Anatole France
Die Götter dürsten
Anatole France

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Fünfundzwanzigstes Kapitel

Während die Henkerkarren, von Gendarmen umringt, nach dem Platze »des umgestürzten Thrones« rollten und Brotteaux und seine Mitgeschworenen zum Tode führten, saß Evarist in Gedanken versunken auf einer Bank im Tuileriengarten und wartete auf Elodie. Die Sonne ging zur Rüste und bohrte ihre glühenden Strahlen an das dichte Laub der Kastanienbäume. Am Gitter des Gartens ritt die Figur des Ruhmes auf geflügeltem Roß und blies ihre ewige Trompete. Die Zeitungsverkäufer riefen den großen Sieg bei Fleurus aus. »Ja«, dachte Gamelin, »der Sieg ist unser. Wir haben ihm Wert gegeben.«

Er sah die Schatten der verurteilten, schlechten Generale in dem blutigen Staube des Revolutionsplatzes wirbeln, wo sie geendet hatten. Und er lächelte stolz in dem Gedanken, daß ohne die Strenge, an der er seinen Anteil gehabt, die österreichischen Pferde jetzt die Rinde dieser Bäume abnagten.

»Heilsamer Schrecken!« so rief es in ihm. »O heiliger Schrecken! Vergangenes Jahr um diese Zeit waren unsere Verteidiger heldenmütige Besiegte in Lumpen; der Boden des Vaterlandes war vom Feind überschwemmt, zwei Drittel aller Departements in Aufruhr. Jetzt sind unsere Heere gut gekleidet, gut geschult, von fähigen Generalen geführt und ergreifen die Offensive, um die Freiheit über die Welt zu verbreiten. In ganz Frankreich herrscht Friede . . . Heilsamer Schrecken! O heiliger Schrecken! Vergangenes Jahr um diese Zeit war die Republik in Parteien zerspalten; die Hydra des Föderalismus drohte sie zu verschlingen. Jetzt herrscht die jakobinische Einheit in Kraft und Weisheit . . .«

Trotzdem war er finster. Eine tiefe Falte durchfurchte seine Stirn und ein bitterer Zug lag um seinen Mund. Er sagte sich: »Wir dachten: Siegen oder sterben. Wir irrten. Wir hätten sagen sollen: Siegen und sterben.«

Er blickte um sich. Kinder schütteten Sandhaufen auf. Frauen saßen auf Holzstühlen unter den Bäumen und stickten oder nähten. Passanten in Rock- und Kniehosen, merkwürdig elegant, strebten, an ihre Geschäfte oder Vergnügen denkend, nach Hause. Gamelin fühlte sich unter ihnen allein. Er war weder ihr Landsmann noch ihr Zeitgenosse. Was war nur geschehen? Wie war an die Stelle der Begeisterung der schönen Jahre nur die Gleichgültigkeit, die Ermüdung, ja vielleicht der Ekel getreten? Diese Leute wollten offensichtlich vom Revolutionstribunal nicht mehr reden hören und wandten sich von der Guillotine ab. Auf dem Revolutionsplatze zu lästig geworden, hatte man sie ans Ende vom Faubourg Antoine versetzt. Und selbst dort murrte das Volk, wenn die Henkerkarren vorbeikamen; ja, einige Stimmen sollten gerufen haben: »Genug!«

Genug, wo es noch Verräter und Verschwörer gab! Genug, wo die Ausschüsse erneuert, der Konvent gereinigt werden mußte! Genug, wo Verbrecher die Volksvertretung entehrten! Genug, wo man selbst im Revolutionstribunal den Sturz des Gerechten betrieb! Denn schrecklich zu denken und doch nur zu wahr! – selbst Fouquier schmiedete Ränke, und nur, um Robespierre zu verderben, hatte man ihm pomphaft siebenundfünfzig Opfer geschlachtet, die im roten Hemde der Vatermörder zur Richtstatt geschleppt worden waren! Welchem frevelhaften Mitleid gab Frankreich sich hin? Man mußte es also wider Willen retten, und wenn es nach Gnade schrie, sich die Ohren verstopfen und strafen. Ach! Das Schicksal hatte es so bestimmt: das Vaterland verfluchte seine Retter! Möge es uns verfluchen und gerettet werden! . . .

