Bruno Frank
Cervantes
Bruno Frank

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Blutsprüfung

Der Spruch war vom Domkapitel in Sevilla ausgegangen. Er eilte hin.

Zwar hatte ihn das Anathema nicht im Herzen getroffen. Die Zeit seiner jugendlichen Buchstabenfrömmigkeit war lange dahin. An Kirchenformel und Ritual hing er nicht mehr. Aber diese Ausstoßung aus der Gemeinschaft der Gläubigen vernichtete seine Existenz. Undenkbar war in Spanien ein Beamter, der mit dem Klerus zerfallen war.

Er beriet sich mit seinem Freunde. Dieser Freund war sein Wirt, der Gastwirt zur »Griechischen Witwe«, Thomas Gutierrez, einstiger Schauspieler.

Weit lag der Abend, da er Cervantes zum ersten Mal erschienen war, oben auf der verlassenen Bühne, zwischen Lope und dem Theaterdirektor. Sein Ehrgeiz hatte die Richtung gewechselt. Er dachte nicht mehr daran, in historischen Stücken die scharfen, feinen Prinzen zu spielen. Sogar auf die alten Kriegsobersten hatte er verzichtet, die seiner Figur mehr gemäß waren, auf die Polterer, die betrogenen Gatten, die komischen Väter. Unmäßig dick geworden und völlig asthmatisch war er vom Morgen bis in die tiefe Nacht auf den walzenförmigen Beinen; laut, immer vergnügt und ungeheuer gutmütig, wachte er über Küche, Trinkstube, Keller und Stallung. Sein Gasthof war der beste in der volkreichen Vorstadt Triana. Man aß vortrefflich in seiner »Griechischen Witwe,« und jeder mochte hier treiben, was ihm gefiel, solange kein Blut floß.

311 Miguel Cervantes kannte er schon von der »Lügenbank« her, und er liebte ihn. Einfache, lebenskräftige Männer hatten ihn immer geliebt, ob es nun Fumagalli war oder Rodrigo oder der Hauptmann Urbina oder die Leute um den Tisch in Esquivias.

Immer war in der »Griechischen Witwe« Quartier bereit für den fahrenden Kommissar. Mochte das Wirtsgeschäft so drängend gehen wie es wollte, mochten Kaufleute und Kapitäne, Gouverneure und Abenteurer, Offiziere und Wechsler, ehrbar begleitete und galante Damen hier ab- und zufluten, Cervantes fand sein Bett und seinen Teller, wenn er von den Exekutionen müde und angewidert zurückkehrte. Bald haperte es zum ersten Mal mit der Bezahlung. Er sprach vom Ausziehen. Aber der Wirt und Freund deckte dieses ganze Problem mit einem gewaltigen, rostig rasselnden Baßlachen zu, einmal für immer. Von diesem Tage an ließ er für Cervantes beim Essen ein Tischtuch auflegen, eine Verwöhnung, die sonst nur besonders vornehmen Reisenden zu Teil wurde. Er verpflegte sein Maultier, er ließ für ihn waschen, er lieh ihm Geld, er stand für ihn gut. Und er wußte auch jetzt, in dieser kirchlichen Angelegenheit, sogleich vortrefflichen Rat.

Ein gewisser Fernando de Silva ward aufgeboten, »Confidente« der Inquisition, ein zweideutiges und gefürchtetes Individuum, das in bürgerlicher Kleidung mit einem großen, blanken Metallkreuz vor der Brust herumlief. Er wußte, was Wenige wußten, und zu brauchen war er für 312 alles. Am fünften Tage schon brachte er Nachricht, der Spruch gegen Cervantes sei aufgehoben. Neben den verhängten Kirchenbußen: Gebet, Sonderfasten, Pilgerfahrt – Gutierrez zuckte die mächtigen Schultern – sei natürlich auf Wiedererstattung des gepfändeten Gutes erkannt worden. Miguel brach in ein Lachen aus: fünfhundert Fanegen und viertausend Arrobas, das sei ja für ihn eine Kleinigkeit! Aber Herr de Silva vollführte eine geistlich beschwichtigende Geste und brachte die Quittung zum Vorschein... Billig konnte diese Bestechung nicht gewesen sein. Das werde die Griechische Witwe wohl noch aushalten können, erklärte Gutierrez.

