen Flüchtlingstrupp überragend, stapfte und 169 stolperte er neben dem geliebten Bruder über Haldengeröll und durch trockene Flußbetten frohherzig nach Südwesten.

Vom vierten Tage an wurde die Anstrengung für die karg genährten Körper empfindlich. Felsenauf felsenab unter einer Sonne, die schon sommerhaft sengte, nirgends Schatten, keine Siedlung, die Erfrischung oder Obdach verhieß, eine Lehmhöhle mitunter, vor der dickbäuchige Kinder aus entzündeten Augen den Zwölfen nachglotzten, plötzlich einmal, hinter einer Felsnase statuarisch auftauchend, ein Gewaffneter auf dem Pferde, buntlappig gekleidet und finster.

Am sechsten Tage ging ihnen der Mundvorrat aus. In einer Niederung sahen sie vor ein paar Hütten Schafe weiden. Weiber hüteten sie. Man versuchte, eines der Tiere zu erhandeln; aber keine Einigung war möglich, Geld vielleicht unbekannt, jedenfalls unbegehrt. So nahmen sie den Hammel ohne Bezahlung. Alle freuten sich schon auf das Mahl.

Sie hielten es gegen den Abend am Rande der großen Meddada. Gleichmäßig gewachsen, in stolzem Abstand, bedeckten die Riesenzedern weithin den Abhang des Höhenzugs. In einer gewissen Höhe breitete ihr Nadelgeäst sich wagrecht aus, so daß in Domeshöhe eine ununterbrochene Decke entstand.

»Wo sind wir?« fragte Cervantes den Mageren, »was war das für ein Ort, um den Du uns heute herumgeführt hast, in weitem Bogen und geheimnisvoll?«

170 Der Führer schielte über seine schiefe Nase. »Teniet-el-Had hieß der Ort, Don Miguel, und seine Bewohner sind freche, gehässige Kabylen.« Und er entwich.

Der Hammel briet auf dem Feuer aus Zedernholz, dessen Harz im Verknistern ein durchdringendes Aroma ausströmte. Alles drängte sich um die Flamme, denn die Frühlingsnacht kam kalt im Gebirgsland. Noch war der Braten nicht gar, so riß man das Fleisch von den Knochen. Die europäischen Herren schmatzten und leckten die Finger. Bald sanken alle in Schlaf auf dem Waldboden, eingewickelt so gut es ging. Ein schwacher milchiger Schein erfüllte die hohe Meddada, vom Vollmond her, der über der Domesdecke im klaren Nachthimmel schwamm.

Als man im Morgenlicht die erstarrten Glieder reckte und rieb, war kein Führer zu erblicken. Man rief, man streifte, ratlos stand man beisammen, unfähig noch, der Situation ins böse Auge zu sehen. Bis plötzlich einer der Elfe, der ein Kaufmann aus Murcia war, einen Schrei ausstieß, sich über den Körper tastete, dann an seinem Schlafplatz zu wühlen begann und sich endlich, verzweifelnd, für bestohlen erklärte. Das Lederbeutelchen voll Dublonen, das er am Band auf der nackten Brust getragen, der mit unendlicher Schwierigkeit bewahrte Schatz, war verschwunden, mit ihm hatte der Grüngesichtige das Weite gesucht. Die geringere, aber greifbare Beute war ihm lieber gewesen als alle zehn Schuldverschreibungen zusammen. Und da ließ 171 er sie nun in der weglosen Öde, sechs Tage von Algier, fünfzehn von Oran, ohne Landkunde, Nahrung und Waffen.

Ein Jammern und Anklagen erhob sich. Jeder wollte die Unverläßlichkeit des Menschen als Erster erkannt, jeder sich gegen das waghalsige Unternehmen am längsten gesträubt haben. Es fehlte nicht viel, und die Brüder im Unglück hätten einander geprügelt. Endlich aber wandte sich der vereinigte Unwille gegen Cervantes als gegen den wahren Anstifter und Vorbereiter, dem man auch ganz allein den saubern Pfadfinder zu verdanken habe.

Das sei alles vollkommen richtig, erklärte er sogleich, und nichts also natürlicher, als daß sie ihn mit der Verantwortung belüden und ihm als ihrem Führer nun weiter folgten nach Westen. Hier das Zederngebirg, er habe es auf den Karten gesehen, liege genau auf der Höhe des Ziels. Immer nur der wandernden Sonne nach müsse man wandern, unfehlbar führe einen die unter die Mauern von Oran.

Aber für alle gab es nur eine Losung: zurück. Sechs Tagereisen bekannten Wegs schienen ihnen besser als die weite Fahrt in das Ungewisse, und sie erhofften Verzeihung, da sie reuig zurückkehrten.

Eine Viertelstunde danach zogen sie ab. Die Brüder standen am Höhenrand unter den ersten Stämmen und blickten den Neunen nach.

»Wir werden viel rascher vorwärtskommen zu zweit,« sagte der Fähnrich, den der Gedanke 172 entzückte, allein mit dem angebeteten Bruder der Freiheit zuzuwandern, »komm! worauf warten wir noch.«

Aber Cervantes sprach nicht und entschloß sich nicht. Die Zurückflüchtenden waren längst um ein Felsenmassiv verschwunden.

»Es geht doch nicht, Rodrigo,« sagte er endlich, »wir müssen ihnen nach.«

Der Fähnrich war sonst nicht der Mann, Andeutungen zu verstehen. Diese verstand er.

»Sie werden's Dir nicht danken, mein Miguel!«

»Gewiß nicht.«

Und das war alles.

