Anatole France
Die Götter dürsten
Anatole France

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Neunundzwanzigstes Kapitel

Die Seine ging mit Eis. Es war im Monat Nivôse. Das Wasserbecken der Tuilerien, die Rinnsteine und Fontänen waren gefroren. In den Straßen wirbelte der Nordwind Schneewolken auf. Weißer Dampf quoll aus den Nüstern der Pferde; an den Türen der Optikerläden blickten die Passanten nach den Thermometern. Ein Verkäufer wischte die Eiskruste von den Scheiben des »Amor als Maler«, und die Neugierigen sahen sich die Modekupfer an: Robespierre preßte ein Herz über einem Kelche aus, wie eine Zitrone, um das Blut zu trinken. Daneben große allegorische Darstellungen, wie »Robespierres Tigerherrschaft« – lauter Schlangen, Hydren, scheußliche Ungeheuer, die der Tyrann auf Frankreich losließ – ferner »Robespierres schändliche Verschwörung«, »Robespierres Gefangennahme«, »Robespierres Tod« . . .

Nach dem Mittagessen erschien Philipp Demahis im »Amor als Maler«, seine Mappe unter dem Arm; er brachte dem Bürger Blaise eine Platte, die er soeben gestochen: »Robespierres Selbstmord«.

Der Schelmengriffel des Malers hatte den Selbstmörder denkbar abstoßend gemacht. Das Publikum hatte sich damals noch nicht satt gesehen an all den Bildern, Darstellungen der Schändlichkeit dieses Mannes, den man mit allen Verbrechen der Revolution belud. Trotzdem erklärte der Kunsthändler, der sein Publikum kannte, er werde ihm demnächst militärische Sujets zu stechen geben.

»Wir werden bald Siege und Eroberungen brauchen, Säbel, Helmbüsche und Generäle. Wir sind auf dem Wege zum Ruhme. Ich fühle es in mir; mein Herz schlägt bei der Kunde von den Siegen unsrer tapfern Heere. Und wenn ich etwas fühle, so fühlt es fast immer alle Welt mit mir. Was wir brauchen, sind Krieger und Frauen. Mars und Venus.«

»Bürger Blaise, ich habe noch zwei oder drei Zeichnungen von Gamelin, die Sie mir zum Stechen gaben. Eilt es damit?«

»Durchaus nicht.«

»Übrigens bei Gamelin . . . Gestern ging ich über den Boulevards du Temple. Bei einem Althändler gegenüber von Beaumarchais' Hause sah ich alle Bilder dieses Unglücksmannes, auch seinen ›Orest und Elektra‹. Orests Kopf sieht Gamelin ähnlich und ist sehr schön, ich versichere Ihnen . . . Kopf und Arm sind süperb . . . Der Althändler sagte, die Bilder würde er leicht los an Maler, die sie übermalten . . . Der arme Gamelin! Vielleicht wäre er ein großes Talent geworden, hätte er die Politik sein lassen.«

»Er hatte eine Verbrecherseele!« erwiderte der Bürger Blaise. »Ich habe ihn hier in diesem Laden entlarvt, zu einer Zeit, wo seine blutdürstigen Instinkte noch nicht hervortraten. Er hat es mir nie verziehen . . . Ha! das war 'ne nette Kanaille!«

»Der arme Kerl! Er meinte es ehrlich. Die Fanatiker haben ihm den Kopf verdreht!«

»Sie wollen ihn doch hoffentlich nicht verteidigen, Demahis? . . . Er ist nicht zu verteidigen.«

Und der Bürger Blaise klopfte dem schönen Demahis auf die Schulter.

»Die Zeiten haben sich geändert. Jetzt, wo der Konvent die Geächteten zurückruft, kann man Sie ruhig ›Barbaroux‹ nennen . . . Da fällt mir ein, Demahis, stechen Sie mir doch ein Bild der Charlotte Corday.«

Eine große und schöne Frauengestalt, brünett und in Pelze gehüllt, betrat den Laden und nickte dem Bürger Blaise diskret und vertraulich zu. Es war Julie Gamelin; doch diesen Namen der Schande trug sie nicht mehr; sie nannte sich Witwe Chassagne und trug unter ihrem Mantel eine rote Tunika, zum Andenken an die roten Hemden der Schreckenszeit.

