Anatole France
Die Götter dürsten
Anatole France

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Drittes Kapitel

Am selben Nachmittag ging Evarist zu dem Kupferstichhändler, dem Bürger Jean Blaise, der auch Tuschkästen, Papierwaren und allerlei Spiele verkaufte. Sein Laden in der Rue St. Honoré, gegenüber dem Oratorium, trug das Firmenschild »Amor als Maler«. Es lag im Erdgeschoß eines Hauses, das etwa sechzig Jahre alt war. Die Türwölbung trug als Schlußstein eine gehörnte Satyrfratze. Im Bogen unter der Wölbung prangte ein Ölbild, das den »Sizilianer oder Amor als Maler« nach einem Gemälde von Boucher darstellte. Jean Blaises Vater hatte es im Jahre 1770 anbringen lassen, und seitdem war es durch Sonne und Regen verblichen. Rechts und links von der Tür öffnete sich je ein gleichfalls gewölbtes Fenster mit einem Nymphenkopf als Schlußstein. Hinter riesigen Spiegelscheiben prangten Modekupfer und die letzten Novitäten in bunten Stichen. Heute waren galante Szenen von Billy, etwas nüchterne Arbeiten, ausgestellt: »Die Schule der ehelichen Liebe« und »Sanfter Widerstand«, die bei den Jakobinern Anstoß erregten, und die die Puritaner bei der Kunstgesellschaft denunziert hatten. Ferner eine »Promenade« von Debucourt mit einem Stutzer in gelbem Beinkleid, der sich auf drei Stühlen rekelte, Pferdebilder von dem jungen Karl Vernet, Luftballons, »das Rad der Virginia« und Figuren nach der Antike.

In dem Schwarme der Bürger, der an dem Laden vorbeikam, waren es just die Zerlumptesten, die am längsten vor den beiden schönen Schaufenstern verweilten. Sie waren zerstreuungslustig, begierig auf Bilder und wollten ihren Anteil an den Gütern der Welt wenigstens mit den Augen besitzen. Offenen Mundes standen sie davor, während die Aristokraten nur einen Blick hinwarfen, die Stirn runzelten und vorübergingen.

Sobald Evarist den Laden von fern erblickte, schaute er zu einem Fenster im ersten Stock auf, und zwar zu dem linker Hand, hinter dessen gebauchtem eisernem Balkon ein Topf roter Nelken stand. Es war das Fenster von Elodies Zimmer, der Tochter des Kupferstichhändlers, denn Jean Blaise wohnte mit seinem einzigen Kinde im ersten Stockwerk des Hauses. Einen Augenblick blieb Evarist vor dem »Amor als Maler« stehen, wie um Atem zu holen, dann drückte er auf die Türklinke.

Im Laden fand er die Bürgerin Elodie. Sie hatte Stiche verkauft, zwei Arbeiten von Fragonard Sohn und Naigeon, die aus einem Stoß andrer sorgfältig ausgesucht waren; und bevor sie die Assignate, die sie erhalten hatte, in die Kasse einschloß, hielt sie eins nach dem andern achtsam gegen das Licht, um ihre Wasserzeichen zu prüfen, denn es gab so viel falsches wie echtes Papiergeld, und der Handel wurde dadurch schwer geschädigt. Wie früher die Fälscher des Königsnamens, so bestrafte man jetzt die Papiergeldfälscher mit dem Tode: trotzdem gab es in allen Kellern Platten für Assignate; die Schweizer führten Millionen falschen Papiergeldes ein, man warf es bündelweise in die Gasthäuser; die Engländer luden täglich ganze Ballen davon an den französischen Küsten aus, um die Republik in Mißkredit zu bringen und die Patrioten ins Elend zu stürzen. Elodie fürchtete nicht nur, falsches Papiergeld zu bekommen, sondern noch mehr, welches in Umlauf zu setzen und dann als Komplizin von Pitt behandelt zu werden. Gleichwohl verließ sie sich auf ihr Glück in dem sicheren Gefühl, allen Lebenslagen gewachsen zu sein.