Der Empfang in der Sklavenstadt war nicht freundlich. Aber da die wütend vermißte, schon verloren gegebene Ware sich selber zurücklieferte, sah man vom Äußersten ab. Härtere Arbeit, schlechteres Lager, einige Prügel auch, dabei ließ man's bewenden, zumal sie verführt waren. Nicht einer der Neune widersprach dem Cervantes, der sich als Anstifter bekannte. Dreihundert Stockschläge wurden ihm zudiktiert, und dies war so viel wie der Tod.

Aber Dali-Mami ließ die Strafe nicht vollziehen. Er ließ seinen einhändigen Sklaven eng anschmieden im Bagno; mit Eisen behängt und umwunden, wie eine Braut mit Rosen, saß Cervantes in seinem Winkel. Mehrmals erschien der Reïs, beklopfte Ketten und Barren kennerisch mit seinem Totschläger und hielt dem Rebellen düster prophetische Reden. Aber am fünften Tag nahm man ihm sämtliche Bande ab... Sein Anzug war 173 in Fetzen gegangen auf der Flucht. Ein neuer lag bereit, reinlich und ungeflickt: Hemd, Hose, Kaftan, Schlappen und Mütze. Nur die symbolische Fußfessel hatte man vergessen. Sonst war alles ganz wie zuvor.

Verschlimmert hatte sich leider das Los des braven Rodrigo. Denn Doctor Salomon Perez hatte schon einen andern Knecht, und der Fähnrich sah sich unter die Sklaven des öffentlichen Dienstes versetzt. Miguel fand ihn, nackt unter Nackten, in glühender Sonne schanzend an einer neuen Bastion am Rande der Kasba.

»Nicht lang, Rodrigo, nicht lang!« flüsterte er ihm zu. Der Fähnrich lächelte, voller Vertrauen.

*

Ein Jahr hatte Rodrigo zu fronen. Kettenrasselnd stand er an jedem Morgen von seiner Streu auf, voll gespannter Hoffnung, ob nun wohl diesen Tag Miguel das Wunder der Befreiung vollziehen werde. Aber als dann die Freiheit winkte, da weigerte er sich.

Zwei Trinitarier mit Lösegeldern trafen ein. Dreihundert Dukaten kamen von der Familie Cervantes. Miguel erschrak. Seine klar arbeitende Phantasie stellte ihm vor, was diese Summe an Entbehrung und Demütigung für die Seinen bedeutete. Nun, jedenfalls bedeutete sie für den Bruder die Heimkehr.

Aber Rodrigo war gänzlich verstockt. Diese dreihundert Dukaten seien ein erster Grundstock 174 für Miguels Lösegeld und nichts anderes. Inwiefern Grundstock? entgegnete Miguel, beinahe heftig. Zweitausend Dukaten, er habe es vielleicht vergessen, zweitausend verlange von ihm Dali-Mami. Und von wo aus aller Welt auch nur ein Goldstück noch kommen könnte, das sei unklar. Er trenne sich nun einmal nicht von dem Bruder, erklärte der Fähnrich, und nicht für ihn sei das Geld...

Miguel schaute ihm in das sanfte und störrische Gesicht und dann vor sich nieder in den blauen Schatten. Es war ein heißer Maimittag, und sie saßen beieinander unter einer hohen Mauer, die zu den Befestigungen über der Kasba gehörte. Rodrigo trug Eisen an beiden Füßen. Zu dieser Stunde hatten die Schanzenden Ruhe, weil ihre Aufseher die Hitze nicht ertrugen. Das Meer draußen flimmerte, daß man nicht hinsehen konnte. Auf der Großen Moschee nahe dem Hafen stieg eben die weiße Fahne hoch. Die täglichen Exekutionen begannen.

Miguel hob den Kopf. Es war kaum eine Minute vergangen. Aber ein schärferer Beobachter als Rodrigo hätte erkannt, daß in diesem Augenblick Entscheidendes in ihm vorgegangen war.

»Du wirst dieses Geld nehmen, Rodrigo,« sagte er höchst bestimmt. »Du kehrst nach Spanien zurück. Ich brauche Dich dort. Wenn Du alles mit Klugheit führst, bin auch ich in wenigen Monaten frei.«

»Laß hören,« sagte der Fähnrich, nicht ohne Mißtrauen...

Im August erst reiste er ab. So lange Zeit 175 nahmen die Förmlichkeiten in Anspruch. Im letzten Augenblick noch wurde sein Schiff bis in den untersten Winkel durchsucht. Nichts Verdächtiges fand sich.

Dennoch ging etwas vor. Sklaven kamen abhanden. Nie viele auf einmal, in jeder Woche nur einer oder zwei. Unbegreiflich, wohin sie verschwanden. Der Verdacht fiel auf Miguel Cervantes, aber er ging harmlos umher, schrieb seine Briefe, äußerte überall nur Befriedigung über den Freikauf des Bruders.

Die Vermißten waren nicht weit.

Eine kleine Gehstunde westlich vor der Stadt, zwischen dem Meer und den Hügeln, erstreckte sich ein Stück Land, das El Hamma hieß, ein Ort der Überschwemmung und pflanzlicher Üppigkeit. Hier, dem Ufer entlang, hatte sich einer der oberen Stadtbeamten aus der Wildnis einen Garten herausgeschnitten, einen beinahe tropischen Park voller Palmen, Bambus, Myrte und Ginster. Fast niemals betrat der Herr sein abgelegenes Besitztum. Ein Südfranzose, ein fröhlicher Mann, Jean aus Navarra, tat für ihn Gärtner- und Wächterdienst: zumeist also schlief er in seiner Bretterhütte und ließ Gottes Pflanzen sich verschlingen und vermählen, wie sie wollten.