Julie hatte gegen Evarists Geliebte anfangs Abneigung empfunden; alles, was mit ihrem Bruder zusammenhing, war ihr verhaßt. Doch die Bürgerin Blaise hatte die unglückliche Mutter nach Evarists Tode in einer Dachstube ihres Hauses zum »Amor als Maler« untergebracht, und auch Julie hatte dort anfangs ihre Zuflucht gesucht, bis sie wieder eine Stellung in dem Modegeschäft in der Rue des Lombards fand. Ihr kurzes Haar »à la victime«, ihre aristokratische Miene und ihre Trauer wandten ihr die Interessen der goldenen Jugend zu. Jean Blaise, mit dem die Thévenin halb gebrochen hatte, bewarb sich um sie, und sie nahm seine Werbung an. Trotzdem trug sie mit Vorliebe Männerkleider wie in der Schreckenszeit: sie ließ sich einen schönen Stutzeranzug machen und ging oft, einen riesigen Stock in der Hand, mit einem Modefräulein in ein Wirtshaus in Sèvres oder Meudon zum Nachtessen. Untröstlich über den Tod des jungen Edelmannes, dessen Namen sie trug, fand die männliche Julie in ihrer Trübsal keinen andern Trost als die Wut, und wenn sie Jakobinern begegnete, so hetzte sie die Passanten gegen sie auf und schrie: »Zum Tode mit ihnen!« Für ihre Mutter behielt sie wenig Zeit übrig. Die saß jetzt allein in ihrem Stübchen und betete den ganzen Tag ihren Rosenkranz. Der tragische Tod ihres Sohnes hatte sie so niedergeschmettert, daß sie den Stachel des Schmerzes nicht fühlte. Rose war Elodies treue Gefährtin geworden, die sich mit ihren Stiefmüttern offenbar gut vertrug.

»Wo ist Elodie?« fragte die Bürgerin Chassagne.

Jean Blaise zuckte die Achseln; es war bei ihm Prinzip, dies nie zu wissen.

Julie kam, sie abzuholen, um die Thévenin in Monceaux zu besuchen, wo die Schauspielerin ein Häuschen mit einem englischen Garten bewohnte.

Im Conciergeriegefängnis hatte die Thévenin die Bekanntschaft eines großen Armeelieferanten, des Bürgers Montfort, gemacht. Auf Bitten von Jean Blaise war sie aus dem Gefängnis freigelassen worden und hatte ihrerseits die Befreiung des Bürgers Montfort durchgesetzt. Sobald dieser in Freiheit war, lieferte er den Truppen Proviant und spekulierte in Grundstücken des Stadtviertels der Pépinière. Ledoux, Olivier und Vailly bauten hübsche Häuser darauf, und binnen drei Monaten hatte das Terrain den dreifachen Wert. Seit dem Gefängnis war Montfort der Liebhaber der Thévenin; er schenkte ihr ein kleines Haus in der Nähe vom Tivoli und der Rue du Rocher, das sehr teuer war, ihn aber nichts kostete, da der Verkauf der anstoßenden Grundstücke ihm den Preis schon dreifach vergütet hatte. Jean Blaise war ein galanter Mann. Er meinte, man müsse das dulden, was man nicht hindern kann, und trat die Tévenin an Montfort ab, ohne mit ihr zu brechen.

Kurz nachdem Julie den »Amor als Maler« betreten hatte, erschien Elodie in voller Toilette im Laden. Trotz der Kälte, trug sie unter ihrem Mantel nur ein weißes Kleid auf bloßem Leibe. Ihr Gesicht war blässer geworden, ihre Taille schlanker, ihre Augen blickten schmachtend, und ihr ganzes Wesen atmete Wollust.

Die beiden Frauen gingen zur Thévenin, die sie erwartete. Demahis schloß sich ihnen an; die Schauspielerin pflegte ihn über die Ausschmückung ihres Hauses um Rat zu fragen, und er liebte Elodie, die in diesem Augenblick mehr als halb entschlossen war, ihn nicht länger leiden zu lassen. Als die beiden Frauen bei Monceaux vorbeikamen, wo die auf dem Revolutionsplatze Hingerichteten unter einer Kalkschicht beerdigt lagen, sagte Julie:

»Während der Kälte ist's gut so. Aber im Frühjahr werden die Ausdünstungen dieses Bodens die halbe Stadt verpesten . . .« Die Thévenin empfing ihre beiden Freundinnen in einem antiken Salon, dessen Kanapees und Lehnstühle von David entworfen waren.