Evarist schaute sie mit jenem düsteren Blick an, der besser als alles Lächeln die Liebe verrät. Sie erwiderte diesen Blick mit einem spöttischen Mäulchen, wobei sie ihre schönen schwarzen Augen verdrehte. Sie tat es, weil sie sich geliebt wußte und nicht böse darüber war, und auch, weil solche Frätzchen einen Liebenden reizen, ihn zu Klagen verleiten und ihn zur Erklärung seiner Liebe drängen, sofern er das noch nicht getan hat. Und das war bei Evarist der Fall.

Als sie die Assignate in die Kasse gelegt hatte, zog sie aus ihrem Nähkörbchen einen weißen Schal, den sie zu sticken begonnen, und setzte ihre Arbeit fort. Sie war fleißig und gefallsüchtig und griff daher instinktiv zur Handarbeit, um Gefallen zu erregen und sich zugleich etwas Schmückendes zu machen. Auch stickte sie ganz verschieden, je nach dem, der ihr zusah. Wollte sie zarte Sehnsucht erwecken, so stickte sie nachlässig, wollte sie jemand zum Spaß in Verzweiflung treiben, so machte sie launische Nadelstiche. Als Evarist kam, arbeitete sie sorgfältig, weil sie ein ernstes Gefühl in ihm wachrufen wollte.

Elodie war weder die Jüngste noch die Schönste. Auf den ersten Blick konnte man sie häßlich finden. Sie hatte dunkles Haar und gelblichen Teint; unter ihrem großen, nachlässig geknoteten weißen Kopftuche quollen rabenschwarze Haarlocken hervor, und ihre glühenden Augen schienen ihre Wimpern zu versengen. Ihr volles, lustiges Antlitz mit den leicht vorspringenden Backenknochen, dem Stumpfnäschen und dem ländlichen, üppigen Ausdruck gemahnten den Maler an den Kopf des borghesischen Fauns, dessen göttlichen Mutwillen er von einem Gipsabguß kannte und schätzte. Ein leichter schwarzer Flaum über dem Munde setzte seinen Akzent auf die brennenden Lippen. Ihr Busen, wie von Liebe geschwellt, hob das Brusttuch, das sie nach der Jahresmode geknotet trug. Ihre schlanke Taille, ihre flinken Beine, ihr ganzer kräftiger Körper bewegten sich mit ungestümer, köstlicher Grazie. Ihr Blick, ihr Atem, ihr Zusammenschaudern, alles an ihr wirkte aufs Herz und versprach Liebe. Hinter dem Ladentisch machte sie den Eindruck einer Ballettnymphe, einer Bacchantin vom Opernhause, die ihr Pantherfell, ihren Thyrsusstab und ihre Efeugirlanden abgelegt hatte und nun ehrbar und wie verzaubert in der bescheidenen Hülle einer Chardinschen Hausfrau dasaß.

»Mein Vater ist nicht zu Hause«, sagte sie zu dem Maler. »Warten Sie ein Weilchen, er wird gleich wiederkommen.« Ihre kleinen bräunlichen Hände zogen die Nadel flink durch den Stoff.

»Gefällt Ihnen das Muster, Herr Gamelin?«

Evarist besaß eine gerade Natur. Und die Liebe, die seinen Mut entflammte, übertrieb seine Aufrichtigkeit.

»Sie sticken sehr geschickt, Bürgerin, aber, wenn Sie es hören wollen: das vorgezeichnete Muster ist nicht schlicht und einfach genug; man spürt den gekünstelten Geschmack, der in Frankreich in den dekorativen Künsten, in Stoffen, Möbeln, Wandverkleidungen nur zu lange geherrscht hat. Diese Schleifen und Girlanden erinnern an den kleinlichen, zopfigen Stil, der unter dem Tyrannen Mode war. Jetzt bekommt man wieder Geschmack! Ach! wir waren tief gesunken. Zur Zeit des verruchten Ludwig XV. hatte die Dekoration etwas Chinesisches. Man machte dickbäuchige Kommoden mit lächerlichen, geschweiften Griffen, die zu nichts taugen, als zum Ofenheizen und zur Erwärmung der Patrioten. Nur das Einfache ist schön. Wir müssen zur Antike zurück. David entwirft Betten und Lehnstühle nach etruskischen Vasen und den Wandgemälden von Herkulanum.«

