Anatole France
Die Götter dürsten
Anatole France

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Zweites Kapitel

Evarist Gamelin verließ die Barnabitenkirche und machte sich auf den Weg nach der Place de Dauphine, die zu Ehren des unbezwinglichen Diedenhofen den Namen Place de Thionville erhalten hatte. Im volkreichsten Viertel von Paris gelegen, hatte dieser Platz seit hundert Jahren sein schmuckes Aussehen verloren. Die Paläste an seinen drei Seiten, die unter Heinrich IV. gleichmäßig in rotem Ziegelbau mit Querlagen von weißem Sandstein erbaut waren, als Wohnsitze prunkvoller hoher Beamter, hatten ihre vornehmen Ziegeldächer gegen zwei, drei elende Stockwerke aus Bruchstein eingetauscht, oder sie waren ganz abgerissen worden, und an ihre Stelle waren würdelose Mietshäuser mit dürftigem Kalkverputz getreten. Ihre Straßenfronten waren unregelmäßig, armselig, schmutzig, von zahlreichen ungleichen, schmalen Fenstern durchbrochen, die Blumentöpfe, Vogelkäfige und trocknende Wäsche zierten. Hier hauste eine Schar von Handwerkern, Goldschmieden, Uhrmachern, Optikern, Buchdruckern, Näherinnen, Schneiderinnen und Wäscherinnen sowie etliche alte Juristen, die der Sturm der Revolution nicht mit der alten Justiz fortgefegt hatte.

Es war an einem Lenzmorgen. Milde Sonnenstrahlen, berauschend wie süßer Wein, leuchteten an den Häusermauern und fielen heiter in die Dachstuben. Die Schiebefenster standen offen, und in ihrem Rahmen erblickte man die unfrisierten Köpfe der Hausfrauen. Der Gerichtsschreiber des Revolutionsgerichts hatte sein Haus verlassen und ging in seinen Dienst; unterwegs klopfte er den unter den Bäumen spielenden Kindern auf die Wangen. Am Pont-Neuf wurde der Verrat des schändlichen Dumouriez ausgerufen.

Evarist Gamelin wohnte am andern Seineufer in einem Hause aus der Zeit Heinrichs IV., das noch ganz schmuck ausgeschaut hätte, wäre nicht unter dem vorletzten Tyrannen ein dürftiges Stockwerk mit Kalkverputz und ein niedriger, mit Ziegeln bedeckter Dachstuhl darauf gesetzt worden. Um diesen Wohnsitz eines alten Parlamentsrats den Bedürfnissen des Volkes anzupassen, das hier zur Miete wohnte, waren Trennwände und Hängeböden eingezogen worden. So hauste der Bürger Remacle, Schneider und Portier, in einem sehr engen und niedrigen Zwischenstock. Durch die Glastür sah man ihn mit untergeschlagenen Beinen auf seinem Werktisch hocken und tiefgebückt an einer Nationalgardenuniform nähen, während seine Frau, deren Herd keinen andern Abzug hatte als den Treppenflur, die Hausmieter mit dem Dunst ihrer Fleischtöpfe und gebackenen Fische einräucherte. Auf der Türschwelle saß ihr Töchterchen Josephine, das bildschöne Gesicht mit Sirup beschmiert, und spielte mit Mouton, dem Hunde des Tischlers.

Die Bürgerin Remacle, eine Frau von überquellendem Herzen, Busen und Hüften, gewährte, wie es hieß, ihre Gunst dem Bürger Dupont dem Älteren, Mitglied des Überwachungsausschusses. Wenigstens hatte ihr Mann sie stark im Verdacht, und das Haus schallte vom Stimmenschall ihres ehelichen Zwistes und ihrer Versöhnungen wider. In den oberen Stockwerken wohnten der Bürger Chaperon, ein Goldschmied, der seinen Laden am Quai de l'Horloge hatte, ferner ein Militärarzt, ein Richter, ein Goldschläger und mehrere Gerichtsbeamte.

