Bruno Frank
Cervantes
Bruno Frank

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Unica Corte

In den Jahren der Gefangenschaft hatte er mitunter davon geträumt, wie er am ersten Morgen nach der Rückkehr die wohlbekannte Hauptstraße von Madrid mit Behagen entlangspazieren wollte. Dieser geplante Spaziergang war für ihn eine Art Inbegriff und Sinnbild der Heimkunft geworden.

Es ist aber selten, daß sich Menschenträume buchstäblich erfüllen. Der erste Morgen brachte abscheuliches Wetter, ein kalter Sturm peitschte den Regen durch die kotigen Gassen. So blieb er zu Hause in dieser elterlichen Armeleutewohnung, die sich im grauen Novembertageslicht womöglich noch trauriger präsentierte als im Kerzenschein, und hielt den Fragen einiger Nachbarn stand, die sich einstellten, um den Herumtreiber zu beschauen.

Als er am andern Tag, früh schon, die paar Schritte hinüber zur Puerta del Sol getan, war das Tor nicht mehr da. Sie hatten es abgerissen. Mit einem Gefühl des Unbehagens und der Enttäuschung blickte er auf die Stelle, wo es einmal gewesen, und auf die breite, sumpfige Vorstadtstraße, die jenseits im Entstehen war. Diesen Weg war er oftmals von Alcala hereingekommen und zwar durch schönen, dichten, hochstämmigen Wald, der bis an das Tor heranreichte. Von dem Wald war nichts mehr zu sehen. Ringsum war auf das Wüsteste abgeholzt. Offenbar um Baumaterial zu schaffen, schlug man ohne Rücksicht und Verstand alles nieder.

Was der Zurückgekehrte an diesem Vormittag 214 wahrnahm, war die beginnende Umwandlung Madrids in eine Residenzstadt. Dem Namen nach war es das freilich schon seit zwanzig Jahren, in Wirklichkeit aber immer noch ein elender Flecken mit lauter ganz mißlichen Gassen. Die Königslaune Philipps des Zweiten ging ja auch nur auf den Umstand zurück, daß ihm das herrliche alte Toledo, in dessen maurischen Straßen die Leute noch immer Arabisch sprachen, verdächtig und heidnisch erschien.

Er selbst übrigens zeigte sich kaum in seiner »Unica Corte«. Mit jedem Jahre seltener verließ er die Klosterburg. Nur seinen Hofstaat siedelte er hier an.

Zahlreich war dieser Hofstaat und kostspielig. Tausende von Menschen wurden aus der königlichen Speisekammer ernährt. Braten, Geflügel und Wildbret, Fisch, Brot, Früchte, Schokolade, Eis und Öl, alles kam ihnen vom König. Die Kerzen allein, die sie verbrannten, kosteten ihn sechzigtausend Taler im Jahr.

Nun hätte man denken sollen, die Bedürfnisse so vieler anspruchsvoller Bewohner wären zum Ansporn geworden für Industrie und Gewerbe. Aber davon war wenig zu merken. Man führte, was man brauchte, vom Auslande ein. Im ganzen Madrid gab es zwei kleine Fabriken, die eine stellte Geschirr her und die andere Teppiche. Gearbeitet wurde eigentlich garnichts in der Unica Corte und in den übrigen spanischen Städten nicht viel. Die Schätze von den indischen Inseln, aus Mexico und Peru, flossen durch das Land hindurch, ohne 215 es zu befruchten, und ergossen sich in dynastische Unternehmungen ohne irdisches Maß. Der Bauer aber grub seine steinharte Erde und erlag in unausdenklicher Armut.

Madrid, fressendes Willkürprodukt der Krone, blieb das Zentrum der Ämter und Gnadenkanzleien, der Stellenjäger und Pfründengänger, der vornehmen Faulenzer und prahlenden Schwindler. Es blieb freilich auch und wurde erst recht der Ort der Humanistenschulen und Akademien, der Maler, Dichter und Komödianten.

Vom Theater vor allem sprach jedermann. Denn nicht mehr schlugen jetzt herumziehende Schauspielertruppen bald da bald dort vor den Toren ihr Brettergerüst auf: seit anderthalb Jahren besaß die Stadt ein regelrechtes öffentliches Theater, darin Sommer und Winter fast täglich gespielt wurde. In der Djenina von Algier schon, an seiner Silberkette, hatte Cervantes davon erzählen gehört.