Diesen braven Tagedieb hatte sich Cervantes gewonnen. Stehe ihm der Sinn danach, sein Heimatland wiederzusehen, so sei er eingeladen, mit ihnen das spanische Schiff zu besteigen, das in einer nahen Nacht vor dem Garten kreuzen werde, hergesandt von Rodrigo.

176 Der Ort war kundig gewählt. Im verborgensten Teile des Parks befand sich eine natürliche Höhle, im Laufe der Zeit durch Menschenhand noch erweitert. In diese Höhle versickerten die Flüchtlinge, tropfenweise und spurlos. Sie hatten strenges Geheiß, niemals tagsüber ihre dumpfe Zuflucht zu verlassen. Jean aus Navarra hielt Ausschau für sie.

Aber wie sich verproviantieren? Im Garten wuchs, außer ein paar Wurzeln und Beeren, nichts Eßbares. Jeder scheute sich vor dem gefahrvollen Doppelgang nach der Stadt und zurück. Jeder war glücklich, als sich schließlich der Jüngste von allen, ein Florentiner, erbot, ihn an jedem dritten Tage zu wagen. Er war ein schöner und frecher Mensch, allen bekannt nur als der »Dorador«, obgleich niemand zu sagen vermochte, ob er wirklich einmal die Vergolderkunst ausgeübt hatte. In Tunis, hieß es von ihm, habe er mehrmals die Religion gewechselt; aber niemand wußte Bestimmtes.

Sie waren nun fünfzehn in ihrer Höhle. Cervantes, am Schärfsten beargwöhnt, sollte als Letzter erst zu ihnen stoßen. Den 20. September hatte er mit Rodrigo als den Tag der Befreiung errechnet. In der Nacht vorher verließ er die Stadt. Als er sich über das rückwärtige Hügelgelände dem Garten näherte, fiel ihm ein, daß er an einem 20. September auf der »Sol« von Neapel abgefahren war. Er hatte eine dunkle Ahnung zu verscheuchen.

Der Tag verstrich und die Nacht und sieben Tage und Nächte danach. Kein Schiff ließ sich 177 sehen. Hatte der Bruder versagt? War dem Fahrzeug ein Unglück begegnet? Ohne Hoffnung wachten sie noch eine letzte Nacht heran, es war die mondhelle des 28. September. Und da zeigte sich um die elfte Stunde das Schiff.

Die es sahen, fielen auf die Knie. Es glitt heran auf dem völlig ruhigen Meer, ein kleiner einmastiger Kutter, von so geringem Tiefgang offenbar, daß unmittelbare Landung möglich war. Dafür lobte Cervantes bei sich den Bruder und auch für die Wahl des küstenkundigen Schiffers, der mit solcher Sicherheit dieses Gartenufer erreichte.

Alle standen mit erhobenen Armen oder winkend, doch ohne Laut. Schon glaubten sie das Plätschern der Ruder im mondhellen Wasser zu hören.

Da erhob sich vielstimmiges Schreien, kehlig, drohend und wild. Nicht unterscheiden ließ sich, woher es kam, ob vom Land aus dem Munde von Leuten, die so spät sich hier noch ergingen, oder vom Wasser her.

Das Fahrzeug entfernte sich. Zu rufen wagten sie nicht. Mit versagendem Herzschlag sah jeder den Retter entschwinden.

»Freunde, er kommt uns zurück,« sagte die Stimme des Cervantes, »er erwartet den Augenblick.«

Aber drei qualvolle Tage vergingen, ehe er kam. Ein letztes Mal hatte man den Vergolder auf Nahrung aussenden müssen. So war er nicht bei ihnen, als der Kutter wieder erschien – in einer Morgenfrühe, vor Sonnenaufgang. Vorsichtig 178 kreuzte draußen das Schiff, ein Zeichen erwartend. Man sah am Vordersteven undeutlich einen hochgewachsenen Mann, der barhaupt schien.

Alle drängten, das Zeichen zu geben und sogleich an Bord zu gehen. Jede Minute sei kostbar.

»Und der Dorador?« fragte Cervantes.

»Warum ist er nicht da!«

»Weil er für uns sein Leben wagt, zum zwanzigsten Mal!«

Aber hatten sie denn nicht recht? Besser, es ging einer zu Grunde als alle. Es drängte ihn selber, das Zeichen zu geben, er lechzte danach... Er brachte es dennoch nicht fertig. Seine Phantasie stellte sich dem entgegen: er sah den Vergolder hereinhetzen zum Garten, ihr Brot in den Händen. Keinen findet er mehr. Höhle, Garten und Meerbucht sind leer und fünfzehn Schufte auf dem Weg in die Freiheit.

Murrend umdrängten sie ihn. »Wie lang wollt Ihr warten!«

»Bis die Sonne herauf ist. Er ist nie später gekommen.«

»Wenigstens gebt das Zeichen! Das Zeichen ist nicht die Abfahrt.«

»Das Zeichen ist die Abfahrt. Sind wir an Bord, so fährt der Schiffer auch ab.«

»Dann ist er gescheiter als Ihr!« sagte einer mit rüder Stimme.

Der Mann sprach die Wahrheit. Was war dieser Drang in ihm, ans Äußerste zu gehen, das Schicksal herauszufordern? Er hatte kein Recht dazu! Jetzt auch schon keine Macht mehr...