Evarist Gamelin stieg die altmodische Treppe bis zum vierten Stock hinauf, wo sich sein Atelier und ein Zimmer für seine Mutter befanden. Dort endeten die mit Steinfliesen belegten Treppenstufen, die auf die schweren steinernen Stufen der unteren Stockwerke folgten. Eine Leiter, die an der Wand lehnte, führte auf einen Boden, von dem soeben ein dicker, alter Mann mit schönem, blühendem Antlitz herabstieg. Er trug ein riesiges Paket mit Mühe unterm Arm und summte dabei vor sich hin: »Ich hab' meinen Diener verloren.« Er hörte mit seinem Singsang auf, sagte Gamelin höflich guten Tag, und dieser begrüßte ihn vertraulich und half ihm beim Herabbefördern seines Paketes, wofür der Alte sich sehr bedankte.

»Da drinnen«, sagte er, seine Last wieder aufnehmend, »sind Hampelmänner; ich will sie eben zu einem Spielwarenhändler in der Rue de la Loi bringen. Es ist eine ganze Schar, lauter Geschöpfe meiner Hand. Sie haben von mir einen gebrechlichen Körper bekommen, aber ohne Freuden und Leiden. Das Denken hab' ich ihnen auch erlassen, denn ich bin ein guter Gott.«

Der so sprach, war der Bürger Maurice Brotteaux, ein alter Steuerpächter und früherer Adliger; sein Vater hatte es zu Gelde gebracht und sich durch einen Adelsbrief aus dem Pöbel emporgeschwungen. In der guten alten Zeit hieß Maurice Brotteaux Herr Des Ilettes und gab in seinem Haus in der Rue de la Chaise elegante Soupers, welche die schöne Frau von Rochemaure, die Gattin eines Staatsanwaltes; mit dem Glanz ihrer Augen verschönte. Sie war eine exemplarische Frau, deren ehrenwerte Treue nichts zu wünschen übrig ließ, solange die Revolution den Herrn Maurice Brotteaux Des Ilettes nicht um Ämter, Renten, Haus, Güter und Namen gebracht hatte. Durch die Revolution verlor er alles: Seitdem verdiente er sich sein Brot mit Porträtmalen in den Hofeinfahrten der Häuser; er buk Krapfen und Spritzkuchen am Quai de la Mégisserie, verfaßte Reden für die Volksvertreter und gab den Bürgermädchen Tanzstunden. Gegenwärtig trieb er sein Gewerbe auf seinem Boden, zu dem man auf einer Leiter hinaufkroch, und in dem man nicht aufrecht stehen konnte. Dort fabrizierte er mit Hilfe eines Leimtopfes, eines Bindfadenknäuels, eines Aquarellfarbenkastens und einiger Papierfetzen Hampelmänner, die er an die Spielwarengroßhändler verkaufte. Diese setzten sie an die Straßenhändler ab, die sie auf einer Stange in den Champs-Elysées herumtrugen als Ziel des kindlichen Verlangens. Inmitten der furchtbaren öffentlichen Zustände und trotz seines eigenen großen Mißgeschicks bewahrte Maurice Brotteaux die Heiterkeit der Seele und suchte Trost in seinem Lukrez, den er in der weit offenen Tasche seines Oberrockes beständig umhertrug.

Evarist Gamelin öffnete die Tür seiner Wohnung, die sofort aufging. Bei seiner großen Armut brauchte er sie nicht zu verschließen, und wenn seine Mutter aus Gewohnheit den Riegel vorschob, so pflegte er zu sagen: »Wozu? Man stiehlt keine Spinnweben, und die meinen erst recht nicht.« In seinem Atelier standen in dichtem Durcheinander seine ersten Versuche in der Malerei, zum Teil mit der Bildseite gegen die Wand gelehnt und mit dichter Staubschicht bedeckt. Sie stammten noch aus der Zeit, wo er mit glattem und schüchternem Pinsel entflogene Vögel und leere Köcher, kecke Liebesspiele und holde Glücksträume, hochgeschürzte Gänsemädchen und blumengeschmückte Schäferinnen gemalt hatte. Aber dieses Genre paßte nicht zu seinem Temperament. Diese Szenen bezeugten durch ihre kalte Darstellung die unversehrbare Keuschheit seines Herzens. Die Kenner hatten sich darin nicht getäuscht, und Gamelin hatte nie für einen galanten Meister gegolten.

