Anatole France
Die Götter dürsten
Anatole France

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Vierzehntes Kapitel

Bei Morgengrauen stand der Pater Longuemare auf, fegte die Dachstube aus und ging in eine Kapelle der Rue de l'Enfer, in der ein Priester, der den Eid geleistet hatte, den Kirchendienst versah. Dort las er die Messe. Es gab in Paris Tausende solcher Verstecke, wo die Geistlichen, die den Eid nicht geleistet, heimlich ihre kleinen Gemeinden von Gläubigen versammelten. Die Bezirkspolizei, obwohl wachsam und mißtrauisch, drückte über diese geheimen Stätten der Andacht ein Auge zu, aus Furcht vor der Empörung der Gläubigen und aus einem Rest von Hochachtung für geheiligte Dinge. Der Barnabit sagte seinem Wirte Lebewohl, und dieser konnte ihn nur mit Mühe bewegen, zum Essen zurückzukehren. Zudem mußte er versprechen, daß die Mahlzeit weder reichlich noch gut sein sollte.

Als der Mönch fort war, legte Brotteaux in dem kleinen irdenen Ofen Feuer an und begann mit den Zurüstungen zur Mahlzeit des Mönches und des Epikureers. Zwischendurch las er in seinem Lukrez und dachte über das menschliche Schicksal nach.

Der alte Weltweise wunderte sich nicht, daß die Menschen als elende Wesen, als eitle Spielbälle der Naturkräfte, sich fast immer in peinlichen und absurden Lagen befanden. Aber er hatte die Schwäche, zu glauben, daß die Revolutionsmänner dümmer und boshafter wären als die übrige Menschheit, und damit geriet er in die Ideologie. Im übrigen war er kein Pessimist und hielt das Leben nicht für durchaus schlecht. Er bewunderte die Natur in mancher Hinsicht, besonders in der Mechanik der Himmelskörper und in den Funktionen der Liebe, und er fügte sich in den Gang des Lebens, in Erwartung des Tages, wo er weder Furcht noch Verlangen mehr kennen würde.

Er tuschte mehrere Hampelmänner sorgfältig an und verfertigte eine Zerlinde, die der Thévenin ähnlich sah. Dieses Mädchen gefiel ihm, und der alte Epikureer lobte die Anordnung ihrer Atome. Mit dieser Arbeit beschäftigte er sich bis zur Rückkehr des Barnabiten.

»Mein Vater«, sagte er, ihm die Tür öffnend, »ich sagte Ihnen voraus, daß unser Mahl kärglich sein würde. Es gibt nur Kastanien. Und dabei sind sie noch nicht mal recht schmackhaft.«

»Kastanien!« rief der Pater Longuemare lächelnd, »es gibt nichts, das besser schmeckt. Mein Vater war ein verarmter Edelmann aus der Gegend von Limoges; seine ganze Habe bestand in einem baufälligen Taubenschlag, einem verwilderten Obstgarten und ein paar Kastanienbäumen. Er lebte mit Frau und zwölf Kindern von dicken grünen Kastanien, und wir waren alle gesund und kräftig. Ich war der jüngste und ausgelassenste; mein Vater sagte im Scherz zu mir, er wollte mich als Freibeuter nach Amerika schicken . . . Ach! mein Herr, wie duftet diese Kastanienbrühe! Sie erinnert mich an den kinderreichen Tisch, an dem meine Mutter lächelnd saß . . .«

Nach der Mahlzeit ging Brotteaux zu dem Spielwarenhändler Joly in der Rue Neuve des Petits Champs; dieser nahm ihm die von Caillou abgelehnten Hampelmänner ab und bestellte fürs erste nicht zwölf Dutzend neue, sondern gleich vierundzwanzig Dutzend.