Römische Flachreliefs, in Grisaille-Malerei nachgeahmt, prangten an den Wänden über Statuen, Büsten und in Bronze gemalten Kandelabern. Sie trug eine strohblonde Lockenperücke. Perücken machten damals Furore; man gab sechs, zwölf, ja achtzehn zur Aussteuer mit. Ein Kleid »à la cyprienne« legte sich eng um ihre schlanke Figur. Sie warf sich einen Mantel über die Schultern und führte ihre Freundinnen und den Kupferstecher in den Garten, den Ledoux ihr entwarf, der aber bisher nur ein Chaos von kahlen Bäumen und Stuck war. Immerhin zeigte sie schon die Fingalsgrotte, eine gotische Kapelle mit einer Glocke, einen Tempel, einen Gießbach.

»Dort«, sagte sie, auf eine Gruppe von Fichten deutend, »möchte ich ein Denkmal zur Erinnerung an den unglücklichen Brotteaux des Ilettes errichten. Ich war ihm nicht gleichgültig. Er war ein liebenswürdiger Mann. Die Ungeheuer haben ihn erwürgt; ich habe ihn beweint. Demahis, zeichnen Sie mir doch eine Urne auf eine Säule.« Und fast unmittelbar setzte sie hinzu: »Es ist zum Verzweifeln . . . Diese Woche wollt' ich einen Ball geben. Aber alle Musikanten sind schon für drei Wochen bestellt. Bei der Bürgerin Tallien ist allabendlich Ball.«

Nach der Mahlzeit fuhr die Thévenin in ihrem Wagen mit ihren beiden Freundinnen und Demahis nach dem Théâtre Feydeau. Das ganze elegante Paris war dort vereinigt. Die Frauen trugen antike Frisuren oder kurze Haare »à la victime« und tief ausgeschnittene Kleider in Weiß oder Purpur mit Goldpailletten. Die Männer trugen riesenhohe Kragen, und ihr Kinn verschwand in mächtigen weißen Krawatten. Der Theaterzettel zeigte »Phädra« und den »Hund des Gärtners« an. Das ganze Haus verlangte die Hymne »Das Erwachen des Volkes«, welche die Stutzer und die goldene Jugend so liebten.

Der Vorhang ging auf, und ein kleiner dicker Mann erschien auf der Bühne: es war der berühmte Lays. Er sang mit seiner schönen Tenorstimme:

»Peuple français, peuple de frères!«

Ein donnernder Beifall erscholl, so daß die Kristalle der Kronleuchter klirrten. Hier und dort vernahm man ein Murren, und die Stimme eines Bürgers in rundem Hute antwortete aus dem Parterre mit der Marseillaise:

»Allons, enfants de la Patrie! . . .«

Aber dieses Lied erstickte in Hohngelächter; Rufe ertönten: »Nieder mit den Terroristen! Tod den Jakobinern!«

Lays wurde zurückgerufen und sang zum zweiten Male die Hymne des Thermidor:

»Peuple français, peuple de frères! . . .«

In allen Theatern sah man Marats Büste auf einer Säule oder auf einem Sockel; im Théâtre Feydeau stand diese Büste auf einem Gestell vor dem »Garten«, an einer Kulisse, die eine Mauer darstellte und die Szene abschloß.

Während das Orchester die Ouvertüre von »Phädra und Hippolyte« spielte, wies ein junger Stutzer mit der Spitze seines Stockes auf diese Büste und rief:

»Nieder mit Marat!«

Das ganze Haus fiel ein:

»Nieder mit Marat! Nieder mit Marat!«

Und beredte Stimmen überschrien den Tumult:

»Es ist eine Schande, daß diese Büste noch dasteht!«

»Der infame Marat herrscht überall zu unserer Schande! Er hat so viel Büsten wie Köpfe, die er abschlagen wollte!« – »Giftkröte!« – »Tiger!« – »Schwarze Schlange!«

Plötzlich schwang sich ein eleganter Theaterbesucher über die Brüstung seiner Loge, stieß die Büste um und warf sie herunter. Und der Gipskopf flog zertrümmert auf das Orchester herab, während der ganze Saal tosend applaudierte und stehend das »Erwachen des Volkes« intonierte:

»Peuple français, peuple de frères! . . .«

Unter den begeisterten Sängern erkannte Elodie den hübschen Dragoner Henri, den kleinen Schreiber beim Staatsanwalt, ihre erste Liebe . . .