Jetzt, wo er kaum dreißig Jahre alt war, schien ihm diese Kunst unendlich weit zurückzuliegen. In ihr sah er nur noch die Verderbnis des Königtums und eine Ausgeburt der höfischen Sittenlosigkeit. Ja, er schuldigte sich selbst an, daß er so verächtliches Zeug gemalt und sein Genie durch Knechtsdienste erniedrigt hatte. Jetzt, wo er Bürger eines freien Volkes war, zeichnete er mit kraftvollem Strich die Gestalten der Freiheit, der Menschenrechte, der französischen Konstitution, der republikanischen Tugend, volkstümliche Herkulesse, welche die Hydra der Tyrannei niederschlugen, und in alle diese Gestalten legte er die ganze Glut seines Patriotismus. Nur leider verdiente er sich sein Brot damit auch nicht. Die Zeiten waren schlimm für die Künstler. Gewiß trug der Konvent nicht die Schuld daran. Der sandte seine Heere nach allen Richtungen gegen die Könige und bot dem gegen ihn verschworenen Europa stolz, fühllos und entschlossen die Stirn. Treulos und grausam gegen die Seinen, zerfleischte er sich mit eigener Hand, erhob die Schreckensherrschaft zum Tagesbrauch, zog die Verschwörer unbarmherzig vor ein Gericht, das alsbald seine eigenen Mitglieder verschlingen sollte, und war doch zu gleicher Zeit gefaßt, nachdenklich, ein Freund der Kunst und des Schönen. Er reformierte den Kalender, gründete Fachschulen, schrieb Wettbewerbe für Malerei und Skulptur aus, ermunterte die Künstler durch Stiftung von Preisen, schuf Jahresaufstellungen, eröffnete das Museum und beging nach dem Vorbild Athens und Roms großartige Feste und Trauerfeiern.

Aber die französische Kunst, die vormals in England, Deutschland, Rußland und Polen so verbreitet war, hatte jeden Absatz im Ausland verloren. Die Liebhaber der Malerei, die Kunstfreunde, vornehme Herren und Finanzleute waren ruiniert, ausgewandert und hielten sich versteckt. Die Leute, die durch die Revolution zu Gelde gekommen waren, Bauern, die die Nationalgüter aufgekauft hatten, Börsenspekulanten, Armeelieferanten, Spielpächter im Palais Royal, wagten ihren Wohlstand noch nicht zu zeigen und hatten zudem gar keinen Sinn für Bilder. Um ein Gemälde loszuwerden, mußte man schon den Ruf Régnaults oder das Geschick des jungen Gérard besitzen. Greuze, Fragonard, Houin nagten am Hungertuche. Prudhon schlug sich mit Frau und Kindern kümmerlich durch, indem er Zeichnungen machte, die Copia in Punktmanier stach. Die patriotischen Maler, wie Hennequin, Wicar, Topino-Lebrun darbten.

Gamelin selbst konnte die Unkosten eines Gemäldes nicht aufbringen. Er konnte sich weder Farben kaufen noch Modelle bezahlen, und so ließ er denn sein großes Gemälde »Der Tyrann, von den Furien bis in den Orkus verfolgt« in skizzenhaftem Zustand. Es bedeckte das halbe Atelier mit unvollendeten, furchtbaren, überlebensgroßen Gestalten und mit einem Knäuel von grünen Schlangen, die ihre spitzen gekrümmten Zungen hervorstießen. Links im Vordergrund erblickte man einen hageren und wilden Charon in seiner Barke, eine wuchtige Gestalt von schöner Zeichnung, nur zu schulmäßig. Viel genialer und natürlicher war ein anderes, kleineres, ebenfalls unvollendetes Gemälde, das im hellsten Teile des Ateliers hing. Es stellte den Orestes dar, wie ihn Elektra auf seinem Schmerzenslager emporrichtet. Mit rührender Gebärde strich das junge Mädchen die wirren Haare zurück, die ihres Bruders Blick trübten. Der Kopf des Orestes war von tragischer Schönheit; die Ähnlichkeit mit den Zügen des Malers war auffällig.