Als Brotteaux nach der Rue Royal kam, sah er auf dem Revolutionsplatz ein Dreieck aus Stahl zwischen zwei Holzpfosten blitzen; es war die Guillotine. Eine riesige fröhliche Zuschauermenge umdrängte das Schafott und erwartete die Ankunft der Henkerkarren. Weiber mit flachen Körben vor dem Leibe boten Butterkuchen feil. Teeverkäufer klingelten mit ihrer Schelle; am Fuße der Freiheitsstatue zeigte ein alter Mann Guckkastenbilder auf einer kleinen Bühne, über der sich in einer Schaukel ein Affe schwang. Hunde leckten unter dem Schafott das gestern vergossene Blut auf . . . Brotteaux kehrte nach der Rue St.-Honoré zurück. In seiner Dachstube fand er den Barnabiten, sein Brevier lesend. Er wischte sorgfältig den Tisch ab und legte seinen Malkasten nebst den Werkzeugen und dem Material seines Handwerks darauf. »Mein Vater«, sagte er, »erscheint Ihnen diese Beschäftigung Ihres geistlichen Standes nicht unwürdig, so helfen Sie mir bitte beim Anfertigen von Hampelmännern. Ein Herr Joly hat mir heute früh eine ziemlich große Bestellung gemacht. Ich will die fertigen Figuren antuschen, und Sie sind derweilen vielleicht so gut, Köpfe, Arme, Beine und Rümpfe nach diesen Modellen auszuschneiden. Es gibt keine bessern; sie sind von Watteau und Boucher gemacht.«

»Ich glaube allerdings,« sagte Longuemare, »daß Watteau und Boucher die rechten waren, um solches Zeug zu malen; es wäre für ihren guten Ruf besser gewesen, wenn sie nur harmlose Hampelmänner gemacht hätten wie diese. Ich will Ihnen gern helfen, nur fürchte ich, mir fehlt das nötige Geschick dazu.«

Der Pater Longuemare mißtraute seinem Geschick mit Recht. Nach mehreren mißlungenen Versuchen mußte er einsehen, daß er nicht imstande war, mit der Spitze des Federmessers hübsche Konturen aus einem Stück Pappe auszuschneiden. Doch als ihm Brotteaux Bindfaden und eine Packnadel gab, wußte er sehr geschickt den kleinen Figuren, die er nicht zu schneiden vermochte, Bewegung zu geben und sie tanzen zu lehren. Mit Vergnügen probte er ihre Schritte aus, ließ jede ein paar Gavottepas machen, und wenn sie seinen Ansprüchen genügten, so glitt ein Lächeln über seine strengen Züge.

Als er einen Bramarbas tanzen ließ, sagte er:

»Diese kleine Maske, mein Herr, bringt mich auf eine merkwürdige Geschichte. Es war im Jahre 1746, ich vollendete damals mein Noviziat unter dem Pater Magitot, einem Greise von tiefem Wissen und strengem Wandel. Wie Sie sich vielleicht noch entsinnen, übten die Hampelmänner damals, obwohl sie zum Vergnügen der Kinder bestimmt waren, auf Frauen und selbst auf junge und alte Männer einen seltsamen Reiz aus; sie machten in Paris Furore. Die Modegeschäfte waren voll davon; man fand sie bei Leuten von Stand, und nicht selten sah man auf der Promenade und auf der Straße eine ernste Persönlichkeit, die ihren Hampelmann springen ließ. Der Pater Magitot blieb trotz seines Alters und seines Standes vor dieser Ansteckung nicht bewahrt. Wie er alle Welt so beschäftigt sah, eine kleine Puppe aus Pappe tanzen zu lassen, zuckten seine Finger vor Ungeduld, und das wurde ihm bald zur Last. Eines Tages besuchte er Herrn Chauvel, einen Advokaten vom Parlamentsgericht, in einer wichtigen Sache, die den ganzen Orden betraf. Da sah er einen Hampelmann am Kamin baumeln und verspürte eine furchtbare Versuchung, an der Strippe zu ziehen. Nur mit großer Mühe überwand er sich. Aber dieser frivole Wunsch verfolgte ihn und ließ ihm keine Ruhe. Bei seinen Studien, in seinem frommen Sinnen, beim Gebet, in der Kirche, im Kapitel, im Beichtstuhl, auf der Kanzel – überall verfolgte er ihn. Nach mehreren Tagen schrecklicher Seelenpein trug er diesen ungewöhnlichen Fall dem Ordensgeneral vor, der damals zum Glück in Paris weilte . . . Dieser, ein Kirchenfürst, riet dem Pater Magitot, sein Verlangen zu befriedigen, da es an sich harmlos, in seinen Folgen jedoch lästig war und die Seele, die von ihm verzehrt wurde, durch seine Bezwingung ernstlich beunruhigte. Auf Anraten, oder besser auf Befehl des Generals ging der Pater Magitot nochmals zu Herrn Chauvel, der ihn wie das erstemal in seinem Amtszimmer empfing. Er sah den Hampelmann wieder am Kamin baumeln, trat hastig auf ihn zu und bat den Advokaten um Erlaubnis, an der Strippe ziehen zu dürfen. Der Advokat gewährte ihm diesen Wunsch und vertraute ihm an, daß er seinen Bramarbas öfters tanzen ließe, während er seine Plädoyers vorbereitete, ja, daß er noch am letzten Tage seine Verteidigungsrede für eine Frau, die fälschlich der Vergiftung ihres Gatten bezichtigt war, beim Takt dieser Puppe entworfen hätte. Zitternd ergriff Pater Magitot die Schnur und ließ den Bramarbas hüpfen, wie einen Besessenen, der exorziert wird. Als er so seine Laune befriedigt hatte, hörte die Besessenheit auf.«

»Ihre Geschichte nimmt mich nicht wunder, mein Vater«, sagte Brotteaux. »Derartige Besessenheit gibt es. Aber es sind nicht immer die Pappfiguren, die sie hervorrufen.«

Der Pater Longuemare, der tiefreligiös war, sprach nie von Religion; Brotteaux sprach beständig davon. Und da er Sympathie für den Barnabiten empfand, so gefiel er sich darin, ihn in die Enge zu treiben und ihn durch seine Einwände gegen verschiedene Glaubensartikel zu verwirren. Einmal, als sie gemeinsam Zerlinden und Bramarbasse anfertigten, sagte er zu ihm:

»Wenn ich die Ereignisse betrachte, die uns soweit gebracht haben, und mich frage, wer in der allgemeinen Torheit das Törichteste getan hat, so bin ich, geneigt zu glauben, daß es die Hofpartei war.«

»Mein Herr« erwiderte der Mönch, »alle Menschen werden verblendet wie Nebukadnezar, wenn sie Gott verläßt; aber kein Mensch war in unsern Tagen so tief in Unwissenheit und Irrtum versunken wie der Abbé Fauchet, kein Mensch so verderblich für das Königtum wie er. Gott muß sehr erzürnt auf Frankreich gewesen sein, um ihm den Abbé Fauchet zu senden!«Der Abbé Fauchet, ein Girondist, (1744-93), war Hofprediger, beteiligte sich an der Erstürmung der Bastille, wurde Präsident des Pariser Gemeinderates und der gesetzgebenden Versammlung und starb beim Sturze der Girondisten auf dem Schafott. – D. Übers.

»Mir scheint, wir haben schlimmere Übeltäter erlebt als den Unseligen Fauchet.«

»Auch der Abbé Grégoire hat viel Bosheit bewiesen.«Der Abbé Grégoire (1750-1831), Bischof von Blois, war Mitglied des Konvents. – D. Übers.