179 Denn sie gaben nun selber das Zeichen. Sie winkten. Sie gingen hinweg über ihn. Heimlich atmete Cervantes auf. Er blickte beiseite. Auch Jean aus Navarra trug eben sein Bündelchen aus der Hütte herbei, er wollte mit ihnen fahren.

Da entstand hinter ihnen im Garten Geräusch von knackendem Holz und Tritten zahlreicher Menschen. Es war Dali-Mami, der Reïs, mit einer Rotte Bewaffneter. Ihn führte der Dorador, der den Turban trug.

Ob ihm der Verrat schon länger im Sinne gelegen, ob er an dem Unternehmen verzweifelt, ob eine plötzlich aufschießende Bösartigkeit ihn so abscheulich gelenkt, wer wollte es sagen. Frech hielt er sich an Dali-Mamis Seite, der stillstand und die Situation genoß. Dies war, wahrhaftig, ein Bissen!

Die Wut der Verratenen brach los gegen Cervantes. So übergroß war ihre Empörung gegen den, der sie aus Treue zu dem Verräter nun alle ans Messer geliefert, daß sie fast den Verräter und fast das Schrecknis selber vergaßen. Die Fäuste erhoben, mit wilden Augen, unter Verwünschung und Fluch, umdrängten sie Miguel. Der schob die Fauchenden weg. »Dich würde ich gerne töten,« sprach er zu dem Dorador, und der Ausdruck dieses todgeweihten und zarten Menschen war so, daß sich der Andere rückwärts unter die Bewaffneten im Baumgang verkroch.

»Du wirst keinen mehr töten,« sagte Dali-Mami. »Man wird Dir auch Deine rechte Hand noch abhacken, bevor man Dich hängt. Und 180 Deinen Spießgesellen die linke, damit sie künftig ihrem Anführer gleichen.«

»Andere als mich zu verstümmeln bringt Euch Verlust. Ihr habt das nicht nötig. Keiner wird mehr die Flucht wagen, wenn ich tot bin.«

Das war mit einem überzeugten und überzeugenden Ernst gesprochen. Er hatte abgeschlossen. Was er anrührte, mißlang. Er glaubte nicht mehr an seinen Stern. Durch seinen Starrsinn hatte er alle diese gefährdet. Und er würde wieder so handeln... Verhüllt, in unbestimmtem Kontur, zeichnete sich unter diesem Begebnis das Gesetz seines Lebens ab. An diesem Leben hing er nicht mehr.

Der Reïs gab ein Zeichen. Die Flüchtlinge wurden umringt und zum Ausgang getrieben. Am Ende des Zuges schlich im neuen Turban der Vergolder seiner erhofften Belohnung entgegen.

Der Reïs mit zwei Trabanten blieb zurück. Nachdenklich spazierte er vor dem stumm wartenden Cervantes auf und ab und ließ elegant seinen elastischen Totschläger wippen.

»Daß an Euerm Rang und an Euerm Kaufwert nichts ist, Miguel,« sagte er endlich, »weiß ich längst. Es hat mir gefallen, das bis heute aufrecht zu erhalten. Aber was Ihr nicht habt, das kann Euch werden.«

»Erhöhung durch den Strang, meint Ihr. Ich weiß es.«

»Unter den Korsaren einer der Größten, Horuk Barbarossa, Chaireddins Bruder, war ein einhändiger Mann so wie Ihr!«

Cervantes schwieg.

181 »Was winkt Euch bei den Euern? Was wollt Ihr in Spanien? Nehmet den Turban! Ich gebe Euch frei. Ich geb' Euch ein Schiff. Ihr werdet von Eurer einen Hand guten Gebrauch machen. Schlagt ein!« Und er bot ihm die Rechte.

Cervantes nahm sie nicht.

»Was hindert Euch? Euer Gott? Er hat Euch bis heute nicht sonderlich begnadet. Euer König? Er kennt Euch nicht. Eure Gefährten? Ihr habt erlebt, wie sie mit Schmähungen über Euch herfielen. Glaubt mir, dies ganze Geschlecht verdient nichts anderes, als daß man ihm die Köpfe zertritt.«

»Was wird aus meinen Gefährten, Reïs? Ihr werdet sie schonen?«

»Schweigt doch von diesem Geziefer! Besinnt Euch! Ich werd' Euch nicht noch einmal anbetteln.«

Er sah dem Cervantes ins Gesicht, machte kehrt, pfiff seinen Leuten, wie man Hunden pfeift, und ging ohne ein weiteres Wort.

Cervantes blieb allein in dem Garten zurück. Das Meer lag leer. Der Kutter hatte das Weite gesucht.

Am übernächsten Tage erfuhr Cervantes, daß doch Einer, von allen der Unschuldigste, Jean aus Navarra, zum Opfer gebracht worden war. Man hatte ihn an einem Fuße aufgehängt. Dali-Mami und jener Stadtbeamte, dem der Gärtner gehörte, waren unter dem Galgen auf- und abspaziert, und hatten zugesehen, wie sein eigenes Blut den Armen erstickte.

*

182 Die Lebenslage des Cervantes in den Jahren, die folgten, war eigentümlich, ja wundersam. Mehrfach des Todes schuldig im Sinne der Machthaber von Algier, ging er frei umher und niemand krümmte ihm ein Haar. Niemand auch zwang ihn zur Arbeit. Er hatte Wohnung im Bagno. Gefiel es ihm, fernzubleiben und anderswo, etwa unter den Sternen, zu nächtigen, so begrüßte ihn bei der Wiederkehr die Wache wie einen entbehrten Bekannten.

