Anatole France
Die Götter dürsten
Anatole France

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Sechzehntes Kapitel

Drei Monate lang hatte Evarist Tag für Tag dem Vaterlande berühmte oder unbekannte Opfer geschlachtet, als er seinen eigenen Prozeß zu führen bekam. Einen der Angeklagten machte er zu seinem Angeklagten. Seit er am Revolutionsgericht wirkte, spähte er in der Menge der Angeschuldigten, die ihm zu Gesicht kamen, begierig nach Elodies Verführer, von dem er sich in seiner regen Phantasie eine Vorstellung mit einigen bestimmten Zügen gemacht hatte. Er dachte ihn sich jung, schön, frech und bildete sich fest ein, daß er nach England geflohen sei. Er glaubte ihn in einem jungen Emigranten namens Maubel zu entdecken, der, nach Frankreich zurückgekehrt, von seinem Wirt angezeigt und in einer Herberge in Passy verhaftet worden war. Der Staatsanwalt Fouquier führte die Untersuchung neben tausend andern. Man hatte bei ihm Briefe gefunden, welche die Anklage als Beweise für ein Komplott ansah, das Maubel mit Pitts Agenten angezettelt hätte. In Wirklichkeit stammten die Briefe von einem Bankier in London, bei dem er sein Vermögen angelegt hatte. Maubel war jung und schön und schien vornehmlich Liebesabenteuern nachzugehen. In seinem Tagebuche fand man Aufzeichnungen über Beziehungen in Spanien, das damals mit Frankreich im Kriege lag. Diese Briefe waren in Wirklichkeit von intimer Art, und wenn die Behörde nicht die Niederschlagung des Prozesses verfügt hatte, so geschah dies zufolge des Grundsatzes, daß die Justiz sich nie beeilen soll, einen Gefangenen freizulassen . . . Gamelin erfuhr von dem ersten Verhör, das im Beratungszimmer mit Maubel angestellt worden war, und ihm fiel sogleich der Charakter des jungen Aristokraten auf; er schien ihm zum Charakter des Mannes, der Elodies Vertrauen mißbraucht hatte, vollkommen zu passen. Fortan saß er stundenlang in der Gerichtsschreiberei und studierte eifrig in den Akten. Sein Verdacht wurde eigentümlich bestärkt, als er in einem alten Notizbuch des Emigranten die Adresse »Amor als Maler« fand, allerdings im Verein mit der des »Grünen Affen«, der früheren »Kronprinzessin« und mehrerer anderer Bilder- und Kupferstichläden. Als er jedoch erfuhr, daß man in demselben Notizbuch einige Blätter von roten Nelken, in Seidenpapier eingewickelt, gefunden hätte, zweifelte er nicht mehr. Die roten Nelken waren Elodies Lieblingsblumen; sie zog sie vor ihrem Fenster, trug sie im Haar und gab sie – er wußte es ja – als Liebespfand.

Als er seiner Sache gewiß war, beschloß er, Elodie zu fragen, freilich ohne Angabe der Umstände, durch die er den Verbrecher entdeckt hatte.

Als er die Treppe zu seiner Wohnung hinaufstieg, quoll ihm schon in den unteren Etagen ein berauschender Fruchtgeruch entgegen. Im Atelier fand er Elodie, die der Bürgerin Gamelin beim Einmachen von Quitten half. Die alte Hausfrau legte Feuer im Herdofen an und überlegte sich gerade, wie sie Kohlen und Kochzucker sparen könnte, ohne daß es dem Eingemachten schadete. Die Bürgerin Blaise saß auf dem Rohrstuhl, hatte eine graue Leinenschürze vorgebunden und den Schoß voll goldiger Früchte. Sie schälte die Quitten und warf sie, in Viertel zerschnitten, in einen Kupferkessel. Die Spitzen ihrer Haube fielen zurück, und ihre schweren Locken ringelten sich auf ihrer feuchten Stirn. Ein fraulicher Reiz und eine häusliche Anmut gingen von ihr aus und erweckten holde Gedanken und sanfte Sehnsucht.

Ohne sich zu rühren, blickte sie ihren Geliebten mit ihren schönen, goldbraunen Augen an und sagte:

»Sehen Sie, Evarist, wir arbeiten für Sie. Den ganzen Winter werden Sie schmackhaftes Quittenmus essen, das Ihren Magen stärken und Ihnen das Herz froh machen wird.«

Doch Gamelin trat auf sie zu und sagte ihr ins Ohr den Namen »Jacques Maubel« . . .