»Und Brissot? Und Danton? Und Marat? Und hundert andre? Was sagen Sie von denen, mein Vater?«

»Das sind Laien, mein Herr: die Laien tragen nicht die gleiche Verantwortung wie die Geistlichen. Das Böse, was sie tun, kommt nicht aus solcher Höhe und hat nicht so allgemeine Bedeutung.«

»Und Ihr Gott, mein Vater, was sagen Sie von dessen Verhalten in dieser Revolution?«

»Ich verstehe Sie nicht, mein Herr,«

»Epikur hat gesagt: Entweder will Gott das Böse verhindern, kann es aber nicht, oder er kann es, will es aber nicht. Entweder kann und will er es nicht, oder er will und kann es. Will er es und kann er es nicht, so ist er ohnmächtig; kann er es und will es nicht, so ist er schlecht; kann und will er es nicht, so ist er ohnmächtig und schlecht; will er es aber und kann er es, warum tut er es dann nicht, mein Vater?« So fragte Brotteaux, indem er auf seinen Partner einen befriedigten Blick warf.

»Mein Herr«, erwiderte der Mönch, »nichts ist kläglicher als die Einwände, die Sie da machen. Prüfe ich die Gründe des Unglaubens, so kommt es mir vor, als ob Ameisen einen brausenden Bergstrom mit ein paar Grashalmen abdämmen wollten. Gestatten Sie, daß ich mit Ihnen nicht disputiere. Ich hätte zu viel Gründe und zu wenig Geist. Zudem finden Sie Ihre Widerlegung in dem Buche des Abbé Guéné und in zwanzig andern. Ich will aber nur das eine sagen, was Sie da von Epikur berichten, ist eine Dummheit, denn er beurteilt Gott, als ob er ein Mensch wäre und menschliche Moral besäße. Wohlan, mein Herr, die Ungläubigen von Celsus bis auf Bayle und Voltaire haben die Dummen mit solchen Paradoxien irregeführt.«

»Da sehen Sie, mein Vater«, sagte Brotteaux, »wozu Ihr Glaube Sie hinreißt. Nicht zufrieden damit, daß Sie in Ihrer Theologie alle Wahrheit sehen, lassen Sie auch keine Wahrheit in den Werken so vieler Schöngeister gelten, die anders dachten als Sie.«

»Sie irren durchaus, mein Herr«, antwortete der Mönch. »Ich glaube im Gegenteil, das menschliche Denken kann nie völlig verkehrt sein. Die Atheisten nehmen die unterste Stufe der Erkenntnis ein; selbst auf dieser Stufe bleibt ihnen ein Schimmer von Vernunft und ein Blitz der Wahrheit; und obwohl sie in Finsternis getaucht sind, wohnt in ihrer Stirne doch Gottes Geist: es ist Luzifers Schicksal.«

»Wohlan, mein Herr«, entgegnete Brotteaux, »ich bin nicht so großmütig und gestehe Ihnen, daß ich in allen Werken der Theologen nicht einen Hauch von gesundem Menschenverstand sehe.«

Trotzdem verwahrte er sich dagegen, die Religion anzugreifen, da er sie als nützlich für das Volk ansah. Er hätte nur gewünscht, daß ihre Diener Philosophen und nicht Glaubensstreiter wären. Er beklagte es, daß die Jakobiner diese Einrichtung durch eine jüngere und bösartigere ersetzen wollten: die Religion der Freiheit und Gleichheit, der Republik und des Vaterlandes. Er hatte bemerkt, daß die Religionen in ihrer Jugendkraft wütender und grausamer sind, und daß sie mit zunehmendem Alter milder werden. Daher wünschte er, daß man beim Katholizismus bliebe, der in der Zeit seiner Kraft viele Opfer verschlungen hatte, jetzt aber unter der Last der Jahre den Hunger verloren hatte und sich mit vier bis fünf gebratenen Ketzern im Jahrhundert begnügte.

»Übrigens«, setzte er hinzu, »habe ich mich mit den Hostienessern und Christentumsverehrern stets gut vertragen. In Les Ilettes hatte ich einen Kaplan, der jeden Sonntag die Messe las: alle meine Gäste wohnten ihr bei. Die Philosophen waren die Andächtigsten und die Tänzerinnen die Inbrünstigsten. Damals war ich glücklich und hatte zahlreiche Freunde.«

»Freunde!« rief der Pater von Longuemare aus, »Freunde! . . . Ach, mein Herr, glauben Sie etwa, die liebten Sie, alle diese Philosophen und Kurtisanen, die Ihre Seele erniedrigt haben, so sehr, daß es Gott selbst schwer fiele, in ihr den Tempel wiederzuerkennen, den er sich zu seinem Ruhme erbaut hat?«

Der Pater von Longuemare wohnte nun schon acht Tage unbelästigt bei dem Zöllner. So gut es anging, befolgte er seine Ordensregel und erhob sich von seinem Strohsack, um auf den Steinfliesen niederzuknien und sein Nachtgebet zu verrichten.