Höchst vielfältig war sein Verkehr: die Sklaven aller christlichen Zungen, das Schiffsvolk der Reïs, die schmuckbelasteten Weiber unter den Torbögen, Soldaten, Religionspersonal, Handwerker, Beamte, handelnde und gelehrte Juden machten ihn aus. Ihn kannten die Kinder. Er war in der Leute Mund. Daß ein Entsetzlicher wie Dali-Mami ihn schonte, ihn offenbar auf irgend eine Weise in sein düsteres Herz eingeschlossen hatte, erschien so tief erstaunlich, daß manche von Zauber murmelten. Sie waren nicht so weit von der Wahrheit.

Für seinen Unterhalt war gesorgt, zumal seitdem einer Anzahl von christlichen Kaufleuten das Privileg erteilt worden war, sich anzusiedeln und Handel zu treiben. Die Häuser Baltasar Torres und Onofre Exarque waren die angesehensten. Wenn hier Schwieriges aufzusetzen war, wurde Cervantes gerufen.

Er hätte zufrieden sein können. Aber sich mit Verhaßtem abzufinden, war seines Herzens Sache nicht. Noch nicht einmal an die Qualen der 183 Lastesel hierzulande hatte er sich gewöhnen können. Sah er solch einen Kleinen vorüberkommen in den krummen Gassen, auf dem Rücken einen wanstigen Reiter, der schwerer war als sein Tier und ihm mit dem Eisenstachel die schon eiternde Flanke bearbeitete, so schoß ihm das Blut in den Schädel, und er meinte zuschlagen zu müssen. Wie hätte er ruhig den Anblick von König Hassans Greueltaten ertragen sollen, die sich täglich noch steigerten. Die Galgen wurden garnicht mehr leer, der Erdboden vor Bab-el-Wed war schlammig vom Blut, die Anzahl der besoldeten Folterknechte reichte nicht aus und wurde vermehrt, »kaum ein Christ hat hier mehr seine zwei Ohren am Kopf, und glücklich, wer noch aus zwei Augen blickt,« schrieb in diesen Tagen ein Neapolitaner nach Hause.

Vermutlich hätte Cervantes jetzt fliehen können, er als ein Einzelner, denn niemand kontrollierte ihn mehr. Sein Ziel aber blieb die Befreiung Vieler. Die Mißerfolge schreckten nicht ab. Er suchte hier eine Rechtfertigung für sein Dasein, das ihm kläglich, ganz ohne Größe und Wirkung zu verlaufen schien.

Genau zwei Jahre nach jenem letzten Versuch war es wieder so weit. Es war wieder und noch einmal der schicksalhafte Monat September.

Den angesiedelten Handelsleuten untersagten ihre Verträge streng jede Begünstigung christlicher Sklaven; brachen sie diese Klausel, so war ihre Niederlassung, ihr Eigentum, ja ihr Leben gefährdet. Aber der Kaufmann Onofre Exarque, 184 ein Valenzianer, von allen der Reichste, widerstand nicht dem Einfluß seines einhändigen Sekretärs. Er rüstete ein Schiff für ihn aus.

Nicht ein armseliger, kleiner Kutter war es diesmal, sondern eine Fregatte, stattlich, bewaffnet, geräumig genug, um sechzig entweichenden Spaniern Raum zu gewähren. Aus Cartagena kam sie und am Cap Matifu sollte sie ankern, fünf Stunden von Algier – dort, wo Kaiser Karl einst sein zertrümmertes Heer eingeschifft hatte und sich als den Letzten.

In diesem Jahr fiel der Ramadan fast ganz mit dem christlichen September zusammen. Die 29. Nacht, die den Fastenmonat beschließt, Aid-es-seghir, die Lichter- und Festnacht, war zur Aktion bestimmt. Wenn bei Eintritt des Dunkels das große Schmausen begann, wenn die köstlich Gesättigten dann, vom Genuß noch glühend, sich in Haufen zu den Moscheen drängten, aus deren weitoffenen Pforten gelber Lichtglanz erstrahlte, jubelnd alle, zur näselnd grellen Musik freudig den heiligen Namen ausschreiend, mit Lippen, die vom fetten Honiggebäck glänzten und trieften, – dann war die Gelegenheit da, auszubrechen aus der schwärmenden Raubstadt, einzeln oder in Trupps, Mauern zu überklettern, aus dem Hafen zu schwimmen, ja harmlos vielleicht durchs Tor zu spazieren. Eine Stunde entfernt, am linken Ufer des Harrasch, sollte der Sammelplatz sein.

Größte Heimlichkeit schien bewahrt. Am Morgen vor der Lichternacht würde jeder durch ein Losungswort erfahren, daß alles bereit und daß 185 keine Gefahr sei. Miguel Cervantes sollte überall selbst die glückverheißende Parole verbreiten. Sie warteten alle auf ihren Arbeitsplätzen seit Morgengrauen.

Sie warteten vergeblich. Das Wort erklang nicht. Keiner sah den Cervantes. Keiner verließ am Abend die Stadt.

Verrat war wieder im Spiel, Verrat, dem Cervantes so fremd, daß er ihn niemals einzubeziehen vermochte in seine Rechnung.

