Anatole France
Die Götter dürsten
Anatole France

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Siebzehntes Kapitel

Am 24. Frimaire um zehn Uhr morgens, bei klarem, rosigem Sonnenschein, der das Eis der Nacht auftaute, begaben sich die Bürger Guénot und Delourmel, Kommissare vom allgemeinen Sicherheitsausschuß, in die Barnabitenkirche und ließen sich zum Überwachungsausschuß des Bezirks führen, der im früheren Kapitelsaal seinen Sitz hatte. Sie trafen den Bürger Beauvisage, der gerade Holzscheite in den Kamin warf, wurden ihn aber infolge seiner kleinen verkrüppelten Gestalt nicht gleich gewahr.

Mit der brüchigen Stimme aller Buckligen lud der Bürger Beauvisage die Kommissare ein, Platz zu nehmen, und stellte sich ihnen ganz zur Verfügung.

Guénot fragte ihn, ob ihm ein früherer Des Ilettes bekannt sei, der in der Nähe des Pont-Neuf wohnte. »Es ist«, setzte er hinzu, »einer, den ich verhaften soll.«

Damit entfaltete er den Befehl des allgemeinen Sicherheitsausschusses.

Beauvisage überlegte eine Weile, dann erwiderte er, daß ihm ein Individuum Des Ilettes nicht bekannt sei, und daß der Verdächtige dieses Namens nicht im Bezirk wohnen könnte. Auch einige Teile der Bezirke »Museum«, »Einheit«, »Marat« und »Marseille« lagen ja in der Nähe des Pont-Neuf; und wenn er doch im Bezirke wohnen sollte, dann jedenfalls unter anderem Namen als dem im Verhaftungsbefehl genannten. Nichtsdestoweniger sollte er bald ermittelt werden. «Verlieren wir keine Zeit!« sagte Guénot. »Er fiel unserer Wachsamkeit auf durch einen Brief einer seiner Mitschuldigen, der aufgefangen und dem Ausschuß vor vierzehn Tagen übergeben wurde. Erst gestern abend hat der Bürger Lacroix Kenntnis davon genommen. Wir sind überlaufen; die Anzeigen treffen von allen Seiten in solcher Fülle ein, daß man nicht mehr weiß, auf wen man hören soll.«

»Auch beim Überwachungsausschuß des Bezirks«, sagte Beauvisage stolz, »laufen unausgesetzt Anzeigen ein. Die einen machen ihre Enthüllungen aus Gesinnung; andere besticht der Hundert-Sous-Schein. Viele Kinder denunzieren ihre Eltern, um sie zu beerben.«

»Dieser Brief«, sagte Guénot, »stammte von einer frühen Rochemaure, einer galanten Frau, bei der Biribiri gespielt wurde. Er trägt die Adresse eines Bürgers Rauline, ist aber für einen Emigranten in Pitts Diensten bestimmt. Ich habe ihn bei mir, um Ihnen die nötigen Mitteilungen über den Des Ilettes zu machen.«

Er zog den Brief aus der Tasche.

»Er beginnt«, sagte er, »mit ausführlichen Angaben über die Konventsmitglieder, die man nach Behauptung dieser Frau mit Geld bestechen könnte oder auch mit dem Versprechen einer hohen Stellung in einer neuen, stabileren Regierung als diese. Dann folgt dieser Passus:

»Ich komme eben von Herrn Des Ilettes; er wohnt nahe beim Pont-Neuf in einer Dachstube, in der ihn nur die Katzen und der Teufel finden können. Seinen Lebensunterhalt verdient er sich mit Anfertigen von Hampelmännern. Er ist ein Mann von Verstand, darum teile ich Ihnen das Wesentlichste aus seinem Gespräch mit. Er glaubt nicht, daß der gegenwärtige Zustand noch lange andauern wird. Sein Ende sieht er nicht im Siege der Koalition, und die Ereignisse scheinen ihm recht zu geben. Denn wie Sie wissen, sind die Nachrichten vom Kriegsschauplatz seit einiger Zeit schlecht. Eher glaubt er an einen Aufstand der kleinen Leute und der Frauen aus dem Volke, die noch fest an ihrer Religion hängen. Der allgemeine Schrecken, den das Revolutionstribunal verbreitet, wird nach seiner Meinung bald ganz Frankreich gegen die Jakobiner in Aufruhr bringen. ›Dieses Tribunal‹, sagte er scherzend, ›das die Königin von Frankreich und eine Brotausträgerin richtet, gleicht jenem William Shakespeare, den die Engländer so lieben, und der in die erschütterndsten Szenen seiner Stücke grobe Narrenpossen einflicht.‹ Er hält es nicht für unmöglich; daß Robespierre die Königin-Witwe heiratet und sich zum Protektor des Königreichs machen läßt. – Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir die geschuldeten Summen, d. h. tausend Pfund Sterling, auf dem gewohnten Wege zukommen ließen. Aber schreiben Sie ja nicht an Herrn Morhardt: er ist eben verhaftet worden und ins Gefängnis gekommen, usw.«