Wiewohl beide nur elende Speisereste zu verzehren hatten, beobachtete er Fasten und Enthaltsamkeit. Als betrübter und zugleich lächelnder Zeuge dieser Strenge fragte der Philosoph ihn eines Tages:

»Glauben Sie wirklich, daß es Gott Freude macht, Sie so darben und frieren zu sehen?«

»Gott selbst«, erwiderte der Barnabit, »hat uns das Vorbild des Leidens gegeben.«

Am neunten Tage, den der Mönch in der Dachstube des Philosophen verbrachte, ging dieser eines Abends zur Dämmerstunde aus, um seine Hampelmänner zu dem Spielwarenhändler Joly zu bringen. Er verkaufte sie alle und kehrte fröhlich heim, als plötzlich auf dem früheren Karussellplatz ein Mädchen in blauseidenem, hermelinverbrämtem Pelz hinkend auf ihn zustürzte und sich in seine Arme warf.

Sie hielt ihn nach Art aller Schutzflehenden umschlungen und zitterte heftig. Er hörte das rasche Pochen ihres Herzens. Als er sah, wie pathetisch sie sich bei ihrem gewöhnlichen Aussehen benahm, dachte er als alter Theaterliebhaber, daß Mademoiselle Raucourt von ihr hätte lernen können. Sie sprach keuchend und suchte ihre Stimme zu dämpfen, aus Furcht, von den Passanten gehört zu werden.

»Nehmen Sie mich mit, Bürger, verbergen Sie mich aus Erbarmen! . . . Sie sind in meinem Zimmer in der Rue Fromenteau. Während sie heraufkamen, rettete ich mich zu Flora, meiner Nachbarin, und sprang durchs Fenster auf die Straße, wobei ich mir den Fuß verstaucht habe . . . Sie kommen, sie wollen mich ins Gefängnis werfen und mich umbringen . . . Letzte Woche haben sie Virginie umgebracht.«

Brotteaux begriff, daß sie die Häscher vom Revolutionsausschuß des Bezirks oder die Kommissare des allgemeinen Sicherheitsausschusses meinte. Die Stadtverwaltung besaß damals einen tugendhaften Ankläger, den Bürger Chaumette, der die Freudenmädchen als die verderblichsten Feindinnen der Republik verfolgte. Er wollte die Sitten bessern. Allerdings waren die Fräulein vom Palais Egalité wenig patriotisch. Sie wünschten den alten Zustand zurück und machten daraus nicht immer ein Hehl. Mehrere waren bereits als Verschwörerinnen guillotiniert worden, und ihr tragisches Geschick hatte unter ihresgleichen große Nacheiferung erregt.

Der Bürger Brotteaux fragte die Schutzflehende, durch welches Vorgehen sie sich die Verhaftung zugezogen. Sie schwor, keine Ahnung zu haben; sie hätte nichts getan, was man ihr vorwerfen könnte.

»Wohlan, mein Kind«, sagte Brotteaux, »du bist unverdächtig; so hast du nichts zu fürchten. Geh, leg dich zu Bette und laß mich in Frieden.«

Da gestand sie alles:

»Ich habe mir die Kokarde abgerissen und gerufen: – ›Es lebe der König!‹«

Er nahm sie mit sich längs des menschenleeren Seinekais; sie hängte sich in seinen Arm.