»Solche Betten und Lehnstühle habe ich gesehen«, nickte Elodie. »Das ist schön! Bald wird man nichts andres mehr wollen. Ich bewundere die Antike ganz wie Sie.«

»Nun also, Bürgerin,« fuhr Evarist fort, »hätten Sie diese Stickerei mit einem Mäanderband, Efeuranken, Schlangen oder gekreuzten Pfeilen verziert, so wäre sie eines Spartaners würdig . . . und Ihrer selbst. Immerhin können Sie das Muster behalten und es nur vereinfachen, mehr gerade Linien hineinbringen.«

Sie fragte, was sie fortlassen sollte.

Er neigte sich auf die Arbeit herab; Elodies Locken streiften seine Haare. Beider Hände begegneten sich auf der Leinwand, und ihre Atemzüge vermischten sich. Evarist fühlte sich beseligt, doch als er Elodies Lippen dicht neben den seinen fühlte, fürchtete er, dem jungen Mädchen zu nahe zu treten, und zog den Kopf rasch zurück.

Die Bürgerin Blaise liebte Gamelin; sie fand Gefallen an seinen großen glühenden Augen, seinem schönen, ovalen Gesicht, seiner Blässe und seinem dichten, schwarzen Haar, das in der Mitte gescheitelt war und in Locken auf seine Schultern herabfiel. Sie liebte sein gesetztes Benehmen, seine kalte Miene, sein herbes Wesen, seine feste, niemandem schmeichelnde Sprache. Und da sie in ihn verliebt war, so schrieb sie ihm einen stolzen Künstlergeist zu, der sich eines Tages in Meisterwerken entladen und seinen Namen berühmt machen würde; und darum liebte sie ihn doppelt. Die Bürgerin war zwar keine Verehrerin männlicher Sittsamkeit; sie war nicht moralisch entrüstet, wenn ein Mann seinen Leidenschaften, seinen Wünschen und Neigungen nachgab. Sie liebte den keuschen Evarist also nicht wegen seiner Keuschheit, sie fand diese nur vorteilhaft, weil sie ihr Eifersucht und Argwohn ersparte und jede Besorgnis vor Rivalinnen ausschloß.

In diesem Moment schien ihr seine Zurückhaltung freilich zu groß. Wenn Racines Aricia den Hippolyt liebte und die herbe Tugend des jungen Helden bewunderte, so hoffte sie diese doch zu besiegen, und über eine Sittenstrenge, die zu ihren Gunsten sich nicht erweichte, hätte sie bald geklagt. Sobald sich also Gelegenheit bot, machte sie ihm eine halbe Liebeserklärung, um ihn zu zwingen, ihr sein Herz zu entdecken. Nach dem Vorbild der zärtlichen Aricia war auch die Bürgerin Blaise fest der Meinung, daß die Frau in der Liebe das erste Wort sprechen soll. »Die am stärksten lieben«, sagte sie sich, »sind die schüchternsten. Man muß ihnen nachhelfen und sie ermutigen. Ihre Herzensunschuld ist zudem so groß, daß eine Frau ihnen auf halbem Wege, ja noch weiter entgegenkommen kann, ohne daß sie es merken; so kann sie ihnen den Schein eines kühnen Angriffs und den Ruhm der Eroberung lassen.« Über den Ausgang dieses Liebeshandels war sie ohne Sorge; wußte sie doch ganz bestimmt (ein Zweifel war ausgeschlossen), daß Evarist, bevor die Revolution ihn heroisch gemacht, in sehr irdischer Liebe für ein Weib, ein sehr dürftiges Wesen, die Portiersfrau der Akademie, entbrannt war.