»Herr Des Ilettes verfertigt Hampelmänner«, sagte Beauvisage; »das ist ein wertvoller Fingerzeig . . . Freilich gibt es viele solche kleinen Gewerbe im Bezirk.«

»Dabei fällt mir ein«, bemerkte Delourmel, »daß ich meinem Töchterchen Natalie, der Jüngsten, eine Puppe versprochen habe. Sie liegt krank am Scharlachfieber; die Flecke sind gestern gekommen. Das ist keine gefährliche Krankheit, verlangt aber viel Pflege. Und Natalie ist für ihre Jahre sehr entwickelt und geistig frühreif, bei zarter Gesundheit.«

»Ich«, sagte Guénot, »habe nur einen Jungen. Er spielt Reifen mit Faßbändern und macht sich kleine Montgolfieren, indem er in Säcke bläst.«

»Sehr oft«, bemerkte Beauvisage, »spielen die Kinder am liebsten mit Dingen, die kein Spielzeug sind. Mein Neffe Emil, ein geweckter Junge von sieben Jahren, amüsiert sich den ganzen Tag mit kleinen Holzstücken, aus denen er Bauten aufführt . . . Eine Prise gefällig?«

Damit bot er den beiden Kommissaren seine Schnupftabaksdose an.

»Jetzt müssen wir unserm Halunken an den Kragen«, sagte Delourmel, ein Mann mit mächtigem Schnurrbart und rollenden Augen.

»Ich habe heute morgen Appetit auf Aristokraten-Ragout mit einem Glas Weißwein.«

Beauvisage schlug den Kommissaren vor, mit ihnen in den Laden seines Kollegen Dupont des Älteren auf der Place Dauphine zu gehen. Der wüßte sicher Bescheid über den Des Ilettes.

Sie schritten durch die frische Morgenluft, von vier Grenadieren der Sektion begleitet.

»Haben Sie«, fragte Delourmel seine Gefährten, »schon das Jüngste Gericht der Könige gesehen? Das Stück ist sehenswert. Der Verfasser stellt dar, wie alle Könige Europas auf eine öde Vulkaninsel geflohen sind, und von dem Vulkan verschlungen werden. Ein patriotisches Stück.«

Am Ende der Rue de Harley erblickte Delourmel einen Handwagen, der wie eine Kapelle blinkte. Eine alte Frau schob ihn, die über ihrer Haube einen Hut aus Wachsleinen trug.

»Was verkauft die Alte da?« fragte er.

Sie antwortete selbst:

»Sehen Sie, meine Herren, kaufen Sie. Ich habe Rosenkränze, Kreuze, Bilder vom heiligen Antonius, heilige Schweißtücher, Tücher der heiligen Veronika, Ecce Homos, Agnus Dei, Hörner und Ringe vom heiligen Hubertus und alle frommen Gegenstände.«

»Das Arsenal des Fanatismus!« rief Delourmel aus und begann ein summarisches Verhör mit der Straßenhändlerin, die auf alle seine Fragen antwortete:

»Mein Sohn, seit vierzig Jahren verkaufe ich fromme Gegenstände.«

Der Kommissar vom allgemeinen Sicherheitsausschuß sah einen Blaurock vorbeikommen und riet diesem, die verdutzte Alte in die Conciergerie abzuführen.

Der Bürger Beauvisage bemerkte dagegen, daß es wohl Sache des Überwachungsausschusses sei, diese Händlerin zu verhaften und sie nach dem Bezirkshause zu bringen; überdies wüßte man nicht mehr, wie man sich dem früheren Kult gegenüber benehmen und ob man alles erlauben oder verbieten sollte, um es der Regierung recht zu machen.

Als sie in den Tischlerladen kamen, hörten die drei Kommissare wütendes Geschrei, vermischt mit dem Knirschen der Säge und dem Rumpeln des Hobels. Zwischen dem Tischler Dupont dem Älteren und seinem Nachbar, dem Portier Remacle, war wegen dessen Frau ein Streit ausgebrochen. Ein unwiderstehlicher Drang trieb die Bürgerin Remacle immer wieder in die Tischlerwerkstätte, von wo sie stets voller Hobel- und Sägespäne in die Portiersloge zurückkehrte. Der entrüstete Portier versetzte Mouton, dem Hunde des Tischlers, einen Fußtritt, obwohl sein eigenes Töchterchen Josephine das Tier gerade zärtlich umschlang. Josephine geriet in Wut und überhäufte ihren Vater mit Schimpfworten; und der Tischler schrie mit gereizter Stimme: »Lumpenkerl! Ich verbiete dir, meinen Hund zu mißhandeln!«

»Und ich«, entgegnete der Portier, seinen Besen erhebend, »ich verbiete dir . . .«

Während er noch sprach, flog ihm der Hobel des Tischlers am Kopfe vorbei und streifte ihn.