»lch liebe den König zwar nicht«, sagte sie. »Sie können sich denken, daß ich ihn nicht gekannt habe, und vielleicht war er ein Mensch wie die andern. Aber die da sind boshaft. Sie quälen mich, sie hudeln und schänden mich auf alle Weise; sie wollen mir mein Gewerbe verbieten. Sie können sich denken, wenn ich ein anderes hätte, so betriebe ich nicht so eines . . . Was wollen sie denn? Sie wüten gegen die Schwachen, die kleinen Leute, gegen den Milchhändler, den Kohlenhändler, den Wasserträger, die Wäscherin. Sie werden nicht eher zufrieden sein, als bis sie das ganze arme Volk gegen sich aufgebracht haben.«

Er blickte sie an: sie sah wie ein Kind aus. Ihre Angst war vorüber; sie lächelte fast und schritt, obwohl humpelnd, leichtfüßig dahin. Er fragte nach ihrem Namen, sie hieß Athenais und war sechzehn Jahre alt.

Brotteaux erbot sich, sie hinzuführen, wohin sie wollte. Sie kannte keine Seele in Paris, doch sie hatte eine Tante, eine Dienstmagd, in Palaiseau; die würde sie zu sich nehmen.

Brotteaux faßte einen Entschluß.

»Komm mit, mein Kind«, sagte er. Und er nahm sie mit sich; sie stützte sich auf seinen Arm. In seine Dachkammer zurückgekehrt, fand er den Pater Longuemare, der sein Brevier las. Er zeigte ihm Athenais, die er an der Hand führte.

»Mein Vater«, sagte er, »dies ist ein Mädchen aus der Rue Fromenteau, das gerufen hat: ›Es lebe der König!‹ Die Revolutionspolizei ist ihr auf den Fersen. Sie hat kein Obdach. Darf sie die Nacht hier bleiben?«

Der Mönch klappte sein Brevier zu.

»Verstehe ich Sie recht«, sagte er, »so fragen Sie mich, mein Herr, ob dieses junge Mädchen, das, wie ich, mit Verhaftung bedroht ist, diese Nacht zum Zwecke seines irdischen Heils das Zimmer mit mir teilen darf?«

»Jawohl, mein Vater.«

»Welches Recht hätte ich zum Widerspruch? Und um mich durch ihre Anwesenheit verletzt zu fühlen, müßte ich mich da nicht für besser halten, als sie?«

Er brachte die Nacht in dem wackeligen Lehnstuhl zu, in dem er, wie er versicherte, gut schlafen würde. Athenais legte sich auf die Matratze; Brotteaux nahm den Strohsack zum Lager und löschte das Licht aus.

Von den Kirchtürmen schallte der Schlag der Stunden und halben Stunden. Er fand keinen Schlaf und hörte die Atemzüge des Mönches und der Dirne. Der Mond, der Zeuge und das Abbild seiner einstigen Liebschaften, ging auf und fiel in die Dachstube. Ein Silberstrahl beleuchtete das blonde Haar, die goldenen Wimpern, die feingeschwungene Nase und den roten vollen Mund der Athenais, die mit geballten Fäusten schlief. »Die«, dachte er, »ist gewiß eine furchtbare Feindin der Republik!«

Als Athenais erwachte, war es heller Tag. Der Mönch war fort. Brotteaux saß unter der Dachluke und las in seinem Lukrez; er wollte nach der Lehre des lateinischen Dichters ohne Furcht und Verlangen leben, und doch war er von Sehnsucht und Sorge erfüllt.

Als Athenais die Augen aufschlug, sah sie erstaunt die Dachbalken über ihrem Kopfe. Alsbald erinnerte sie sich, lächelte ihrem Erretter zu und streckte ihm ihre hübschen, schmutzigen Hände entgegen, um ihn zu streicheln.

Dann richtete sie sich auf ihrem Lager empor und wies mit dem Finger auf den morschen Lehnstuhl, auf dem der Mönch die Nacht zugebracht hatte.