Elodie war keine Naive; sie unterschied mehrere Arten von Liebe. Das Gefühl, das Evarist ihr einflößte, war tief genug, um es durch einen Lebensbund zu besiegeln. Sie hätte ihn gern geheiratet, glaubte aber, daß ihr Vater die Ehe seiner einzigen Tochter mit einem armen, unbekannten Künstler nicht zugeben würde. Gamelin hatte nichts; der Kunsthändler dagegen arbeitete mit großen Summen. Sein »Amor als Maler« brachte viel ein, das Spekulieren noch mehr, und er hatte sich mit einem Armeelieferanten zusammengetan, welcher der Kavallerie der Republik schlechte Stiefel und dumpfigen Hafer verkaufte. Schließlich war der Sohn des Messerschmieds aus der Rue Saint-Dominique keine Partie für die Tochter eines in ganz Europa bekannten Kunsthändlers, der mit den Firmen Blaizot, Bazan, Didot verwandt war und mit den Bürgern Saint-Pierre und FlorianBerühmte Schriftsteller der Zeit. verkehrte. Zwar war sie keine gehorsame Tochter, die das Jawort ihres Vaters für ihre Ehe notwendig fand. Der war früh Witwer geworden, war begehrlich und leichtsinnig, ein Schürzenjäger und großer Geschäftsmann, der nie Zeit für sie übrig hatte und sie frei, ohne Rat, ohne Zuneigung hatte aufwachsen lassen. Anstatt den Wandel seiner Tochter zu bewachen, hatte er darüber hinweggesehen. Als Menschenkenner schätzte er ihr leidenschaftliches Gemüt richtig ein und kannte die Verführungskünste der Männer, die nicht bloß in einem hübschen Gesicht bestehen. Zu weitherzig, um ihre Tugend zu wahren, aber zu klug, um sich zu entehren, hatte sie ihre Torheiten mit Maß begangen und über dem Liebesdrang nie die Konvenienzen vergessen. Ihr Vater war ihr für diese Besonnenheit unendlich dankbar; und da sie von ihm den Geschäftssinn und die Unternehmungslust geerbt hatte, so beunruhigte er sich nicht über die geheimen Gründe, aus denen ein so heiratsfähiges Mädchen ledig und im Vaterhause blieb, wo sie mehr leistete als eine Haushälterin und vier Kommis. Mit siebenundzwanzig Jahren fühlte sie sich alt und erfahren genug, um sich ihr Leben selbst zu gestalten; sie empfand keinerlei Bedürfnis, ihren noch jungen, leichtsinnigen und zerstreuten Väter um Rat zu fragen oder seinem Willen sich zu fügen. Wenn sie indes Gamelin heiraten wollte, so mußte Herr Blaise diesem armen Schwiegersohn zu einer Stellung verhelfen, ihn an sein Geschäft ketten oder ihm Aufträge sichern, wie verschiedenen anderen Künstlern, kurz, ihm so oder so Einnahmen verschaffen. Nun aber schien es ihr ausgeschlossen, daß der eine dies Angebot machte, weil es zweifelhaft war, ob der andre es annahm: denn die beiden Männer standen auf keinem guten Fuß miteinander.

Diese Schwierigkeit setzte die kluge und zärtliche Elodie in Verlegenheit. Der Gedanke schreckte sie nicht ab, einen heimlichen Bund mit ihrem Freunde einzugehen und den Schöpfer zum einzigen Zeugen ihrer gegenseitigen Treue zu nehmen. In ihrer Lebensklugheit fand sie nichts Verwerfliches an einem Herzensbunde, dem ihr unabhängiges Leben Vorschub leistete, und dem Evarists ehrbarer und tugendhafter Charakter eine beruhigende Sicherheit gab. Aber Gamelin schlug sich mit seiner Mutter nur mühsam durch, und in einem so eingeschränkten Dasein schien selbst für einen freien Liebesbund kein Raum. Zudem hatte Evarist sich noch nicht erklärt oder seine Absichten durchblicken lassen. Die Bürgerin Blaise nahm sich also vor, ihn bald soweit zu bringen. Sie hielt in ihren Gedanken und in ihrer Arbeit zugleich inne. »Bürger Evarist« sagte sie, »dieser Schal wird mir nur dann gefallen, wenn er Ihnen gefällt. Bitte, zeichnen Sie mir ein Muster dazu. Inzwischen trenne ich, wie Penelope, alles wieder auf, was ich in Ihrer Abwesenheit gemacht habe.«

Er antwortete mit düsterer Begeisterung:

»Das soll geschehen, Bürgerin. Ich will Ihnen das Schwert des Harmodius zeichnen, von Blumen umrankt.«

Er zog seinen Zeichenstift hervor und entwarf Schwerter und Blumen in dem klaren, schlichten Stil, den er liebte. Dabei entwickelte er seine Theorien.