Aber als dies abgetan schien und Cervantes eben im Begriff war, nach dem Bezirk von Ronda abzureiten, erreichte ihn eine neue, bedenklichere Botschaft. Man gab keine Ruhe. Man wollte ihm dennoch zu Leib. Er wurde zur Blutsprüfung vor die »Reinheitskammer« zitiert.

Silva ward noch einmal bemüht. Er hob die Achseln. Hier sei er unvermögend. Aber auch ohne ihn werde es Herrn de Cervantes Saavedra sicherlich leicht fallen, nachzuweisen, daß er aus alter christlicher Familie stamme, in die seit vier Generationen kein maurisches oder Judenblut eingeflossen sei. Dieser Nachweis werde nun einmal im spanischen Reich vom Beamten gefordert. Und er empfahl sich mit schiefem Blick.

Es war eine verdammte Schikane. Denn dieser Nachweis wurde keineswegs von jedem Beamten gefordert, man hätte sonst keinen gefunden. War 313 aber einmal der Zweifel erhoben und wurde nicht widerlegt, dann freilich war es mit der Amtsfähigkeit aus.

Selbstverständlich war die Idee von der Reinheit der Rasse gerade in Spanien absurd. Durcheinander gemengt war hier das Blut von Iberern, Basken und Kelten, von Phöniziern, Römern, Vandalen, von Juden und Goten, Arabern, Berbern. Das Ergebnis war ein herrliches Volk, das den Erdkreis bezwang. Selbstverständlich wußten auch viele, wie sehr alles Unsinn war. Die Juden zum Beispiel waren vertrieben; aber es gab kaum eine Grandenfamilie, durch deren Adern kein jüdisches Blut floß. Beim hohen Klerus war es dasselbe. Bischöfe schlichen sich nachts auf den Friedhof und gruben heimlich die Gebeine ihrer Vorfahren aus, die da nach jüdischem Ritus bestattet lagen.

Selbstverständlich widersprach die Rassenidee auch dem hohen Sinn der katholischen Kirche. Aber die herrschende These war nun einmal, daß die Reinheit des Blutes die Reinheit des Glaubens bedinge. »Estatutos de limpieza«, Reinheitsstatuten, wurden erlassen, man setzte Prüfkammern ein und schickte Examinatoren im Lande herum, die Jahrhunderte weit rückwärts forschten. Das kostete alles viel Geld, und die Angezweifelten mußten es bezahlen. Da aber schließlich überhaupt kein Mensch mehr als unanfechtbar hätte gelten können, die Examinatoren nicht, die geistlichen Richter nicht, die Kardinäle nicht und das Königshaus nicht, so hatte man sich auf gewisse Spielregeln geeinigt.

314 Wer von Vater- und Mutterseite her Mitglieder der Inquisition in seiner Familie zählte, galt als rein. Und wer keine Fleischsteuer zahlte, galt auch als rein. Der hohe Adel nämlich zahlte sie nicht. Hierüber existierte ein Nachschlagewerk, eine dicke Liste. Und wer nicht hochadelig war, der ließ es sich schweres Geld kosten, dennoch in die Liste hineinzukommen.

Die Familien de Cervantes und de Cortinas, wahrhaftig, standen nicht in dem heilspendenden Katalog. Sie waren arm. Ihr Adelstitel wog keine Unze. Miguel würde darauf verwiesen sein, vor den Reinheitsrichtern auf seine Kämpfe für den Glauben zu pochen, wieder einmal Lepanto herauszustreichen, seinen Handstumpf zu zeigen. Ungewiß, ob das half! Und es war ihm tödlich zuwider, er schämte sich. Schwadronieren und sich demütigen in einem Atem – und wofür? Um ein Amt zu behalten, das ihm gleichfalls verhaßt war, dies Presser- und Schinderamt, hinter dessen Verwalter die Flüche herzogen wie Schwaden.

Auf seinem Weg zu Gericht machte er Halt auf der Schiffsbrücke, die von Triana zur Altstadt hinüberführte. Weithin abwärts war der Guadalquivir mit Schiffen bedeckt, Barken, Felucken und festverankerten Wohnbooten. Die großen Seeschiffe, die mit der Flut heraufkamen, lagen zur Linken beim Goldturm. Alles erschien heiter und glänzend im Sommermorgenlicht; er aber sah es wie durch einen schmutzigen Schleier. Er hatte die größte Lust, seinen Amtsstab, den er des Ansehens wegen mitgenommen, überm Knie zu 315 zerbrechen und die Stücke in das lehmgelbe Wasser zu werfen.