Nach der Vorstellung rief der schöne Demahis ein Kabriolett heran und fuhr mit der Bürgerin Blaise zum »Amor als Maler«. Im Wagen nahm er ihre Hand zwischen die seinen und sagte:

»Glauben Sie, Elodie, daß ich Sie liebe?«

»Ich glaube es, denn Sie lieben alle Frauen.«

»Ich liebe sie in Ihnen.«

Sie lächelte: »Da hätte ich viel zu tun, trotz der schwarzen, blonden und roten Perücken, die jetzt Furore machen, wenn ich Ihnen alle ersetzen sollte.«

»Elodie, ich schwöre Ihnen . . .«

»Was? Schwüre, Bürger Demahis? . . . Sie sind entweder sehr naiv, oder Sie halten mich dafür.«

Demahis wußte nichts zu antworten, und sie genoß es wie einen Sieg, daß sie ihm all seinen Witz genommen hatte.

An der Ecke der Rue de la Loi hörten sie Gesang und Geschrei und sahen Schattengestalten sich um ein Kohlenbecken bewegen. Es war ein Schwarm von Elegants, die aus dem Théâtre Français kamen und eine Puppe als Marat verbrannten. In der Rue St.-Honoré stieß der Kutscher mit seinem Zweimaster gegen ein burleskes Zerrbild von Marat, das an der Laterne baumelte. Über diesen Zusammenstoß belustigt, drehte der Kutscher sich zu den Fahrgästen um und erzählte ihnen, wie gestern der Kaldaunenhöker aus der Rue Montorgueil Marats Kopf mit Blut beschmiert und gesagt hätte: »Das liebte er.« Zehnjährige Buben hätten die Büste dann in die Kloake geworfen, und die Bürger hätten schlagfertig gerufen: »Das ist sein Pantheon!«

Derweil hörten sie in allen Restaurants und bei allen Limonadenverkäufern das Lied singen:

»Peuple français, peuple de frères! . . .«

Als sie am »Amor als Maler« anlangten, sagte Elodie »Adieu« und sprang aus dem Wagen.

Aber Demahis flehte sie so zärtlich an und war so dringlich und so sanft zugleich, daß sie es nicht über das Herz brachte, ihn vor der Tür zu lassen.

»Es ist spät,« sagte sie, »Sie dürfen nur einen Moment bleiben.«

In dem weißen Zimmer warf sie ihren Mantel ab und stand in ihrem antiken Gewande da, das ihre Formen umspannte. »Sie frieren vielleicht«, sagte sie. »Ich will das Feuer anzünden, es ist alles bereit.«

Sie schlug Feuer an und legte ein brennendes Scheitholz in den Kamin.

Philipp schloß sie in seine Arme mit der Zartheit, welche die Kraft offenbart, und ein unsäglich holdes Gefühl überkam sie. Sie schmolz unter seinen Küssen schon hin, entwand sich ihm aber.

»Lassen Sie mich!«

Langsam löste sie vor dem Kaminspiegel ihre Haare auf, dann blickte sie wehmütig auf den Ring, den sie am Ringfinger der linken Hand trug, ein silbernes Ringlein, mit dem ganz verwischten und unkenntlichen Kopf Marats geschmückt. Sie blickte ihn an, bis die Tränen ihre Blicke umflorten, zog ihn sanft ab und warf ihn in die Flammen.

Dann warf sie sich, strahlend von Tränen und Lächeln, schön vor Zärtlichkeit und Liebe, in Philipps Arme.

Es war tief in der Nacht, als die Bürgerin Blaise ihrem Geliebten die Wohnungstür öffnete und ihm im Dunkeln zuflüsterte:

»Lebe wohl, Geliebter . . . Um diese Zeit kann mein Vater heimkehren. Hörst du Geräusch auf der Treppe, so steige rasch in den zweiten Stock hinauf und gehe erst wieder hinunter, wenn keine Gefahr mehr ist, daß er dich sieht. Klopfe dreimal ans Fenster der Portierloge, damit dir die Haustür geöffnet wird. Leb wohl, mein Leben! Leb wohl, meine Seele!«

Die letzten Scheite verglommen im Kamin. Elodies Kopf sank glücklich und müde ins Kissen.


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