»Die regenerierten Franzosen« sagte er, »sollen das Vermächtnis der Knechtschaft verwerfen, den schlechten Geschmack, die schlechte Form, die schlechte Zeichnung. Watteau, Boucher, Fragonard schufen für Tyrannen und für Sklaven; in ihren Werken fehlt jedes Gefühl für den Stil, für die reine Linie, nichts ist natürlich und wahr. Masken, Puppen, Flitter, Äffereien. Die Nachwelt wird dies frivole Zeug verachten. In hundert Jahren sind alle Bilder von Watteau in den Rumpelkammern verschimmelt; im Jahre 1893 werden die Malschüler ihre ersten Versuche auf die Bilder von Boucher klexen. David hat den Weg gewiesen; er nähert sich der Antike; doch er ist noch nicht schlicht, groß und einfach genug. Unsre Maler werden von den Wandgemälden von Herkulanum, von den römischen Basreliefs, den etruskischen Vasenbildern noch manches Geheimnis zu lernen haben.«

Er redete lang und breit von der antiken Schönheit und kam dann wieder auf Fragonard, den er mit unstillbarem Hasse verfolgte.

«Kennen Sie ihn, Bürgerin?«

Elodie nickte.

»Sie kennen auch den Biedermann Greuze, der mit seinem scharlachroten Rock und seinem Degen recht lächerlich aussieht. Aber neben Fragonard wirkt er wie ein griechischer Weiser. Vor einiger Zeit begegnete ich diesem elenden Greise, wie er unter den Arkaden des Palais-Egalité umhertrottelte, gepudert wie ein Galan, zappelig, aufgeblasen, abstoßend. Bei dem Anblick wünschte ich mir, daß ein handfester Kunstfreund die Rolle des Apollo bei Marsyas übernähme, ihn an einen Baum knüpfte und ihm das Fell vom Leibe zöge, zum ewigen Exempel für schlechte Maler.«

Elodie blickte ihn mit ihren heiteren, sinnlichen Augen an. »Sie sind ein guter Hasser, Herr Gamelin. Soll man daraus schließen, daß Sie ebenso lie . . .«

»Sie, Gamelin?« unterbrach eine Tenorstimme. Es war die Stimme des Bürgers Blaise, der eben mit knarrenden Stiefeln, fliegenden Rockschößen und klirrenden Uhranhängseln in seinen Laden trat. Auf dem Kopfe trug er einen riesigen schwarzen Zweispitz, dessen Enden auf seine Schultern herabfielen.

Elodie nahm ihren Nähkorb und ging in ihr Zimmer hinauf.

»Nun, Gamelin?« fragte der Bürger, »bringen Sie mir was Neues?«

»Vielleicht«, erwiderte der Maler.

Dann entwickelte er seinen Plan.

»Unsre Spielkarten stehen in verletzendem Widerspruch zu den Sitten. Die Namen König und Bube beleidigen das Ohr des Patrioten. Ich habe ein neues, revolutionäres Kartenspiel ersonnen und ausgeführt. Dabei sind die Könige, Damen und Buben durch Gestalten der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ersetzt. Die Asse, von Rutenbündeln umgeben, heißen Gesetze . . . Sie sagen an: Treff-Freiheit, Pik-Gleichheit, Karo-Brüderlichkeit, Cour-Gesetz . . . Ich glaube, ich habe diese Karten recht kühn gezeichnet; ich will sie von Demahis stechen lassen und ein Patent darauf nehmen.«

Damit zog er aus seiner Mappe einige fertige Aquarellfiguren und reichte sie dem Kunsthändler hin.