Gamelin stand oft traurig vor diesem Bilde. Manchmal zitterten seine Hände vor Malbegier; er erhob sie zu dem schon ziemlich ausgeführten Antlitz der Elektra und ließ sie ohnmächtig wieder sinken. Seine Brust schwoll vor Begeisterung, und seine Seele dürstete nach großen Dingen. Und doch verzettelte er sich in bestellten Arbeiten, die er mäßig ausführte, weil er den Durchschnittsgeschmack befriedigen mußte, und auch, weil es ihm nicht gelang, solchen Kleinigkeiten den Stempel des Genius aufzudrücken. Er zeichnete allegorische Bildchen, die sein Kollege Demahis recht geschickt in Schwarz oder Bunt stach, und die ein Kupferstichhändler im Faubourg Antoine, der Bürger Blaise, ihm billig abnahm. Aber die Stiche verkauften sich, wie Blaise sagte, immer schlechter, so daß er ihm seit einiger Zeit gar nichts mehr abnehmen wollte.

Doch die Not hatte Gamelin erfinderisch gemacht, und heute hatte er einen neuen und, wie er glaubte, glücklichen Einfall, mit dem der Kunsthändler, der Stecher und er selbst viel Geld verdienen mußten. Er plante ein patriotisches Kartenspiel, bei dem die Könige, Damen und Buben der alten Zeit durch Genien und durch Göttinnen der Freiheit und Gleichheit ersetzt waren. Die Figuren waren sämtlich skizziert, mehrere bereits ausgeführt, und es drängte ihn, die schon stichfertigen zu Demahis zu bringen. Die nach seiner Meinung am besten gelungene stellte einen Freiwilligen im Dreispitz, mit blauem Rock und roten Aufschlägen, gelbem Beinkleid und schwarzen Gamaschen dar. Er saß auf einer Trommel, hatte die Füße auf eine Kugelpyramide gestellt und hielt sein Gewehr zwischen den Beinen. Das war der »Herzbürger«, der den Herzbuben ersetzen sollte. Seit einem halben Jahre zeichnete Gamelin Freiwillige und stets mit Liebe. In den Tagen der Begeisterung hatte er mehrere verkauft. Andere hingen an den Wänden des Ateliers. Fünf bis sechs in Wasserfarben, Guasche oder Rotstift ausgeführt, lagen auf Tisch und Stühlen umher. Im Juli 92, als auf allen Plätzen von Paris Tribünen für die Aushebung aufgeschlagen waren, als aus allen, mit Girlanden geschmückten Wirtshäusern der Ruf erscholl: »Vive la Nation! Frei leben oder sterben!«, konnte Gamelin nicht über den Pont-Neuf oder am Rathause vorbeigehen, ohne daß sein Herz dem bewimpelten Zelte entgegenschlug, worin Beamte mit der Amtsschärpe beim Klang der Marseillaise die Freiwilligen einschrieben. Wäre er aber mit ins Feld gezogen, so hätte er seine Mutter brotlos zurückgelassen.

Evarist hörte schwer atmen, und gleich darauf trat seine Mutter, die Witwe Gamelin, ins Atelier. Sie war feuerrot, schwitzte und keuchte, und die Nationalkokarde, die nachlässig an ihrem Hute befestigt war, fiel beinahe zu Boden. Sie setzte ihren Marktkorb auf einen Stuhl, richtete sich auf, um Atem zu schöpfen, und klagte über die Teuerung der Lebensmittel.

Ihr Gatte war Messerschmied in der Rue de Grenelle in dem Laden »Zur Stadt Châtellerault« gewesen. Jetzt, wo er tot war, lebte die Bürgerin Gamelin als arme Hausfrau bei ihrem Sohne, dem Maler. Er war ihr ältestes Kind. Ihre Tochter Julie, früher Modistin in der Rue St. Honoré war jetzt Gott weiß was geworden. Es war besser, nicht zu sagen, daß sie mit einem Emigranten, einem Aristokraten, verschwunden war.