»Ist er fort? . . . Er ist doch nicht gegangen, mich anzuzeigen?«

»Nein, mein Kind. Es gibt keinen größeren Ehrenmann als den alten Narren.«

Athenais fragte, worin denn die Narrheit dieses Biedermannes bestände. Als Brotteaux antwortete, es wäre die Religion, verwies sie es ihm ernstlich, so zu reden, und erklärte die Menschen ohne Religion für schlimmer als Tiere. Was sie beträfe, so betete sie oft zu Gott und hoffte, daß er ihr ihre Sünden vergeben und sie in seinen Gnadenschoß aufnehmen würde.

Als sie merkte, daß Brotteaux ein Buch in der Hand hatte, hielt sie es für ein Meßbuch und sagte:

»Sehen Sie, auch Sie lesen Ihre Gebete! Gott wird's Ihnen vergelten, was Sie für mich taten.«

Brotteaux sagte ihr, daß dies kein Meßbuch sei, und daß es geschrieben wäre, bevor der Gedanke an die Messe auf die Welt gekommen sei. Da hielt sie es für ein Traumbuch und fragte, ob darin keine Erklärung stände für einen seltsamen Traum, den sie gehabt hätte. Sie selbst konnte nicht lesen und kannte vom Hörensagen nur diese beiden Arten von Büchern.

Brotteaux sagte ihr, daß dieses Buch nur den großen Traum des Lebens erklärte. Das schöne Kind fand die Antwort zu schwierig und gab es auf, sie zu verstehen. Dann tauchte sie ihre Nasenspitze in die irdene Schüssel, die Brotteaux jetzt an Stelle seiner früheren silbernen Waschschüssel benutzte, und frisierte sich vor dem Rasierspiegel ihres Wirtes mit ernster, peinlicher Sorgfalt. Ihre weißen Arme über dem Kopf verschränkend, sprach sie hin und wieder ein paar Worte.

»Sie sind reich gewesen?«

»Weshalb glaubst du das?«

»Ich weiß nicht. Aber Sie waren reich und ein Aristokrat, das weiß ich bestimmt.«

Sie zog aus der Tasche eine kleine, silberne Madonnenstatue in einem runden Kapellchen, ein Stück Zucker, Garn, eine Schere, ein Feuerzeug, mehrere Etuis; und nachdem sie sich das Nötige ausgesucht hatte, begann sie ihren Rock auszuflicken, der an mehreren Stellen zerrissen war.

»Zu deiner Sicherheit, Kind, stecke dies an deine Frisur«, sagte Brotteaux und gab ihr eine Kokarde in den Nationalfarben.

»Ich will es gern tun, mein Herr«, erwiderte sie, »aber nur Ihretwillen und nicht aus Liebe zur Nation.«

Als sie sich angekleidet und sich so hübsch wie möglich zurechtgemacht hatte, nahm sie ihren Rock mit beiden Händen auf, machte ihren Knicks, wie sie es auf dem Dorfe gelernt hatte und sagte:

»Mein Herr, ich bin Ihre ergebene Dienerin.«

Sie war bereit, ihrem Wohltäter auf alle Weise erkenntlich zu sein; doch sie fand es passender, daß er um nichts bat, und daß sie ihm nichts anbot; es schien ihr artig, ihre Dankesschuld auf geziemendere Art zu begleichen.

Brotteaux drückte ihr ein paar Assignaten in die Hand, damit sie mit dem Marktschiff nach Paliseau fahren konnte. Es war die Hälfte seines Vermögens; und obwohl er stets als freigebig gegen die Frauen bekannt war, hatte er doch noch nie eine so gleiche Güterteilung vorgenommen.

Sie fragte ihn, wie er hieße.

»Maurice, mein Kind.«

Ungern öffnete er ihr die Tür seiner Dachstube.

»Leb wohl, Athenais.«

Sie gab ihm einen Kuß.

»Herr Maurice, wenn Sie an mich denken, nennen Sie mich Martha; das ist mein Taufname. So wurde ich auf dem Dorfe genannt . . . Adieu und vielen Dank . . . Ich bin Ihre Dienerin, Herr Maurice.«


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