Der Bürger Blaise lehnte sie ab und blickte fort.

»Bringen Sie das in den Konvent, mein Junge«, sagte er. »Der wird Ihnen die Ehre des Tages erweisen. Aber bilden Sie sich nicht ein, damit einen Sou zu verdienen, denn Ihre Erfindung ist nicht neu. Sie kommen einen Posttag zu spät. Ihr revolutionäres Kartenspiel ist das dritte, das mir gebracht wird. Ihr Kollege Dugourc bot mir letzte Woche ein Pikettspiel mit vier Genien, vier Gestalten der Freiheit und Gleichheit an. Mir wurde auch ein Spiel mit Weisen und Helden, Cato, Rousseau, Hannibal und was weiß ich noch angeboten . . . Dazu hatten die Karten, mein Lieber, vor den Ihren den Vorzug, daß sie grob gezeichnet und in Holz geschnitten waren. Wie wenig kennen Sie die Menschen! Glauben Sie etwa, die Kartenspieler würden Karten gebrauchen, die im Geschmack von David gezeichnet und im Stil von Bartolozzi gestochen sind? Außerdem eine wunderliche Einbildung, daß so viel Umstände gemacht werden müßten, um die alten Spielkarten mit den heutigen Ideen zu vereinbaren. Die braven Sansculotten retten die Bürgertugend von selbst und sagen an: »Der Tyrann!« Oder einfach: »Das dicke Schwein!« Sie spielen mit ihren fettigen Karten und kaufen sich niemals neue. Der große Kartenabsatz ist in den Spielsälen des Palais-Egalité. Ich rate Ihnen, gehen Sie da hin und bieten Sie den Spielhaltern und Spielern Ihre Freiheiten, Gleichheiten und – wie sagten Sie doch – Cour-Gesetze an. Nachher erzählen Sie mir, wie die Aufnahme war.«

Der Bürger Blaise setzte sich auf den Ladentisch, knipste sich die Tabakskörner von seinen Nankinghosen und blickte Gamelin mit sanftem Mitleid an.

»Darf ich Ihnen einen Rat geben, Bürger Malersmann? Wenn Sie sich Ihr Brot verdienen wollen, so geben Sie Ihre patriotischen Karten, Ihre Revolutionsembleme, Ihre Genien der Freiheit, Ihre Herkulesse, Hydren und Furien, die das Verbrechen verfolgen, samt und sonders auf und malen Sie hübsche Mädchen. Der patriotische Eifer flaut mit der Zeit ab, aber die Frauen werden immer von den Männern geliebt. Malen Sie mir rosige Frauen mit kleinen Füßen und Händen. Und machen Sie sich klar, daß sich kein Mensch mehr für die Revolution begeistert, daß niemand mehr davon hören will.«

»Wie?« fuhr Evarist Gamelin auf. »Nicht mehr von der Revolution hören? . . . Aber die Begründung der Freiheit, die Siege unsrer Heere, die Bestrafung der Tyrannen – das alles sind doch Ereignisse, die auch die fernste Nachwelt mit Staunen erfüllen werden! Und wir sollten nicht davon gepackt werden? . . . Wie? Die Sekte des Sansculotten Jesus hat fast achtzehn Jahrhunderte überdauert, und der Kultus der Freiheit sollte nach knapp vierjährigem Bestehen abgeschafft werden?«