»Lieber Gott!« seufzte die Bürgerin, ihrem Sohn einen Laib klitschigen, mißfarbigen Brotes zeigend, »das Brot ist gar nicht mehr zu bezahlen, und dabei ist das Mehl nicht mal rein. Auf dem Markt kriegt man weder Gemüse noch Eier noch Käse. Wir werden so lange Kastanien essen, bis wir selbst welche sind.«

Ein langes Schweigen folgte. Dann fuhr sie fort:

»Ich sah auf der Straße Frauen, die nicht mal für ihre kleinen Kinder was zu essen hatten. Ist das ein Elend! Und das wird so weitergehen, bis die Dinge wieder in Ordnung kommen.«

»Mutter«, sagte Gamelin stirnrunzelnd, »die Teuerung, unter der wir leiden, kommt von den Kornwucherern und Spekulanten, die das Volk aushungern und im Bunde mit den äußeren Feinden stehen, um die Republik bei den Bürgern verhaßt zu machen und die Freiheit zu vernichten. Ja, dahin führen die Komplotte der Anhänger Brissots, die Verrätereien eines Pétion und Roland! Wohl uns, wenn die Föderalisten nicht bewaffnet auf Paris rücken und die Bürger abschlachten, die noch nicht verhungert sind! Da ist keine Zeit zu verlieren. Man muß einen Kornpreis festsetzen und jeden guillotinieren, der mit der Volksnahrung wuchert, Aufruhr sät oder es mit dem Fremden hält. Der Konvent hat eben ein besonderes Gericht eingesetzt, um die Verschwörer zu richten. Es besteht aus Patrioten: hätten seine Mitglieder nur Energie genug, um das Vaterland gegen alle seine Feinde zu schirmen! Hoffen wir auf Robespierre: er ist tugendhaft. Hoffen wir vor allem auf Marat. Der liebt das Volk, der erkennt unseren wahren Vorteil und dient ihm. Stets war er der erste, wenn es galt, Verräter zu entlarven und Komplotte zu vereiteln. Er ist unbestechlich und furchtlos. Er allein kann die Republik aus der Gefahr retten.«

Die Bürgerin Gamelin schüttelte den Kopf, und die lässig angesteckte Kokarde entfiel ihrem Hute.

»Geh doch, Evarist! Dein Marat ist auch nur ein Mensch und nicht mehr wert als andere. Du bist jung, du machst dir Illusionen. Was du heute von Marat sagst, sagtest du früher von Mirabeau, Lafayette, Pétion und Brissot.«

»Niemals!« rief Gamelin in ehrlicher Vergeßlichkeit.

Die Bürgerin machte ein Ende des rohen Holztisches von den Büchern, Papieren, Pinseln und Zeitschriften frei und setzte die Suppenterrine aus Steingut, zwei Teller, zwei Stahlgabeln, den mißfarbenen Brotlaib und eine Flasche mit Tresterwein auf.

Mutter und Sohn verzehrten stillschweigend die Fleischbrühe und beendeten ihr frugales Mahl mit einem Stückchen Speck. Die Mutter legte ihr Suppenfleisch auf ihr Brot, führte die Stücke auf der Spitze ihres Taschenmessers feierlich an den zahnlosen Mund und kaute die teuren Speisen mit Respekt. Den Löwenanteil ließ sie ihrem Sohne, der zerstreut und versonnen blieb.

»Iß, Evarist«, mahnte sie von Zeit zu Zeit. »Iß doch!«

Und dieses Wort nahm in ihrem Munde die Weihe eines religiösen Gebots an.

Dann fing sie wieder an, über die teuren Zeiten zu klagen. Gamelin empfahl aufs neue die Festsetzung des Kornpreises als einzigen Ausweg.