In diesem Augenblick erschien die rote Nase des Schuhflickers in der Türspalte. Er brachte ausgebessertes Schuhzeug, dem er neue Hacken angesetzt hatte, und die Rechnung für Sohlen.

Um nicht für einen schlechten Bürger zu gelten, hatte er die Daten nach dem neuen Kalender aufgeschrieben. Die Bürgerin Gamelin, die klare Rechnungen liebte, wurde aus den Fructidors und Vendemiaires nicht klug.

»Jesus«, seufzte sie, »alles wollen sie ändern, Tage, Monate, Jahreszeiten, Sonne und Mond! Bei Gott, Herr Combalot, was ist das für ein Paar Überschuhe am 8. Vendemiaire?«

»Bürgerin, schauen Sie doch auf Ihren Kalender; dann werden Sie's wissen!«

Sie nahm ihn von der Wand, studierte ihn und wandte die Blicke gleich wieder ab.

»Der sieht gar nicht christlich aus!« sagte sie bestürzt.

»Nicht nur das, Bürgerin«, versetzte der Schuhflicker; »wir haben auch nur noch drei Sonntage statt vier im Monat. Ja, noch mehr, wir müssen unsere ganze Rechnerei ändern. Es soll künftig keine Heller und Pfennige mehr geben; alles soll nach dem destillierten Wasser eingeteilt werden.«Gemeint ist die Dezimaleinteilung des Geldes in Centimen nach Analogie des neu eingeführten Litermaßes, das einem Kubikdezimeter Wasser oder einem Kilogramm entspricht. D. Übers.

Bei diesen Worten blickte die Bürgerin Gamelin mit bebenden Lippen zur Decke und seufzte: »Das ist zu viel!«

Während sie so klagte, wie die heiligen Frauen auf ländlichen Kalvarienbergen, qualmte eine Kohle in der Herdglut und erfüllte das ganze Atelier mit einem Gestank, der im Verein mit dem starken Geruch der Quitten zum Ersticken war.

Elodie klagte, daß der Rauch sie im Halse kratze, und bat, das Fenster zu öffnen. Doch als der Bürger Schuhflicker gegangen und die Bürgerin Gamelin wieder an ihren Herd geeilt war, sagte Evarist seiner Geliebten von neuem den Namen »Jacques Maubel« ins Ohr.

Sie blickte ihn überrascht an und fragte seelenruhig, während sie eine Quitte durchschnitt:

»Nun, und? – Jacques Maubel . . .«

»Er ist's.«

»Wer? Er?«

»Du gabst ihm eine rote Nelke.«

Sie behauptete, ihn nicht zu verstehen, und bat ihn um Aufklärung.

»Der Aristokrat! . . . Der Emigrant! . . . Der verfluchte Kerl.« Sie zuckte die Achseln und erklärte mit großer Natürlichkeit, einen Jacques Maubel hätte sie nie gekannt. Und es war wirlich so.

Sie leugnete auch, je einem andern als Evarist rote Nelken gegeben zu haben; doch darin ließ ihr Gedächtnis sie wohl im Stiche.

Er war kein Frauenkenner und hatte Elodies Charakter nicht recht begriffen; trotzdem traute er ihr wohl zu, daß sie sich verstellen und auch einen Geschickteren als ihn hintergehen könnte.

»Warum leugnen?« sagte er. »Ich weiß alles.«

Sie versicherte abermals, daß sie keinen Maubel kenne. Nachdem sie alle Quitten geschält hatte, bat sie um Wasser, weil ihr die Finger klebten.

Gamelin brachte ihr eine Waschschüssel. Und beim Händewaschen wiederholte sie ihre Leugnung. Er erklärte nochmals, alles zu wissen, und nun schwieg sie.