»Sie träumen«, erwiderte Jean Blaise mit überlegener Miene. »Ich stehe im wirklichen Leben. Glauben Sie mir, mein Lieber, die Leute sind der Revolution überdrüssig! Sie dauert zu lange. Fünf Jahre Begeisterung, fünf Jahre Volksverbrüderungen, Morde, Reden, Marseillaisen, Sturmläuten, ›Aristokraten an der Laterne‹Anspielung auf ein Jakobinerlied., auf Piken getragene Köpfe, auf Kanonen reitende Weiber, Freiheitsbäume mit Jakobinermütze obendrauf, Jungfrauen und Greise, die in weißen Gewändern auf Triumphwagen einherfahren, Einkerkerungen, Guillotinierungen, Preisbestimmungen für Lebensmittel, Maueranschläge, Kokarden, Federbüsche, Säbel, Karmagnolen – das ist ein bißchen viel! Und schließlich versteht man den ganzen Rummel nicht mehr. Wir haben zu viele große Bürger erlebt, die erst zum Kapitol geleitet und dann den Tarpejischen Fels heruntergestürzt wurden: Necker, Mirabeau, Lafayette, Bailly, Pétion, Manuel und so viele andere. Wer sagt uns, daß Sie ihren neuen Helden nicht das gleiche Schicksal bereiten? . . . Es ist nichts mehr sicher.«

»Nennen Sie die Namen, Bürger Blaise, nennen Sie die Namen der Helden, die wir aufopfern wollen!« rief Gamelin in einem Tone, der den Kunsthändler zur Vorsicht mahnte.

»Ich bin Patriot und Republikaner«, sagte er, die Hand aufs Herz legend. »Ebensosehr Republikaner und Patriot wie Sie, Bürger Evarist Gamelin. Ich zweifele Ihren Bürgersinn nicht an und bezichtige Sie durchaus nicht des Wankelmuts. Aber sehen Sie: mein Bürgersinn und meine Treue sind durch zahlreiche Taten bewiesen. Meine Grundsätze sind diese: Ich schenke jedem mein Vertrauen, der imstande ist, der Nation zu dienen. Vor den Männern, die durch öffentliche Wahl zur gefährlichen Ehre der gesetzgebenden Macht erhoben sind, wie Marat und Robespierre, neige ich mich in Ehrfurcht und bin bereit, sie mit meinen schwachen Kräften zu unterstützen, ihnen den schwachen Beistand eines guten Bürgers zu leisten. Die Ausschüsse können Zeugnis ablegen für meinen Eifer und meine Treue. In Gemeinschaft mit echten Patrioten habe ich Hafer und Furage für unsre brave Kavallerie und Stiefel für unsre Soldaten geliefert. Noch heute geht von Vernon ein Zug von sechzig Ochsen zur Südarmee, durch eine Gegend, die Räuber unsicher machen, und die Pitts und Condés Agenten durchstreifen. Ich rede nicht, ich handle.«

Gamelin legte seine Aquarelle ruhig in ihren Umschlag, knüpfte die Bänder zu und nahm ihn unter den Arm.

»Ein merkwürdiger Widerspruch,« sagte er, die Zähne aufeinander beißend, »wenn man unsern Soldaten hilft, die Freiheit gegen die ganze Welt zu behaupten, und sie daheim doch verrät, indem man Unruhe und Verwirrung in die Seele ihrer Verteidiger sät . . . Guten Abend, Bürger Blaise.«

Bevor Gamelin in die Gasse einbog, die am Oratorium entlang führte, drehte er sich noch einmal um und warf einen Blick auf die roten Nelken auf einem Fenstersims. Sein Herz schwoll über vor Liebe und Zorn.

Er verzweifelte nicht an der Rettung des Vaterlandes. Den gesinnungslosen Worten des Jean Blaise setzte er seinen revolutionären Glauben entgegen. Trotzdem konnte er nicht leugnen, daß dieser Händler mit einem Anschein von Recht behauptete, das Volk von Paris würde gegen die Ereignisse flau. Wußte er doch leider selbst, daß die erste Begeisterung einer allgemeinen Gleichgültigkeit gewichen war, daß man die gewaltigen, einmütigen Massen von 89, die Millionen harmonischer Seelen nicht mehr sah, die sich 90 um den Altar der Föderierten geschart hatten. Aber gerade darum mußten die guten Bürger ihren Eifer und ihre Kühnheit verdoppeln und das schläfrige Volk aufrütteln, indem sie ihm nur die Wahl zwischen Tod und Freiheit ließen.

Also dachte Evarist Gamelin, und der Gedanke an Elodie befeuerte seinen Mut.