»Es ist kein Geld mehr im Lande«, wandte sie ein. »Die Emigranten haben alles mitgenommen. Das Vertrauen ist hin. Man möchte an allem verzweifeln.«

»Still doch, Mutter, still doch!« fuhr Gamelin auf. »Was liegt an unsern augenblicklichen Opfern und Leiden! Die Revolution wird die Menschheit auf Jahrhunderte beglücken!« Die gute Frau tauchte ihr Brot in den Wein. Ihr Geist heiterte sich auf. Lächelnd dachte sie an ihre Jugendzeit zurück, wo sie am Königsgeburtstag auf dem Rasen getanzt hatte. Sie dachte auch an den Tag, da Joseph Gamelin, zünftiger Messerschmied, um sie angehalten hatte. Und sie begann Stück für Stück zu erzählen, wie die Dinge sich zugetragen. Ihre Mutter sagte zu ihr: »Zieh dich an! Wir gehen nach dem Richtplatz in den Goldschmiedeladen von Herrn Bienassis, um zuzusehen, wie Damien gevierteilt wird.« Nur mit großer Mühe brachen sie sich Bahn durch die Menge der Schaulustigen. Im Laden des Herrn Bienassis trafen sie Joseph Gamelin in seinem schönen rosa Staatskleid, und sie begriff sofort, woher er kam. Solange sie am Fenster stand und zusah, wie der Königsmörder mit glühenden Zangen gezwickt, wie flüssiges Blei in seine Wunden gegossen, wie er von vier Pferden zerrissen und ins Feuer geworfen ward, stand Joseph Gamelin immerzu hinter ihr und machte ihr Komplimente über ihren Teint, ihren Haarputz und ihre Figur.

Sie trank die Neige ihres Weins aus und versenkte sich weiter in ihre Vergangenheit.

»Du kamst eher zur Welt, Evarist, als ich dachte, und zwar, weil ich während der Schwangerschaft einen großen Schreck bekam. Ich wurde auf dem Pont-Neuf fast umgerissen von der Menge der Schaulustigen, die zur Hinrichtung des Herrn von Lally liefen. Du warst bei der Geburt so klein, daß der Arzt glaubte, du würdest nicht am Leben bleiben. Aber ich wußte, Gott würde mir Gnade erweisen und dich mir erhalten. Ich zog dich auf, so gut ich's vermochte; ich sparte weder Mühe noch Kosten. Es ist recht und billig, zu sagen, Evarist, daß du mir dafür dankbar wärest, und es mir von klein auf nach besten Kräften vergaltest. Du hattest ein sanftes, liebevolles Gemüt. Auch deine Schwester hatte kein schlechtes Herz, aber selbstsüchtig war sie und heftig. Du hattest mehr Mitleid als sie mit dem Unglück. Wenn die Gassenbuben der Stadtgegend die Vogelnester in den Bäumen ausnahmen, dann wolltest du ihnen die jungen Vögelchen entreißen und sie ihrer Mutter wiedergeben, und oft ließest du dich nur durch Fußtritte und grimmige Hiebe davon abbringen. Als du sieben Jahr alt warst, prügeltest du dich nicht etwa mit ungezogenen Bengeln herum, sondern du gingst artig auf der Straße und sagtest deinen Katechismus her, und alle Armen, denen du begegnetest, brachtest du ins Haus, um ihnen zu helfen. Ich mußte dich schließlich schlagen, um es dir abzugewöhnen. Du konntest keinen Menschen leiden sehen, ohne zu weinen. Als du erwachsen warst, wurdest du bildhübsch; und was mich sehr wunderte, du schienest es gar nicht zu merken. Darin warst du sehr verschieden von den meisten hübschen Jungen, die gefallsüchtig und auf ihr Gesicht eitel sind.«

Die alte Mutter sprach wahr. Evarist hatte mit zwanzig Jahren ein ernstes, reizendes Antlitz gehabt, eine strenge und dennoch weibliche Schönheit, wie das Gesicht der Minerva. Jetzt verrieten seine finsteren Augen und blassen Wangen eine traurige und heftige Seele. Aber seine Blicke nahmen, wenn er sie auf die Mutter richtete, bisweilen die Sanftmut der ersten Jugend an.