Sobald er den Bürger Beauvisage mit den beiden Kommissaren erblickte, lief er auf ihn zu und sagte: »Bürger Kommissar, du bist Zeuge, daß dieser Verbrecher mich ermordet hat . . .«

Der Bürger Beauvisage, auf dem Haupte die rote Mütze, das Abzeichen seiner Würde, streckte Frieden gebietend den Arm aus und sagte zu den beiden Feinden:

»Hundert Sous für den, der mir angibt, wo sich ein Verdächtiger befindet, der vom allgemeinen Sicherheitsausschuß gesucht wird. Es ist der frühere Des Ilettes, der Hampelmänner fabriziert.«

Da gaben beide, der Tischler wie der Portier, die Dachkammer von Brotteaux an und stritten sich nur noch um das Assignat von hundert Sous, das dem Angeber versprochen war.

Delourmel, Guénot und Beauvisage, gefolgt von den vier Grenadieren, dem Portier Remacle, dem Tischler Dupont und einem Dutzend Gassenbuben der Stadtgegend, stiegen gemeinsam die Treppe hinauf, die unter ihren Schritten erbebte, und kletterten die Bodenleiter empor.

Brotteaux saß in seiner Dachkammer und schnitt Hampelmänner aus, während der Pater Longuemare, ihm gegenübersitzend, ihre verstreuten Glieder auf Bindfaden zog und mit Befriedigung sah, wie unter seinen Fingern Takt und Harmonie entstanden.

Als der Mönch die Gewehrkolben auf der Treppe dröhnen hörte, erbebte er an allen Gliedern. Nicht, daß er mehr Angst gehabt hätte als Brotteaux, der unbewegt blieb, aber die irdischen Rücksichten hatten ihn nicht gelehrt, seine Haltung zu bewahren. Bei den Fragen des Bürgers Delourmel begriff Brotteaux, woher der Schlag kam, und er erkannte etwas spät, daß man sich den Frauen nie anvertrauen soll. Der Kommissar forderte ihn auf, ihm zu folgen; er nahm seinen Lukrez und seine drei Hemden mit.

»Dieser Bürger«, sagte er, auf den Vater Longuemare deutend, »ist ein Gehilfe, den ich zur Anfertigung meiner Hampelmänner engagiert habe. Er wohnt hier.«

Da aber der Mönch keinen Bürgerschein vorweisen konnte, so wurde er mitsamt Brotteaux verhaftet.

Als der Zug an der Portiersloge vorbeikam, blickte die Bürgerin Remacle, auf ihren Besen gestützt, ihren Mieter mit der Miene der Tugend an, die das Laster in der Hand des Gesetzes sieht. Die kleine Josephine hielt Mouton verächtlich am Halsband zurück, als er den Freund, der ihm Zucker gegeben, liebkosen wollte. Ein Schwarm Neugieriger erfüllte die Place de Thionville.

Am Fuße der Treppe traf Brotteaux mit einem Bauernmädchen zusammen, das die Treppe hinauf wollte. Sie trug unterm Arm einen Korb voll Eier und in der Hand einen Brotlaib, in ein Tuch eingeschlagen. Es war Athenais. Sie kam aus Palaiseau, um ihrem Retter eine Dankesgabe zu bringen. Als sie merkte, daß Beamte und vier Grenadiere »Herrn Maurice« abführten, blieb sie verblüfft stehen und fragte, ob es denn wahr sei, trat auf den Kommissar zu und sagte mit sanfter Stimme:

»Sie wollen ihn doch nicht verhaften? Das ist doch gar nicht möglich . . . Sie kennen ihn ja gar nicht!. . . Er ist so gut wie der liebe Gott.«

Der Bürger Delourmel stieß sie zurück und winkte den Grenadieren, weiterzugehen. Da schleuderte Athenais die schmutzigsten Schimpfworte, die gemeinsten Schmähungen gegen die Beamten und Soldaten, so daß ihnen zumute war, als würden alle Eimer vom Palais Royal und der Rue Fromenteau auf sie ausgegossen.

Dann schrie sie mit einer Stimme, die über den ganzen Platz gellte und die Menge der Zuschauer erbeben ließ: »Es lebe der König! Es lebe der König!«


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