Gern wäre er hingegangen. Ein ständiges Theater! Dreihundert Spieltage im Jahr! Was für Hoffnungen! Aber er hatte das Geld nicht. Er besaß ja die paar Realen nicht für Essen und Unterkunft. Es blieb ihm nichts übrig, als den Eltern weiterhin auf der dumpfen Stube zu liegen.

Schlecht traf es sich, daß der König in Portugal war, von dem zuletzt doch alle Gnaden erflossen. Aber sein Vater beruhigte ihn... Er war wahrhaftig nicht müßig gewesen. Alles war vorbereitet. Durch ihn wußten von Miguel und seinen Verdiensten die Mitglieder sämtlicher Ratskollegien, 216 die Finanz- und die Oberste Kriegskammer, wußten der Präsident von Kastilien, die Kabinettssekretäre des Königs, die Herren vom Geheimen Staatsrat sogar. Es konnte nicht fehlen. Eine hohe Anstellung war Miguel gewiß, nur noch nicht entschieden, ob militärisch oder zivil.

Aber als sie nun ihre Gänge antraten und die Treppen zu den Kanzleien zu ersteigen begannen, der Invalide und sein tauber Vater, da erschien doch alles ganz anders. Allerdings, man kannte den alten Cervantes. In allen diesen Vorzimmern und Schreibstuben mußte er dutzende von Malen gewesen sein. Die Kanzlisten zogen die Brauen hoch und blickten einander vielsagend an, wenn er auftauchte. Dem schmächtigen und bescheidenen Mann in seiner Begleitung, von dem er ihnen so Ungeheures erzählt hatte, schenkten sie eine flüchtige und ironische Aufmerksamkeit. Drang man aber wirklich zu den Gewaltigen vor, zu einem der nachgeordneten Räte vielleicht, so stieß man auf vorbereitete Redensarten und ward auf den schriftlichen Weg verwiesen. König Philipps »schriftlicher Weg« schien in der ganzen spanischen Verwaltung das große Wort.

Miguel wunderte sich, wie gelassen ja heiter sein Vater diese Behandlung ertrug. Er wünschte augenscheinlich die Illusion. Zudem schützte ihn auch seine Taubheit vor Enttäuschung; er hörte nicht viel von den Ausflüchten und lauen Bescheiden. Unverdrossen nannte er neue Amtsstellen, die noch zu besuchen seien. Unverdrossen, laut schreiend, so daß sich Miguel vor 217 Verlegenheit zu krümmen begann, zählte er seine Verdienste und Taten auf: Lepanto war, wenn man ihn hörte, ohne das Eingreifen seines Ältesten eine vernichtende Niederlage. Wer aber kümmerte sich heute in Spanien um jene Seeschlacht! Alte Geschichten! Es war eher verdächtig, an ihnen Teil zu haben, seitdem der prinzliche Admiral von damals in mehr als halber Ungnade aus dem Leben geschieden war. Und dann: man hatte Überfluß an Helden. In allen Kneipen aller spanischen Städte standen sie hoch in der Kreide und ödeten die zahlenden Gäste mit ihren Rodomontaden. Tunesische und algerische Abenteuer gar waren wohlfeil wie Zwiebeln. Zu Bergen häuften sich in allen Schreibstuben die Gesuche an den König: »que Vuestra Magestad me haga merced.«

Nach drei Wochen wußte Miguel Cervantes genug. Wieder einmal verließen sie nach dreistündigem Warten die Geschäftszimmer des Rats von Kastilien im Untergeschoß des Palastes. »Wir kommen nicht weiter, Vater,« sagte er an seinem Ohr. »Du hast wahrhaftig das Deine getan. Laß Dir danken! Aber diese Schreiber dienen uns nicht. Ich gehe zum König. Ihm werfe ich mich zu Füßen. Ich reise nach Portugal.«

Der Vater war ganz betroffen. Er verdüsterte sich. Diese Kanzleigänge waren ein Bestandteil seines Lebens geworden. Ungern gab er sie auf.

Ich reise nach Portugal – leicht war das gesagt. Sogar Miguels Anzug war allzu schlecht, den er sich gleich nach der Landung bei einem Trödler in Denia billig erstanden. Und wo sich Geld 218 borgen? Man glaubt nach langer Abwesenheit in eine Stadt voller Freunde und guter Bekannter zurückzukehren, und ist am dritten Tag schon allein.