»Du hättest es«, fuhr die Mutter fort, »bei deinem hübschen Gesicht leicht gehabt, den Mädchen nachzulaufen; aber du bliebst lieber bei mir im Laden, und nicht selten mußte ich dir sagen, du solltest nicht immer an meinen Röcken hängen, sondern dich mit deinen Spielgefährten ein bißchen tummeln. Bis auf mein Totenbett, Evarist, werde ich dir bezeugen, daß du ein guter Sohn bist. Seit deines Vaters Tod hast du stets wacker für mich gesorgt, und obwohl dein Beruf dich kaum selbst ernährt, ließest du mich nie Mangel leiden. Und wenn wir heute alle beide arm und elend sind, so kannst du nichts dafür; die Schuld liegt an der Revolution.«

Er machte eine tadelnde Gebärde, doch sie zuckte die Achseln und fuhr fort:

»Ich bin keine Aristokratin. Ich habe die vornehmen Leute im Glanz ihrer Macht gesehen und kann wohl sagen, sie mißbrauchten ihre Vorrechte. Ich sah, wie dein Vater von den Lakaien des Herzogs von Canaleille Stockhiebe bekam, weil er ihrem Herrn nicht schnell genug Platz machte. Die Österreicherin liebte ich nicht; sie war zu hochmütig und verschwenderisch. Den König hielt ich für zu gut, und erst durch seinen Prozeß und seine Hinrichtung bin ich anderer Meinung geworden. Kurz, ich wünsche die alte Zeit nicht zurück, obwohl ich damals manche angenehme Stunde verlebt habe. Aber komme mir nicht mit der Redensart, daß die Revolution die Gleichheit einführen wird. Die Menschen werden nie gleich sein, das ist ganz unmöglich, auch wenn man im Lande alles von oben nach unten kehrt. Es wird immer Große und Kleine, Dicke und Magere geben.«

Während sie so sprach, deckte sie den Tisch ab. Der Maler hörte nicht mehr hin. Er entwarf im Geiste die Gestalt eines Sansculotten in roter Mütze und Karmagnole, der in seinem Kartenspiel den Pikbuben ersetzen sollte.

Es pochte an die Tür, und ein Bauernmädchen trat ein. Es war breiter als hoch, rothaarig und krummbeinig. Eine Sackgeschwulst verdeckte ihr linkes Auge, und das rechte war blaßblau, beinahe weiß. Die Lippen waren wulstig, und die Zähne standen vor.

Sie fragte Gamelin, ob er der Maler wäre, und ob er ihr ein Bild ihres Bräutigams, Jules Ferrand, machen könnte, der Freiwilliger beim Ardennenheer wäre.

Gamelin antwortete, daß er dieses Bild nach der Heimkehr des braven Kriegers gern anfertigen wollte. Da bat das Mädchen mit zudringlicher Freundlichkeit, er möchte es doch gleich machen.

Der Maler mußte unwillkürlich lächeln und sagte, daß er ohne Vorbild nicht malen könnte.

Die Ärmste war sprachlos; diese Schwierigkeit hatte sie nicht vorausgesehen. Unbeweglich und stumm, den Kopf schief haltend und die Hände über dem Leibe verschränkend, stand sie da, als wollte sie vor Kummer versinken. Gamelin war von soviel Einfalt gerührt und zugleich belustigt. Um die arme Soldatenbraut aufzuheitern, drückte er ihr einen der Freiwilligen in die Hand, die er in Wasserfarben gemalt hatte, und fragte sie, ob ihr Liebster aus den Ardennen so aussähe.

Ihr trüber Blick senkte sich auf das Blatt herab, wurde nach und nach lebhafter und leuchtete plötzlich auf, während ihr breites Gesicht sich zu einem strahlenden Lächeln verzog.

»Ja, genau so sieht er aus«, sagte sie schließlich. »Das ist Jules Ferrand, wie er leibt und lebt; das ist ihm wie aus dem Gesicht geschnitten.«

Noch ehe der Maler daran gedacht hatte, ihr das Blatt aus der Hand zu nehmen, kniffte sie es sorgfältig mit ihren groben roten Fingern, faltete es ganz klein zusammen, schob es in ihren Busen zwischen Mieder und Hemd und überreichte dem Künstler ein Assignat von fünf Franken. Dann wünschte sie guten Abend und humpelte leichtfüßig hinaus.


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