Der ihn übte, aus Neid und Eifersucht diesmal, war ein Spanier gelehrten Titels, der Doctor Juan Blanco de Paz, Dominikanermönch einst in Salamanca. Gelbfahl von Gesicht erschien er und häßlich beleibt, sein Blick, seine Haltung erweckten ein trauriges Mißbehagen. Übel und zweideutig war jedes seiner Worte, übel und eindeutig der Mundgeruch, der jedes begleitete. Sogar in dieser Stadt voller ungewaschener Sklaven fiel er auf damit, und wenn jemand vom »Stinkenden« sprach, so wußte man, wer gemeint sei. Dabei aber plagte diesen Benachteiligten ein unzähmbarer Drang, zu gefallen und Freunde zu gewinnen. Cervantes, den einnehmenden, behenden Mann, den Staunen umgab, haßte er giftig. Nur um zu verraten, hatte er sich in den Fluchtplan gedrängt. Am vorletzten Tage des Ramadan meldete er, was er wußte, Hassan-Veneziano, dem König.

Miguel, gewarnt durch Freunde aus der Djenina, denn er hatte sie überall, eilte durch Hintergassen zum Hause des Kaufmanns Exarque. Exarque starb beinahe vor Schreck. All seine Würde, 186 der ganze Anstand des begüterten Herrn, verließ ihn im Augenblick. »Wer kennt meinen Namen,« war sein erstes Wort. »Wer außer Euch? Ihr habt mir geschworen, niemand werde ihn erfahren.«

»Es weiß ihn auch keiner, Don Onofre.«

»Ihr schwört mir das bei der Jungfrau und Euerm Heil?«

»Seid getröstet.«

»Getröstet! Ihr werdet ihn ausschreien, den Namen, wenn sie Euch die Glieder einzeln zerbrechen oder sie langsam ausschälen aus den Gelenken!«

Er verbarg sein Gesicht in beiden Händen und lehnte sich gegen die Wand. Cervantes wartete.

»Es ist über Menschenkraft,« hörte er endlich die bleiche Stimme, »Ihr könnt nicht schweigen. Verschwindet!«

»Verschwinden? Wie das, Onofre?«

»Es muß eben sein. Ich eile zum Reïs. Ich zahle, was er verlangt. Seid Ihr losgekauft, so ist keine Gefahr mehr. Ihr stellt mir ein Scheinchen aus über das Geld!«

»Das wäre ein lügenhaftes Scheinchen, Onofre. Nie könnt' ich es einlösen. Auch wär's ein Unsinn. Denn dieser Handel lenkt erst auf Euch den Verdacht.«

»Ihr wollt nicht?« fragte Exarque mit einem Gesicht, das dumm war vor Staunen und Angst. »Was wollt Ihr denn? In der Folter verrecken?«

»Onofre, es ist nicht so weit.«

Es war nicht so weit. Er verbarg sich. Mitten in 187 der Stadt, in ihrem lautesten Teil, an der Suk-Straße, suchte er sich sein Versteck. Hier saß er drei Tage lang bei einem jüdischen Flickschneider, dem er einmal gefällig gewesen, in einer Art Kellerloch, und befragte sich über sich selbst.

Hatte vielleicht Exarque nicht recht, wenn er dumm ausschaute vor Staunen? Was eigentlich stachelte ihn, die Dinge so auf die Spitze zu treiben, immer wieder ein neues und äußerstes Mal sich dem Schicksal zu stellen? Woher dieses geheimnisvolle Gefühl, auch dies noch werde sein Ende nicht sein, es werde nichts an ihn rühren? Für welches Unbekannte denn glaubte er sich aufgespart... Er beugte sich über sich selbst wie über ein Wasser, und er sah nichts in der Tiefe.

Er hatte es eng in seinem Loch. Über sich hörte er die Kunden feilschen und die wimmelnde Familie seines Gastfreundes übermäßig ausdrucksvolle Gespräche führen. Zweimal am Tage brachte man ihm kräftig gewürztes Essen; sein Gelaß roch gewaltig nach Zwiebeln.

Eben hatte man ihm wieder das Mittagsmahl heruntergereicht, da behielt er den Bissen im Munde. Denn von der Gasse her vernahm er, laut ausgeschrieen, seinen Namen, begleitet von der knarrenden Rassel des öffentlichen Ausrufers.

Der Sklave Miguel Cervantes wurde gesucht. Er sei des Verbrechens schuldig, jeder der ihn verberge, sei es auch und verwirke sein Leben...Wieder die Rassel. Und Stille.

Die Falltür ward aufgehoben. Gegen die Helle zeichnete sich schwarz der runde Kopf 188 und der Kinnbart des jüdischen Gastfreunds. »Ich hab' es gehört, Elias,« sagte Cervantes, »ich komme.«

Droben legte er abschiednehmend und wie segnend den beiden ältesten Knaben die Hand auf den Scheitel – und zwar die linke, die glorreich verstümmelte – und stand eine Minute danach im Mittagslicht vor der Djenina.

Bewaffnete Wächter König Hassans standen umher auf dem Platz. Er ward ergriffen. Sie banden ihm auf dem Rücken die Arme zusammen. Sie legten ihm einen Strick um den Hals, als einem dem Galgen Verfallenen. Er ward abgeführt in das Innere und eine kurze Weile darauf vor Hassan-Veneziano geleitet.

Im Hintergrund des gewaltigen Innenhofs, in dem drei Brunnen sprangen, unter den Mittelsäulen der Schmalseite, war dem König ein Lager aus gelben und grünen Lederkissen bereitet. Zu seinen Seiten, aufrecht, hielten sich Dali-Mami der Reïs, ohne Totschläger jetzt, und ein Hofbeamter, den Cervantes an seiner besondern Kleidung erkannte: es war der Aga von den zwei Monden. Rückwärts verbarg sich halb in den Schatten der Bögen, der ihn verraten hatte, der Stinkende.