Er suchte seinen Lehrer auf, Don Juan Lopez de Hoyos. Meister Hoyos war tot. Sein Nachfolger, ein gesprächiger Herr, erzählte die näheren Umstände. Jetzt vor drei Jahren war es geschehen, bei versammelter Klasse. Er hatte eben aus dem Gedicht vom »Cid« die Eroberung von Alcocer rezitiert und war bis zu den Schlußversen gelangt:

Gott, der da oben waltet, sei Preis und Dank gebracht,
Daß wir den Sieg gewannen in einer solchen Schlacht...

da brach er krachend über seinem Lehrpult zusammen, daß es fast klang, als stürze in seiner Rüstung ein Ritter.

Mit den Studienkameraden von ehedem hatte Miguel wenig verbunden. Übrigens waren sie verstreut über das weite spanische Reich. Traf er hier am Ort einen in Amt und Würden, so benahm er sich wie jener Ratssekretär, auf den er in der Obersten Kriegskammer stieß, und der sich ganz besonders förmlich und unzugänglich gab, als er den abgetakelten Soldaten erkannte. Verstreut, unauffindbar waren auch die Mitgefangenen aus algerischer Sklaverei. Die Bekanntschaft seiner Eltern bestand aus lauter ganz armen Leuten. Ohne einen Maravedi in seiner Tasche ging er umher in der Unica Corte.

219 Da gedachte er seines Schauspielmanuskripts und machte sich auf, daraus Geld zu schlagen. Aber die Firma Pablo de Leon, die einst sein Schäfergedicht »Filena« gedruckt hatte, existierte nicht mehr. Als er sich dem Häuschen an der Calle de Francos näherte, trat ihm aus der Tür eine alte Frau entgegen, die ihm die Vorzüge ihres Etablissements anpries: sechs sehr hübsche Mädchen seien augenblicklich verfügbar, darüber hinaus aber lasse sich aus der Nachbarschaft Liebesware jeden Alters in Kürze herbeischaffen. Sie wollte mehr ins Detail gehen, verstummte aber, nachdem sie Miguels Kleidung gemustert. Er fand es bemerkenswert spaßhaft, daß aus der Wiege seines verschollenen Erstlings gerade ein Freudenhaus geworden war, und begab sich, »Handel und Wandel in Algier« unter dem Arm, auf die Suche nach einem andern Verleger.

Das Haus Blas de Robles war ihm von Titelblättern her bekannt. Herr de Robles empfing ihn sofort. Ein Drama, sehr schön! wo denn die anderen seien? – Welche anderen, fragte Cervantes. – Nun, so unvertraut werde er doch mit den literarischen Sitten kaum sein, nicht zu wissen, daß gewöhnlich zwölf Komödien in einem Bande vereinigt würden, das ergebe dann ein stattliches Buch, das sich auch kommerziell auswerten lasse. – Wenn sich das so verhalte, meinte Cervantes, dann werde er wohl in elf Jahren wiederkommen müssen, denn zur Abfassung seines algerischen Schauspiels habe er beinahe ein Jahr gebraucht. Allerdings seien die Umstände nicht ganz die 220 eines freien Schriftstellers gewesen... Und er erzählte Herrn Robles ein wenig vom König Hassan und seiner silbernen Kette.

»Versuchet doch eine Aufführung zu erreichen,« sagte Robles. »Das ist der Weg, rascher zu Geld zu kommen. Wart Ihr bei Geronimo Velazquez?«

Cervantes blickte ihn fragend an.

»Sonderbarer Dramatiker seid Ihr! Alltäglich läuft ganz Madrid zu seinen Aufführungen im »Corral«, und Ihr wißt nichts von ihm. Ihr müßt doch die zeitgenössische Produktion kennen lernen. Lope vor allem, Lope!«

»Ich weiß nicht, Don Blas, wie hoch dort das Eintrittsgeld ist. Für mich ist es auf alle Fälle zu hoch.«

Der Buchhändler griff in seine Lade und holte zwei Kronentaler hervor, sehr ansehnliche, dicke und schwere Münzen.

»Für die sechzehn Realen, Don Miguel, könnt Ihr viele Male hingehen. Ihr braucht ja nicht gerade ein Logenfenster zu nehmen. Es ist kein Geschenk, wir verrechnen es beim ersten Geschäft, das wir miteinander abschließen. Und Euren »Handel und Wandel in Algier« bringt dem Velazquez nur gleich mit ins Theater! Er hat immer Bedarf.« 221

 


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