Anatole France
Die Götter dürsten
Anatole France

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Viertes Kapitel

Es war zehn Uhr morgens. Die Aprilsonne tauchte das junge Blattgrün in Licht. Die Luft war durch das nächtliche Unwetter gereinigt und wundervoll mild. Vereinzelt kam ein Reiter die Allee des Veuves heruntergeritten und unterbrach die stille Einsamkeit. Am Rande des schattigen Baumganges, vor der Hütte der »Schönen aus Lille«, saß Evarist auf einer Holzbank und wartete auf Elodie. Seit dem Tage, wo ihre Finger sich auf der Stickerei begegnet waren und ihre Atemzüge sich vermischt hatten, war er nicht wieder zum »Amor als Maler« gegangen. Eine ganze Woche lang hatte sein stolzer Stoizismus und seine Schüchternheit, die ihn immer ungeselliger machte, ihn von Elodie ferngehalten. Er hatte ihr einen ernsten, düstern, glutvollen Brief geschrieben, worin er sich über das Unrecht beschwerte, das ihm der Bürger Blaise getan hätte; aber seine Liebe hatte er verschwiegen und seinen Schmerz unterdrückt. Er hatte nur geschrieben, er würde nicht mehr in den Kunstladen kommen, und bei diesem Entschluß verharrte er mit größerer Festigkeit, als einem liebenden Mädchen recht war.

Elodie war von entgegengesetzter Gemütsart und stets bereit, das, was ihr gehörte, zu verteidigen. Sie nahm sich sogleich vor, sich ihren Freund wiederzuholen. Ihr erster Gedanke war, ihn in seinem Atelier auf der Place de Thionville aufzusuchen; doch da sie wußte, daß er leicht erregt war und aus seinem Briefe auf einen gereizten Gemütszustand schloß, so fürchtete sie, daß er Vater und Tochter mit dem gleichen Hasse bedenken und es darauf ablegen könnte, sie nicht wiederzusehen. So hielt sie es dann fürs beste, ihm ein sentimentales, romantisches Stelldichein zu gewähren, dem er sich nicht entziehen konnte, bei dem sie ihn in aller Muße umstimmen und ihm Eindruck machen konnte, und bei dem die Einsamkeit sich mit ihr verschwor, um ihn zu bestricken und zu besiegen.

Kluge Baumeister hatten damals in allen englischen Gärten und Modepromenaden Strohhütten erbaut, die der ländlichen Sehnsucht der Städter schmeichelten. Die Hütte der »Schönen aus Lille«, in der Limonade verkauft wurde, stand in ihrer falschen Armseligkeit auf den künstlich nachgeahmten Trümmern eines alten Turmes und vereinte so den ländlichen Reiz mit der Schwermut der Ruinen. Ja, als ob eine Hütte und eine Turmruine noch nicht genügten, um gefühlvolle Seelen zu rühren, hatte der Limonadenverkäufer unter einer Trauerweide daneben ein Grabmal errichtet, eine Säule, die eine Graburne und die Inschrift trug: »Cleonice ihrem treuen Azor.« Hütten, Ruinen, Gräber – diese Symbole der Armut, des Verfalls und des Todes hatte die Aristokratie vor ihrem Untergange in ihren ererbten Parks angelegt. Und jetzt tranken, tanzten und liebelten die patriotischen Bürger mit Vorliebe in falschen Dorfhütten, im Schatten falscher Ruinen von Kreuzgängen, zwischen falschen Gräbern; denn Bürger wie Aristokraten waren Naturschwärmer und Schüler Rousseaus, mit empfindsamen Herzen und voller Philosophie. Evarist war vor der Zeit zum Stelldichein erschienen und wartete. Er zählte die Minuten an den Schlägen seines Herzens wie am Pendelschlag einer Uhr. Eine Patrouille mit Gefangenen kam vorbei. Zehn Minuten darauf schlüpfte eine rosagekleidete Dame, die nach der Zeitmode ein Blumenbukett in der Hand trug, in Gesellschaft eines Kavaliers im Dreispitz, mit rotem Rock, gestreifter Weste und gestreiftem Beinkleid in die Hütte. Beide sahen den galanten Pärchen der alten Zeit so ähnlich, daß man dem Bürger Blaise schon glauben mußte, es gäbe Eigenschaften an Menschen die keine Revolution ändert.