König Hassan war mit gesuchter Einfachheit gekleidet. Zum weißen Burnus aus ordinärem Gewebe trug er gelbe Schlappschuhe und um den Fes einen weißen Turban ohne jede Agraffe. Offenbar liebte er es nicht, durch Äußerlichkeiten von der Wirkung seiner Person abzulenken. 189 Ruhig musterte er aus seinen glänzenden, rotunterlaufenen Augen den eher schwächlichen Mann, der da vor ihm stand. Dann wandte er mit hochgezogenen Brauen seinen Blick dem Dali-Mami zu, hob die Schultern, als wollte er sagen: das ist also das Ganze? und begann sein Verhör.

Es stellte sich sogleich heraus, daß der Dominikaner übertrieben hatte. Zweihundert Sklaven, wußte der König durch ihn, könne die Fregatte aufnehmen, und so viele seien auch Willens gewesen zu flüchten.

»Du warst also, Du verwegener Dieb, im Begriff,« sprach Hassan, »uns die ungeheure Summe von vierzigtausend Dukaten zu stehlen. Gibst Du das zu?«

»Der Lumpenhund, der mich verraten hat,« antwortete Cervantes, »hat aufgebauscht, um seinen Lohn zu erhöhen. Die Fregatte bietet Raum für sechzig Gefangene.«

»Schuldig also bekennst Du Dich?«

Cervantes neigte das Haupt. Der Strick glitt von seinem Halse herab und blieb geringelt zu seinen Füßen liegen. Ein Diener sprang herzu, um ihn Cervantes von neuem umzulegen; aber Hassan winkte ihn weg.

»Diese Sechzig wirst Du uns alle bei Namen nennen. Beginne!«

Der Aga von den zwei Monden trat vor, eine Schreibtafel in Händen.

»Du wirst uns ferner den Mann oder die Männer nennen, die dies Unternehmen bezahlt haben. Viel Geld muß im Spiel sein.«

190 Miguels Miene war freundlich, beinahe demütig. Aber jeder fühlte sofort, daß die Mauer dieses Schweigens unübersteigbar sei.

Der König winkte. Es traten unter den Hufeisenbögen der linken Längsseite zwei Grüngekleidete hervor, von rechts aber zwei in violettem Gewand mit schwarzem Turban, seltsam geformte lange Instrumente in den Händen.

»Dies betrachte!« sprach Hassan. »Wenn Dich die Dreschflegel erst zwanzigmal befragt haben, wirst Du uns antworten.«

Es waren in der Tat Dreschflegel, deren oberes, bewegliches Teil dicht mit spitzigen Nägeln besetzt war. Beim bloßen Betrachten spürte man schon die tiefen Bisse im Fleisch.

Cervantes wurde von hinten ergriffen. Mit geübter Geschwindigkeit riß man ihm die Kleidung vom Leibe und warf ihn nackt hin auf die Steinplatten, das Antlitz nach unten gekehrt. Schon knieten die Handlanger ihm auf Füßen und Hals.

Er schloß die Augen. Nicht Furcht und Entsetzen waren in ihm, wohl aber Erstaunen. Er hatte nicht geglaubt, daß dies geschehen könne... Nun, da es dennoch geschah, versuchte er den Beistand der Heiligen anzurufen. Mit Grauen erkannte er, daß er seinen Sinn nicht auf sie zu richten vermochte. Bin ich kein Christ mehr? fragte er sich erschauernd, und warum lieg' ich dann hier? Er atmete tief, so tief er's vermochte unter den Schenkeln des Schergen, und erwartete den ersten Zubiß der Folter.

191 Nichts kam. Er fühlte sich vom Gewicht befreit. Er öffnete seine Augen und richtete sich auf seinen Ellbogen empor.

»Du bist zu schwächlich,« hörte er die Stimme des Königs. »Bei Dir wäre die Folter auch gleich die Hinrichtung. Steh auf!«

Cervantes stand auf. Völlig nackt, blinzelnd im Licht, stand er fünf Schritt entfernt vor dem Kissenlager.

»Höre Du! Ich sichere Dir Dein Leben, wenn Du die Schuldigen nennst. Jeder von ihnen hätte Dich hundertmal verraten, sei dessen gewiß. Wer also sind sie?«

»Vier edle Spanier, längst in Freiheit alle vier und längst in der Heimat.«

»Die Namen!«

Und Cervantes schnarrte mit großer Geläufigkeit eine Anzahl Namen herunter, phantastisch zusammengeholt, hochtönend, unwahrscheinlich, durchaus nicht zu merken. Man hörte nur immerfort: omez, antos und igo.

Und nun geschah das Unglaubliche. Hassan-Veneziano, der Bluthund, wurde vom Lachen ergriffen. Er schämte sich dessen, wollt' es nicht wahrhaben; er hielt seine rotbehaarte Hand vor den langen krummen Schlitz seines Mundes, die blutigen Augen wurden schmal vor Vergnügen, und Laute brachen hervor, die mehr einem rostigen Fauchen glichen als einem Menschengelächter. Sein langer, hagerer Oberkörper ward hin- und hergeschüttelt. Alle, auch Dali-Mami, blickten ungläubig auf das Phänomen.