Es genügt nicht, obskure Opfer zu schlachten, Aristokraten, Finanzleute, Publizisten, Dichter, einen Lavoisier, einen Roucher, einen André Chénier. Man muß auch die allmächtigen Frevler strafen, die mit ihren bluttriefenden, goldgefüllten Händen den Sturz der Bergpartei betrieben, die Fouché, Tallien, Rovère, Carrier und Bourdon. Man muß den Staat von all seinen Feinden befreien. Hätte Hébert gesiegt, so wäre der Konvent gestürzt worden und die Republik rollte in den Abgrund. Hätten Desmoulins und Danton gesiegt, so verlor der Konvent jede Tugend und lieferte die Republik den Aristokraten, den Wucherern und Generalen aus. Wenn die Tallien und Fouché siegen, diese bluttriefenden, von Raub geschwellten Ungeheuer, so geht Frankreich in Schande und Verbrechen unter . . . Du schläfst, Robespierre, indes wutschnaubende, angsttrunkene Frevler dir den Tod bereiten und die Freiheit zu Grabe tragen wollen. Couthon, Saint-Just, was zaudert ihr, die Verschwörer zu brandmarken?

Wie? Der alte Staat, das königliche Ungeheuer sicherte sich die Macht, indem es alljährlich viermalhunderttausend Menschen einkerkerte, fünfzehntausend aufknüpfte und dreitausend räderte, und die Republik sollte zaudern, noch ein paar hundert Köpfe ihrer Sicherheit und ihrer Macht zu opfern? Waten wir im Blut und retten wir das Vaterland . . .

Wie er so dachte, eilte Elodie bleich und aufgelöst auf ihn zu. »Evarist, was hast du mir zu sagen? Warum kommst du nicht in den ›Amor als Maler‹, in das weiße Zimmer? Warum hast du mich hierher bestellt?«.

»Um dir ewig Lebewohl zu sagen.«

Sie murmelte, er sei von Sinnen, sie verstände ihn nicht . . .

Er unterbrach sie mit unmerklicher Handbewegung.

»Elodie, ich kann deine Liebe nicht annehmen.«

»Schweig still, Evarist, schweig still!«

Sie bat ihn weiterzugehen. Hier beobachtete und belauschte man sie. Er folgte ihr zwanzig Schritte, dann fuhr er sehr ruhig fort:

»Ich habe meinem Vaterlande mein Leben und meine Ehre geopfert. Ich werde verfemt sterben und vermache dir, Unglückliche, nichts als ein verfluchtes Andenken . . . Uns lieben? Kann man mich noch lieben? . . . Kann ich selbst lieben?«

Sie sagte ihm, er wäre wahnsinnig; sie liebte ihn und würde ihn stets lieben. Sie war leidenschaftlich, aufrichtig; doch auch sie fühlte es und besser als er, daß er recht hatte. Und sie wehrte sich gegen den Augenschein.

»Ich werfe mir nichts vor«, fuhr er fort. »Was ich tat, würde ich auch ein zweites Mal tun. Ich nahm den Fluch auf mich für mein Vaterland. Ich bin verflucht. Ich habe die Schranken der Menschheit überschritten, ich werde nie mehr zu ihr zurückkehren. Nein! Die große Aufgabe ist noch nicht vollendet. Ach, Güte, Vergebung! . . . Vergeben denn die Verräter? Üben denn die Verschwörer Güte? Die Zahl der Vaterlandsverräter nimmt unablässig zu. Sie wachsen aus dem Boden heraus, sie strömen von allen Grenzen herbei; Jünglingen, die besser im Felde gefallen wären, Greise, Kinder und Frauen mit der Maske der Unschuld, der Reinheit und Anmut. Und wenn man sie geopfert hat, finden sich immer mehr . . . Du siehst wohl, ich muß der Liebe Valet sagen, jeder Freude, allen Reizen des Lebens, ja dem Leben selbst.«