Sie wußte nicht, was ihr Liebhaber mit seiner Frage bezweckte, und hatte nicht die mindeste Ahnung, daß dieser Maubel, dessen Namen sie nie gehört hatte, vor dem Revolutionstribunal erscheinen sollte. Sie begriff nichts von dem Argwohn, mit dem er sie plagte, und wußte nur, daß er grundlos war. Und da sie keine Hoffnung hatte, diesen Verdacht zu zerstreuen, so gab sie sich auch keine Mühe mehr dazu. Sie verteidigte sich nicht länger und ließ den Eifersüchtigen lieber auf einer falschen Fährte, zumal ja der geringste Zufall ihn jeden Augenblick auf die richtige Spur bringen konnte. Ihr kleiner verflossener Schreiber, der ein hübscher, patriotischer Reiter geworden war, hatte mit seiner aristokratischen Freundin gebrochen. Traf er Elodie auf der Straße, so schien sein Blick ihr zu sagen: »Na, schönes Kind? Ich fühle es, ich werde Ihnen verzeihen, daß ich Ihnen die Treue brach, und ich bin gern bereit, Ihnen wieder meine Achtung zu schenken.« Sie strengte sich also nicht mehr an, die vermeintlichen Grillen ihres Freundes zu verscheuchen; und Gamelin gewann die Überzeugung, daß Jacques Maubel Elodies Verführer gewesen sei.

In den folgenden Tagen war das Gericht unausgesetzt mit Vernichtung der Föderalisten beschäftigt, die wie eine Hydra die Freiheit zu verschlingen gedroht hatten. Es waren schwere Tage, und die erschöpften Geschworenen verurteilten in aller Eile die Bürgerin RolandDie Gattin des Girondisten und Ministers des Innern Roland, der vor der radikalen Bergpartei entfloh und sich 1793 selbst entleibte. Sie wurde am 9. November 1793 guillotiniert., deren Worte einer Römerin würdig waren, obwohl sie die Tribüne mit Murren aufnahm.

Jeden Morgen ging Gamelin in die Gerichtsschreiberei, um den Prozeß Maubel zu beschleunigen. Wichtige Schriftstücke befanden sich in Bordeaux; er setzte es durch, daß ein Kommissar sie mit der Post abholte. Endlich trafen sie ein.

Der Vertreter des Staatsanwalts las sie, schnitt ein Gesicht und sagte zu Gamelin:

»Diese Beweisstücke sind nichts wert; Es steht nichts drin als seichtes Zeug! – Wäre es nur sicher, daß der frühere Graf Maubel ausgewandert ist!« . . .

Endlich hatte Gamelin sein Ziel erreicht. Der junge Maubel erhielt seine Anklageschrift und erschien am 19. Brumaire vor dem Revolutionstribunal.

Die ständigen Besucher der Verhandlungen merkten dem Gericht von vornherein seine Befangenheit an. Der Präsident zeigte eine finstere, wütende Miene, die er immer aufsetzte, wenn er schlecht vorbereitete Prozesse zu leiten hatte. Der Vertreter der Anklage strich sich mit dem Federkiel über das Kinn und spielte die Heiterkeit des reinen Gewissens. Der Gerichtsschreiber verlas die Anklage; etwas so Hohles war noch nie gehört worden.

Der Präsident fragte den Angeklagten, ob ihm die Gesetze gegen die Emigranten nicht bekannt seien.

»Ich kenne sie und habe sie befolgt«, antwortete Maubel; »ich habe Frankreich mit vorschriftsmäßigen Pässen verlassen.« Über die Gründe seiner Reise nach England und seiner Heimkehr nach Frankreich gab er befriedigende Auskunft. Sein Gesicht war sympathisch; er hatte eine stolze, freimütige Miene, die allgemein gefiel. Die Frauen auf den Tribünen blickten ihn wohlwollend an. Nach Behauptung der Anklage hatte er sich in Spanien zu einer Zeit aufgehalten, wo dieses Land sich schon im Kriege mit Frankreich befand. Er versicherte, damals nicht über Bayonne hinausgekommen zu sein. Nur ein Punkt blieb dunkel. Von seinen Papieren, die er in den Kamin geworfen hatte, als man ihn verhaftete, waren nur noch ein paar Fetzen übrig, auf denen spanische Worte und der Name »Nieves« zu lesen war.

Über diesen Punkt verweigerte Jacques Maubel jeden Aufschluß.

Ja, auf die Vorhaltung des Präsidenten, daß es im eigenen Vorteil des Angeklagten läge, Aufklärung zu geben, erwiderte er, man solle nicht immer seinem Vorteil nachgehen.

Gamelin wollte den Angeklagten nur eines Verbrechens überführen. Dreimal drang er in den Präsidenten, Maubel zu befragen, ob er sich über die Nelke äußern könnte, deren getrocknete Blätter er sorgfältig in seiner Brieftasche aufhob. Maubel antwortete, er hielte sich nicht für verpflichtet, auf eine Frage zu antworten, die die Justiz nicht interessierte, da man ja das Billett, das in dieser Blume versteckt war, nicht gefunden hätte.