Er ging aber weiter, verdrossenen Schritts über das jenseitige Ufergelände und am großen Gefängnis vorbei. Wie immer ging es hier munter her. Durch das weit offene Tor strömten Besucher ab und zu, sehr viel reglementierte Weiber darunter, kenntlich am kurzen Flanellmäntelchen mit der vorschriftsmäßigen Falte. An den großen Gittern standen Gefangene und unterhielten sich schreiend und lachend mit den Passanten. Es war ein ziemlich seltsamer Kerker, und Cervantes ging sonst niemals vorüber, ohne sich aufzuhalten. Heute schlich er mit saurem Gesicht um den Block und erreichte durch arabisch verschlungene Gassen den erzbischöflichen Palast, wo ihn seine Richter erwarteten.

In einem niedrigen, völlig unmöblierten Raum zu ebener Erde mußte er lange warten. Durch das bauchig vergitterte Fenster sah man auf eine Seitenfront der Kathedrale hinaus und auf die himmelhohe Giralda, das gewaltige Minarett. Cervantes bog sich zur Seite, um hinaufschauen zu können. Oben hatten sie eine christliche Figur draufgesetzt, die in der Hand eine Fahne hielt. Aber was half's! Orientalisch blieb der großartig elegante Bau, an dem jede Fläche durch Hufeisenfensterchen, gebrechliche Säulchen, schleierndes Netzwerk so entzückend aufgeteilt war. Alles, was schön war an dieser Stadt, kam aus dem Orient. Mauren und Juden hatten nach Spanien das Beste gebracht; das Schöne die einen, und die 316 andern Wissen und Weisheit. Angenehm müßte es sein, das den Blutsprüfern zu erzählen, statt mit Lepanto zu renommieren!

Endlich ließ man ihn vor.

In dem weiten und feierlichen Raum war der Tisch mit den drei Richtern ganz in den Schatten gerückt. Aber den Vorgeladenen traf voll das Licht aus zwei hohen Fenstern. Erstens irritierte ihn das, und sodann ergab es die Möglichkeit, seine angezweifelten Züge nach orientalischen Merkmalen zu durchforschen.

Wie alle begann das Verhör, das anders als alle endigen sollte. Der Kapitular in der Mitte, mit hysterischen Augen unter glänzend schwarzem, strähnigem Haar, nahm seine Papiere zur Hand.

»Ich werde den Eröffnungsbeschluß übersetzen,« bemerkte er in einem ordinären Kleinbürgerdialekt, »da ja Latein schwerlich verstanden wird.«

»Latein geniert mich nicht,« sagte Cervantes.

Der Kapitular schenkte ihm einen Blick und begann, im Ton etwas höflicher:

»Über Verfügung der zuständigen Behörden und unter Beachtung aller Regeln wird eine genaue Durchforschung der Abstammung angeordnet für den Proviant- und Steuerkommissar im Königlichen Dienst Miguel de Cervantes Saavedra, Sohn des Rodrigo de Cervantes Saavedra und der Leonor de Cervantes Cortinas, ehelich geboren zu Alcala de Henares, getauft daselbst in der Kirche Santa Maria la Mayor am 9. Oktober 1547...«

317 Eine Bewegung entstand. Der Lesende unterbrach sich. Einer der beisitzenden Dominikaner, der zur Linken, war so heftig von seinen Aktenstücken in die Höhe gefahren, daß der Richtertisch ins Schüttern geriet. Ein gelbfahles, fettes Gesicht starrte den Examinanden an, mit aufgerissenen Augen, in Angst und Entsetzen.

»Nicht möglich! Der Stinkende!« rief Cervantes.

Alles erstarrte bei dem beschimpfenden Wort.

Offenbar hatte der Dominikaner den Fall nicht gekannt. Diese Prüfungen wurden im Dutzend erledigt. Nun traf ihn der dreimal wiederholte Name Cervantes wie Posaunenschall des Jüngsten Gerichts.

»Der Stinkende!« wiederholte Cervantes, langsam und fröhlich. »Wie geht's Eurer Lumpigkeit? Das Töpfchen Butter schon ausgeschleckt? Der Dukaten verhurt? Ein schäbiger Hund war der König von Algier!«

»Was bedeutet dies, Doctor de Paz,« fragte hitzig der Kapitular. »Was meint dieser Mensch mit seinem Geschwätz? Ist er besessen? Kennt Ihr ihn?«

Aber der Doctor Juan Blanco de Paz ließ ihn nicht aussprechen. Ihm lag alles daran, zuvorzukommen. Denn wenn dieser Verdammte nochmals den Mund auftat, dann erzählte er von dem Schandstreich in Algier, von den sechzig ans Messer gelieferten Christen! Und dann war alles aus, Karriere und Richteramt, dann saß er selbst im Inquisitionskerker für seinen Lebensrest.