192 »Ich kauf ihn Euch ab, Euern Ritter!« sagte er endlich. »Nicht zu viel habt Ihr mir da erzählt. Vierhundert Dukaten – es gilt?« Dali-Mami neigte den feisten Kopf.

Hassan winkte über die linke Schulter, und der Verräter trat unter den Bögen hervor.

»Du hast uns Dienste geleistet, Stinkender. So will ich Dich herrlich belohnen.«

Er nestelte in seinem Gürtel und zog ein Goldstück hervor, ein einziges. Das hielt er zwischen Daumen und Zeigefinger seiner rotbewachsenen Rechten, ließ es in der Sonne erfunkeln und warf es ihm vor die Füße.

»Das ist noch nicht alles! Geh zu meinem Küchenmeister. Er soll Dir ein Töpfchen Butter geben. Das magst Du ausschlecken nach Deiner Lust... Ein ganzes Töpfchen Butter,« wiederholte er genießerisch, und Gott mochte wissen, was gerade in dieser Art von Belohnung so besonders Höhnisches und Verächtliches lag. »Bück Dich,« schrie Hassan, »nimm den Dukaten auf mit dem stinkenden Maul und krieche zurück in Dein Loch!«

Aber wie er den Verräter enttäuscht hatte, so enttäuschte der König auch in gewisser Art den Cervantes. Er nahm ihn in enge, eigentümliche Haft. Im untern Teil des großen Hofes, gleich links, wenn man eintrat, unter dem zweiten Hufeisenbogen, wurde er angekettet. Kissen und Decken sorgten für seine Bequemlichkeit, geschützt war sein Lager vor Sonne und Regen, wenn auch in freier Luft. Eine lange, dünne Kette 193 ließ ihm Freiheit, sich in den Hof hinauszubewegen. Diese Kette war eigens für Miguel angefertigt worden. Sie war aus Silber.

Hassan hielt sich den einhändigen Sklaven wie ein edles, nicht zähmbares Tier. »Mein berühmter Leopard,« sprach er zu den Besuchern, wenn er sie an die Nische heranführte, darin Cervantes schreibend saß. Denn er ließ ihn sich nach seinen Wünschen beschäftigen, alles Material wurde ihm aufs Beste geliefert. Täglich auch wurde ihm die Kette gelöst, damit er sich an einem der Brunnen nach Bedürfnis waschen könne. Und in jeder zweiten Woche erschien der Barbier und stutzte dem Leoparden den Bart.

Betrachtete der Blutduftende den Cervantes als eine Art Talisman? Ein Diener hinterbrachte eines Tages die Äußerung, die der König bei Tafel getan, »Stadt Algier, Schiffe, Sklaven und Güter seien verwahrt, solange er nur den Einhändigen unter seinen Augen verwahre.«

Da saß er und hatte allstündlich unter seinen Augen das innerste Leben der weltberüchtigten Djenina, kannte die buntscheckigen Chargen des Räuberhofstaats, das Zeremoniell, das aus Abend- und Morgenländischem grotesk gemischt war, ließ sich dreimal am Tag von den Trommlern, Trompetern und Klarinettisten der Königsmusik das Ohr zerreißen, sah Gericht abhalten und Folter dort oben vor den gelbgrünen Kissen, sah verstümmeln, pfählen, enthaupten, sah nachher die Steinfliesen abwaschen und den Blutduftenden sich auf ihnen ergehen in der Abendkühle. 194 Vernahm auch Manches vom wüsten Staatsgeschäft, was sonst Keiner vernahm.

Früher auch als die Stadt wußte er, daß Hassans Abberufung bevorstand. Er war neugierig, was dann aus ihm selber würde.

Man schrieb das dritte Jahr von des Venezianers Königs- und Pächterschaft. Frühzeitig hatten diesmal in Stambul die Palastintriguen begonnen. Der Name des Nachfolgers ward schon genannt. Djafer war es, der mit gewaltigen Bestechungssummen und mit Anklagen gegen Hassan am Sultanshof für sich wühlte.

Aber mancher Monat verging noch, und der Leopard hing an seiner silbernen Kette.

Viel fein zugespitzte Kiele waren verbraucht. Es häuften sich die Blätter des Manuskripts. Was da entstand, war ein Schauspiel oder etwas doch, was dem ähnlich sah, und sein Titel lautete: »Handel und Wandel in Algier.« Er schrieb auf, was ihn marterte: die Leiden der Gefangenen in dieser Stadt. Sollte nicht Andere ergreifen, wovon er selbst seit fünf Jahren täglich ergriffen ward? Er träumte davon, die Handschrift auf geheimem Weg übers Meer zu schmuggeln. Eine der berühmten Theatergesellschaften Spaniens würde sein Stück aufführen, dem König, den Großen, würden die Augen aufgehen, vielleicht gab sein Drama das Signal zu einem Kreuzzug, der den afrikanischen Pestherd vertilgte.

Aber es war nicht an dem. Er sah es bald selbst. Wirr und willkürlich, allzu lebensnahe, liefen seine Schicksale durcheinander, schwach verknüpft, 195 Kräftiges und Eindrucksloses dilettantisch beisammen. Ach, nicht mit dem Kiel, nicht mit dem Schwert war ihm bestimmt, die Größe zu erreichen! Noch immer war er das Schülerlein aus Meister Hoyos' Akademie. Noch immer und für immer ein bettelarmer Invalid.

Aber um die Mauern der Djenina brandete und schwoll seine Legende. Die Briefe nach Spanien, Italien und Frankreich sprachen von ihm. Damals war er geliebt und berühmt. 196

 


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