Als er am Seinekai anlangte, ging die Sonne hinter schweren Wolken wie hinter glühenden Lavagebirgen unter. Die Dächer der Häuser strahlten in goldigem Schein, und die Fensterscheiben blitzten. Und Gamelin malte sich im Geiste das Bild der Titanen aus, die aus den glühenden Trümmern der alten Welten die eherne Stadt Dike schmiedeten.

Da er kein Stück Brot für sich noch für seine Mutter hatte, so träumte er von der endlosen Tafel, an die sich die ganze regenerierte Menschheit setzen würde. Inzwischen redete er sich ein, daß das Vaterland als gute Mutter seinen treuen Sohn ernähren würde. Der Geringschätzung des Kunsthändlers zum Trotze zwang er sich zu dem Glauben, daß sein Plan eines revolutionären Kartenspiels neu und gut sei, und daß er mit seinen wohlgelungenen Aquarellen ein Vermögen unter dem Arm trüge. Demahis soll sie stechen, dachte er. Wir werden das neue patriotische Spiel selbst verlegen, und in einem Monat setzen wir sicher zehntausend Stück zu zwanzig Sous ab.

Und in seiner Ungeduld, dieses Projekt zu verwirklichen, strebte er mit großen Schritten nach dem Quai de la Ferraille, wo Demahis über dem Glaser wohnte.

Man mußte durch den Laden. Die Glaserfrau sagte, daß der Bürger Demahis ausgegangen sei, und dies nahm den Maler nicht wunder. Er wußte, daß sein Freund das Umherstreifen und das regellose Leben liebte, und er wunderte sich nur, daß jemand bei so wenig Beharrlichkeit so viel und so gut arbeiten konnte. Die Glaserfrau bot ihm einen Stuhl an. Sie war mürrisch und klagte über die schlechten Zeiten, obgleich die Revolution, die so viele Scheiben zerschlug, den Glasern viel einbrachte.

Als die Nacht anbrach, gab es Gamelin auf, seinen Freund zu erwarten, und verabschiedete sich. Beim Passieren des Pont-Neuf sah er berittene Nationalgarden vom Quai des Morfundus her anrücken und die Menge beiseite drängen. Sie trugen Fackeln in den Händen und eskortierten einen Henkerkarren, in dem ein völlig unbekannter Mann saß, unter lautem Säbelgerassel zur Guillotine. Es war irgendein Privilegierter von früher, das erste Opfer des neuen Revolutionstribunals. Man erkannte ihn undeutlich zwischen den Hüten der Gardisten. Er saß, die Hände auf dem Rücken gefesselt; sein geschorener Kopf, nach der Rückseite des Karrens gekehrt, wackelte hin und her. Neben ihm stand der Scharfrichter, gegen die Wagenleiter gelehnt. Die Vorübergehenden blieben stehen und meinten, es wäre wohl einer von denen, die das Volk aushungerten. Sie blickten ihn gleichgültig an. Gamelin trat näher und erkannte unter den Zuschauern Demahis, der sich durch die Menge drängte und quer über die Straße wollte. Er rief ihn an und legte ihm die Hand auf die Schulter. Demahis blickte sich um, er war ein schöner, kräftiger junger Mann. Früher, in der Akademie, hieß es, daß er den Kopf des Bacchus auf den Schultern des Herkules trüge. Seine Freunde nannten ihn Barbaroux, wegen seiner Ähnlichkeit mit diesem Volksvertreter.

»Komm«, sagte Gamelin zu ihm, »ich habe dir was Wichtiges mitzuteilen.«

»Laß mich«, wies ihn Demahis barsch ab.

»Ich lief eben einem herrlichen Weibe im Strohhut nach, einer Modistin mit blonden Haaren. Der verdammte Karren kam dazwischen . . . Sie ging vor mir her, jetzt ist sie schon am Ende der Brücke!«

Gamelin suchte ihn am Rocke festzuhalten und schwor, daß die Sache von Wichtigkeit wäre. Aber Demahis hatte sich schon durch Pferde, Garden, Säbel und Fackeln hindurchgedrängt und verfolgte die Modistin.


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