»Scherze, hochwürdiger Herr,« begann er 318 quäkend vor Angst, »Scherze wie unter Freunden gebräuchlich! Ein alter Spaß zwischen uns, das mit der Butter. Denn der Herr ist mein Freund, in der Tat! Unzertrennlich sind wir gewesen in den Bagni von Algier. Wär' mir sein Name vor Augen gekommen – wahrhaftig, ich hätte den Richtern die Mühe erspart. Nicht wahr, Don Miguel, bei Euch, da obwaltet kein Zweifel. Ein Gottesstreiter wie einer, Held in christlichen Schlachten, zeigt Eure Hand, Ihr gabt sie im Kampf für den Glauben! De Cervantes Saavedra, Ihr Herren, das ist bester alter reiner christlicher Adel, vor acht Jahrhunderten schon im Pyrenäengebirge bewährt. Ich zeuge persönlich! Ich bürge! Ich beantrage Niederschlagung, ehrenvolle Einstellung des Verfahrens.«

Würde das dem Feinde genügen? Angstvoll starrten die trüben Augen. Der Atem ging laut, sein ekler Geruch zog über den Tisch. Die beiden anderen Richter blickten mit zusammengezogenen Brauen auf den erregten Verteidiger. Hier war nicht alles im Lot, das sah jeder. Doch sein Zeugnis war zwingend. Und was lag schließlich auch an dem einen Prüfling unter zehntausend!

Cervantes ließ sich Zeit. Es war eine genußreiche Minute. Stark wandelte die Versuchung ihn an, nicht klug zu sein, den Glücksfall nicht zu benutzen, sondern diesem Verräter, der sich im Richteramt spreizte, mit peitschenden Worten sein Teil zu verabreichen.

Er bezwang sich. Er schwieg. Er hob nur seinen Amtsstab, zielte genau und stieß mit der 319 vergoldeten Spitze den Stinkenden vor den Bauch. Es konnte zur Not als rauhe Liebkosung gelten. Aber eigentlich war es, als hätte er ihm geradeswegs in das feige Gesicht gespien.

Ohne ein Wort, ohne jemand zu grüßen, verließ er den Saal.

Gutierrez daheim war voller Entzücken. Nicht satthören konnte er sich an der guten Geschichte. »Mit dem Stock! Vor den Bauch! Nicht übel, mein Miguel!« Er holte aus dem Keller seinen feurigsten Aledo. Aber als sie bei der dritten Flasche waren, wurde Cervantes einsilbig.

»Du hättest nicht etwas Schreibpapier, Thomas? Irgend ein Heft.«

Gutierrez brachte ein Ausgabenbuch vom Vorjahr herbei, abgegriffen und ziemlich fleckig. Die Rückseite der Blätter war unbeschrieben. Cervantes stieg etwas unsicher die Treppen zu seiner Kammer hinauf. Er schloß sich ein. Er blieb unsichtbar.

Am Abend überreichte er Gutierrez sein Werk. »Lies es nur gleich! Dich geht es auch an.«

»Mich?«

Im gepflasterten Höfchen draußen war es noch hell. Gutierrez setzte die Brille auf. Nicht lange, so hörten seine Gäste ihn unmäßig lachen. Die Tränen liefen ihm herunter vor lauter Vergnügen.

Mit ausgebreiteten Armen kam er auf Cervantes zu, als er zu Ende war. »Mein Miguel, was für ein Meisterstück! So etwas von Witz, von gespitzter Satire! Wem da nicht die Haut brennt! Und alles natürlich und fein, garnicht rüpelhaft, 320 alles nur Geist. Das hätte mir unter die Finger kommen sollen, als ich noch Schauspieler war. Den Schlaukopf Chanfalla, den hätt' ich wohl spielen mögen!«

»Du sollst ihn spielen.«

»Nicht Dein Ernst! Ich! Heute! Als Gastwirt! Mit dieser Figur!«

»Was weiter? Ein dicker Schlaukopf! Umso besser zu leiden.«

Es gab auch wirklich gar keine Schwierigkeit. Der Direktor, der eben im »Corral del Rey« ein Gastspiel absolvierte, war entzückt. Der satirische Sinn und die komische Wirkung des kleinen Werks sprangen sofort in die Augen. Und Gutierrez, einst als Komödiant populär, jetzt als Wirt, bedeutete eine Anziehung mehr.