Die Geschworenen zogen sich ins Beratungszimmer zurück. Sie waren günstig gestimmt gegen diesen jungen Mann, dessen im Grunde unaufgeklärter Fall vor allem Liebesgeheimnisse zu bergen schien. Diesmal hätten selbst die Guten und Gesinnungsvollen ihn gern freigesprochen. Einer von ihnen, der frühere Marquis, der sich der Revolution angeschlossen hatte, fragte:

»Wirft man ihm seine Geburt vor? Auch ich hatte das Unglück, als Aristokrat auf die Welt zu kommen.«

»Jawohl«, entgegnete Gamelin, »aber du bist aus diesem Stand ausgetreten, und er ist darin geblieben.«

Und er wetterte so gegen diesen Verschwörer, diesen Sendling von Pitt, diesen Komplizen Coburgs, der über Meer und Gebirge gezogen war, um der Freiheit Feinde zu machen; er verlangte so glühend die Verurteilung des Verräters, daß er den steten Argwohn und die alte Strenge seiner Kollegen wachrief.

Einer von ihnen sagte zynisch:

»Es gibt Dienste, die man sich unter Kollegen nicht abschlagen darf.«

Er wurde mit einer Stimme Mehrheit zum Tode verurteilt. Der Verurteilte nahm diesen Spruch mit lächelnder Gefaßtheit entgegen. Seine Blicke, die ruhig durch den Saal schweiften, drückten, als sie auf Gamelin fielen, unsägliche Verachtung aus.

Der Spruch fand keinerlei Beifall.

Jacques Maubel ward ins Gefängnis zurückgeführt und schrieb vor der Hinrichtung, die noch am selben Abend bei Fackelschein stattfinden sollte, einen Brief:

»Liebe Schwester!

Das Tribunal schickt mich aufs Schafott; es ist die einzige Freude seit dem Tod meiner angebeteten Nieves. Sie haben mir das einzige genommen, was mir von ihr geblieben ist, eine Granatblüte, die sie, warum, weiß ich nicht, als Nelke bezeichneten.

Ich liebte die Kunst. In Paris sammelte ich in den glücklichen Zeiten Gemälde und Kupferstiche, die sich jetzt in Sicherheit befinden, und die man Dir sobald wie möglich herausgeben wird. Ich bitte Dich, liebe Schwester, sie als Andenken an mich zu bewahren.«

Er schnitt sich eine Haarlocke ab, legte sie in den Brief, faltete ihn zusammen und schrieb die Adresse:

»An die Bürgerin Clémence Dezeimeris, geb. Maubel in La Réole.«

Alles, was er an Geld besaß, gab er dem Gefängniswärter, und bat ihn, diesen Brief zu besorgen. Dann bestellte er sich eine Flasche Wein und leerte sie schluckweise in Erwartung des Henkerkarrens . . .

Nach dem Abendbrot eilte Gamelin in den »Amor als Maler« und trat in das weiße Zimmer, in dem Elodie ihn allnächtlich empfing.

»Du bist gerächt«, sagte er. »Jacques Maubel ist nicht mehr. Der Karren, auf dem er zum Schafott gebracht wurde, fuhr bei Fackelschein an deinem Fenster vorbei.«

Sie begriff.

»Elender! Du hast ihn gemordet; und er war nicht mein Geliebter. Ich kannte ihn gar nicht . . . hab' ihn nie gesehen . . . Wie war er? Jung, liebenswert . . . unschuldig. Und du hast ihn gemordet, Elender! Elender!«

Sie sank ohnmächtig dahin. Doch in dem Schatten ihrer Umnachtung fühlte sie ihren Busen von Abscheu und Wollust schwellen. Sie kam halb zu sich; das Weiße ihrer Augäpfel trat unter ihren schweren Lidern hervor; ihre Brust hob sich und ihre tastenden Hände suchten ihren Geliebten. Sie preßte ihn in ihre Arme, als wollte sie ihn erdrücken, krallte ihre Nägel in sein Fleisch und gab ihm mit ihren zuckenden Lippen den stummsten, längsten, schmerzlichsten und süßesten Kuß.

Sie liebte ihn mit allen Sinnen, und je furchtbarer, je grausamer, je scheußlicher er ihr erschien, je mehr sie ihn mit dem Blut seiner Opfer bedeckt sah, um so mehr hungerte und dürstete sie nach ihm.


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