Er schwieg. Elodie war zum friedlichen Genuß geschaffen, und es graute ihr von Tag zu Tag mehr, in den Umarmungen dieses düsteren Liebhabers blutige Bilder mit den Eindrücken der Wollust zu vermischen. Sie gab keine Antwort. Evarist trank dieses Schweigen des jungen Mädchens wie einen bitteren Kelch.

»Du siehst, Elodie«, fuhr er fort, »wir werden fortgerissen . . . Unser eigenes Werk verschlingt uns. Unsere Tage und Stunden sind Jahre. Bald hab ich ein Jahrhundert gelebt. Sieh diese Stirn! Ist sie die Stirn eines Liebenden? Lieben . . .«

»Evarist, du bist mein, ich behalte dich; ich gebe dir deine Freiheit nicht wieder.«

Ihre Worte klangen, als brächte sie ein Opfer. Er merkte es und sie selbst auch.

»Elodie, kannst du eines Tages bezeugen, daß ich meiner Pflicht treu blieb, daß meine Seele rein und mein Herz lauter war, daß ich keine andere Leidenschaft hatte als das öffentliche Wohl, daß ich von Natur zartfühlend und zärtlich war? Kannst du sagen: ›Er lebte seiner Pflicht?‹ Doch nein, du wirst es nicht sagen. Und ich bitte dich, es nicht zu tun. Mein Andenken soll erlöschen. Mein Ruhm liegt in meinem Herzen; um mich her ist Schande. Wenn du mich je liebtest, so wahre über meinen Namen ewiges Schweigen.«

Ein Kind von acht bis neun Jahren, das seinen Reifen schlug, geriet in diesem Augenblick zwischen seine Beine. Er hob es plötzlich empor und schloß es in seine Arme:

»Kind, du wirst aufwachsen in Freiheit und Glück, und das dankst du dem verruchten Gamelin. Ich bin ein Ungeheuer, damit du gut sein kannst, ich bin erbarmungslos, damit sich morgen alle Franzosen unter Freudentränen umarmen.«

Er drückte es an seine Brust.

»Kleiner, wenn du ein Mann sein wirst, dann schuldest du mir dein Glück, deine Unschuld; und wenn du je meinen Namen hörst, wirst du ihn verfluchen.«

Damit setzte er das Kind zu Boden, und dieses floh entsetzt zu den Röcken seiner Mutter, die herbeigeeilt war, um es zu befreien. Es war eine junge Mutter von aristokratischer Schönheit, in weißem, feinem Leinenkleid, die ihren Knaben mit hochmütiger Miene davonführte.

Gamelin warf einen verstörten Blick auf Elodie:

»Ich habe dies Kind umarmt. Vielleicht lasse ich seine Mutter guillotinieren!«

Und er verließ sie mit großen Schritten und verschwand zwischen den Baumreihen.

Einen Augenblick blieb Elodie regungslos stehen und starrte zu Boden. Doch plötzlich stürzte sie ihrem Geliebten nach, ereilte ihn wütend, mit fliegenden Haaren, wie eine Mänade, packte ihn, als wollte sie ihn zerreißen, und mit einer von Blut und Tränen erstickten Stimme schrie sie ihn an:

»Wohlan, Geliebter, schicke mich auch zur Guillotine! Laß mir auch den Kopf abschlagen!«

Und bei dem Gedanken des Messers, das ihr den Nacken durchschnitt, schmolz ihr ganzer Leib in Grausen und Wollust hin.


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