»Und die Zensur,« fragte Cervantes gewissenhaft, »sie wird Euch nicht kratzen?«

»Braucht ihr nicht vorgelegt zu werden, Don Miguel. Zwischenspiele bekümmern sie nicht. Solang Ihr's nicht drucken laßt...«

Langer Aufschub war nicht vonnöten. »El retablo de las maravillas« war mit zwei Proben einstudiert. Am Montag war es niedergeschrieben worden, am Freitag den 12. August sollte die Aufführung sein.

Es war ein strahlend heißer Tag. Über den ganzen Spielhof war hoch oben ein Sonnendach aus Segeltuch ausgespannt, eine Neuerung, die aber heftig kritisiert wurde, denn sie machte eigentlich den Aufenthalt nur noch dumpfer. Die Vorstellung begann, jetzt im Sommer, um vier.

321 Ausnahmsweise spielte man einmal kein Stück von Lope, sondern aus lokalpatriotischen Gründen eines von Juan de la Cueva, der ein Sohn der Stadt war. Seit Jahren lief er den Direktoren das Haus ein, beklagte sich über Neid, Mißgunst, schnöde Zurücksetzung, hatte sogar die Behörden mobil gemacht. An einem Logenfenster über der Frauengalerie zeigte man ihn sich: einen gelbgesichtigen Herrn mit bitteren Zügen, der sich schon jetzt bei Beginn unablässig den Schweiß abwischte.

Sein »Tod des Ajax« hatte vier Akte statt der üblichen drei. Auf diese Neuerung war er stolz. Aber leider beherrschte Cueva sein Handwerk nicht. An Stelle kräftiger Handlung gab es lange Berichte, statt des Zusammenpralls der Gefühle pathetische Deklamation. Das Publikum langweilte sich tödlich. Einzelne Pfiffe ertönten. Aber für energische Kundgebungen war es glücklicherweise zu heiß.

Die Zwischenspiele nach den ersten zwei Akten waren witzlose Rüpelszenen, die auch keinem Spaß machten. Der dritte Akt bestand überhaupt nur aus wirren Ergüssen. Die Leute stöhnten. Scharf roch es nach Schweiß.

Cervantes hielt sich im Haufen, nahe der Bühne. Niemand wußte von seiner Autorschaft, die Anschlagzettel am Eingang erwähnten sein Stückchen gar nicht. Nur Gutierrez' Neuauftreten war am untern Rande vermerkt. Manche waren seinetwegen gekommen.

Als er sich nun auf der Szene zeigte, im roten, geflickten Gewand eines fahrenden Hanswursts, 322 brach gleich Klatschen und Rufen los. Er schmunzelte geruhsam. Sein Rock war ihm vorne durch den ungeheuern Bauch viel zu kurz, und er wirkte wie eine schwangere Frau. Mit dem Lärm einer Schmiede brach seine Stimme aus dem gewaltigen Leib.

Es war die Geschichte von dem Schmierendirektor, der eben mit seiner Frau und einem buckeligen Musikanten im Städtchen ankommt, ohne Truppe, ohne Kostüme, ohne Kulissen, und der sich vornimmt, sein Publikum trotzdem zu schröpfen. Er hält sich an die Honoratioren. Er kennt ihre Rassennarrheit, ihre manische, panische Angst um das reine Blut. Er verspricht ihnen eine Vorstellung voll der rarsten Wunder. Allerdings werde nur der seine Freude dran haben, der wirklich ganz rassenrein ist. Maurenabkömmlinge, Judenstämmlinge, die sehen nichts!

Und nachdem er vorausbezahlt worden, schlägt Direktor Chanfalla sein Zaubertheater auf. Schnell ist das geschehen. Nichts trennt das Nichts seiner Bühne vom auserlesenen Publikum. Der Bürgermeister ist selber zugegen. Gemeinderat Juan Castrado sodann, der aussieht so wie er heißt. Benito Kohlkopf, der Stadtrichter, »drei Finger hoch Altchristenfett auf den Rippen.« Herr Strohkorb, der Ratsschreiber. Zusamt ihren Damen.

Und er zeigt ihnen, was noch keiner erschaut hat, weist ihnen seine Wunder auf einem leeren, kahlen, nackten Brett. Gehorsam sehen sie alles. Denn sähen sie nichts, so wäre ihr Stammbaum verdächtig.

323 Mit anpreisendem Baß, unter gutmütig-frechem Spiel seiner breiten Züge, führt ihnen Gutierrez zuerst den biblischen Simson vor, wie er halbnackt und riesenstark die Säulen des Tempels einreißen will.

»Großartig!« ruft der Herr Strohkorb, »ich sehe tatsächlich den Simson, als wär' er mein christlicher Großvater. Ich muß doch wahrhaftig ein ganz feiner Altchrist sein!«

»Aufgepaßt! der wütige Ochse! Ihr wißt schon: vorigen Monat hat er in Salamanca den Lastträger aufgespießt. Achtung, da kommt er!«

Und alle werfen sie sich zu Boden, als hätten sie Angst vor dem Ochsen. Aber sie haben nur Angst vor einander.

»Eine Herde von Mäusen! Da! Weiße, scheckige, himmelblaue, karierte. Hunderttausend Mäuse sind da!«

Und die reinblütigen Damen retten sich kreischend.

»Jordanwasser, Jordanwasser! Ein Sturzbad von Jordanwasser!« Gutierrez greift mit gespreizten Händen zum Himmel. »Macht alle Weiber schön, aber die Mannsbilder kriegen fuchsrote Barte!«

Und alle tun, als liefe ihnen das Wasser schon den Buckel hinunter und bis in die Hosen, und jeder zweifelt an seiner Rasse und schielt nach den Anderen und schreit umso lauter.

Gutierrez steigert sein Tempo. »Ein Herkules,« dröhnt er, »Herkules mit dem Schwert in der Faust! Ein paar Dutzend Honigbären! Und 324 Löwen dazu! Tiger! Zwei feurige Drachen! Macht Euch nur dünn, versteckt Euch, kriecht unter die Stühle!«

Und in zitternder Angst um ihre »Limpieza«, mit Gezier und Gemaul und Gemecker, flüchten Kohlkopf, Kastrat und Strohkorb samt Weiblichkeit vor der leeren Luft.

Als dann zuletzt ein leibhaftiger Offizier auftritt, mit einem Quartierzettel für seine Kompagnie, da glaubt der Bürgermeister nicht, daß er wirklich ist. Endlich sieht er etwas! Endlich sehen sie alle etwas. Vielleicht haben sie doch kein jüdisches Blut! Und sie treiben ihren Spaß mit dem Offizier, ganz ausgelassen vor Rassenglück, so lange, bis dem die Geduld endlich reißt, und die ganze reinblütige Gesellschaft ihre Prügel bezieht. Denn mit Prügeln muß ein Zwischenspiel enden...

Jubelgeschrei und Bravogelächter. Ein tosendes Durcheinanderreden erhob sich aus dem Parterre. Das war etwas für die »Musketiere«! Die standen nicht im Fleischsteuer-Katalog! Am liebsten hätten sie das ganze Stückchen gleich nochmals gehört. Es dauerte lang, bis der letzte Akt des »Ajax« beginnen konnte.

Auf den vornehmen Plätzen verhielt man sich zurückhaltend und verstimmt. Hinter seinem Logenfenster sah man den bittern Cueva mit empörtem Mienenspiel gestikulieren.

Cervantes wartete das Sterben des Ajax nicht ab. Von niemand beachtet verließ er den Spielhof und wartete draußen, hinter der Häuserwand, auf Gutierrez. Bald erschien er auch, schwitzend, 325 schlecht abgeschminkt, umarmte Cervantes und verabreichte ihm einen schallenden Kuß auf die Stirn.

Dann zogen sie Arm in Arm durch die abendlich volkreichen Gassen und über die Brücke nach Haus. Sie waren in strahlender Laune, fast wie berauscht, und sie sangen:

»Limpieza, limpieza,
Gran burrada y torpeza.
«

Es war ein schlichtes Liedchen, soeben erfunden, und sein Text bedeutete ungefähr:

Rassenrein, rassenrein
Will heut jeder Esel sein.

Sie sangen es viele Male.

Aber als sie in der »Griechischen Witwe« anlangten, empfing sie in der Schankstube laute Aufregung. Ein Reeder aus Lissabon war da und hatte Nachricht von der Großen Armada gebracht. Sie war unter ihrem reinrassigen, nur leider nicht seefesten Admiral entsetzlich zu Grunde gegangen. 326

 


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