Kurz darauf kam von Rueil oder Saint-Cloud her ein altes Weiblein, das eine trommelartige, knallbunte Büchse in den Händen trug. Sie setzte sich auf die Bank, auf der Gamelin wartete, und stellte ihre Büchse neben sich. Der Deckel trug eine Vorrichtung, um Lose zu ziehen. Die arme Frau hielt nämlich in den Gartenanlagen Glücksgüter für Kinder feil. Sie verkaufte »Pläsiers« und gab damit einer alten Zuckerware einen neuen Namen. Denn mochte nun der altgewohnte Name »Oblaten« an Opfer und Schuld gemahnen, oder mochte man ihn aus Laune nicht mehr mögen, jedenfalls hießen die Oblaten damals »Pläsiers«.

Die Alte wischte sich mit dem Schürzenzipfel den Schweiß von der Stirn und begann zu jammern und Gott anzuklagen, daß er es der armen Kreatur so schlecht ergehen ließe. Ihr Mann hatte eine Schenke an der Seine in Saint-Cloud, und sie lief täglich bis nach den Champs-Elysées, lärmte mit ihrer Handklapper und rief: »Pläsiers, meine Damen!« Und all die Mühe und Arbeit reichte nicht hin, um ihr altes Leben zu fristen.

Als sie merkte, daß der junge Mann auf der Bank mit ihr Mitleid empfand, erklärte sie lang und breit, woher ihr Mißgeschick käme. Die Republik war schuld daran. Die hatte die Reichen enterbt und nahm damit den Armen das Brot vom Munde. Daß es nochmal besser werden würde, darauf war nicht zu hoffen. Vielmehr sprachen manche Anzeichen dafür, daß das Elend noch größer würde. In Nanterre hatte eine Frau ein Kind mit Natternkopf geboren; in die Kirche von Rueil hatte der Blitz eingeschlagen und das Kirchturmskreuz geschmolzen; in den Wäldern von Chaville hauste ein Werwolf. Maskierte Männer vergifteten die Brunnen und streuten Pulver, die Krankheiten erregten, in die Luft.

Evarist sah Elodie aus dem Wagen steigen. Er eilte auf sie zu. Die Augen des jungen Mädchens leuchteten in dem Helldunkel ihres Strohhutes; ihre Lippen, so rot wie die Nelken, die sie in der Hand trug, lachten. Ein schwarzseidenes Tuch kreuzte sich über ihrer Brust und war im Rücken geknotet. Ihr gelber Rock ließ die raschen Bewegungen der Knie durchblicken und gab die flachbeschuhten Füße frei. Die Hüften waren fast verschwunden, denn die Revolution hatte die Taille der Bürgerinnen »befreit«. Freilich trugen die Röcke so auf, daß sie die Hüften nicht sowohl verdeckten als übertrieben und die Körperformen nur unter ihrem vergrößerten Abbild verbargen.

Er wollte sprechen, fand aber keine Worte, und machte sich im stillen Vorwürfe über seine Verlegenheit. Elodie jedoch zog sie dem liebevollsten Empfang vor. Auch bemerkte sie, daß er seine Halsbinde kunstvoller als sonst umgelegt hatte, und das schien ihr ein gutes Zeichen. Sie reichte ihm die Hand. »Ich wollte Sie sehen«, sagte sie, »mit Ihnen reden. Auf Ihren Brief hab' ich nicht geantwortet. Er mißfiel mir; das war nicht Ihre Art. Bei größerer Natürlichkeit wäre er liebenswürdiger gewesen. Sie tun Ihrem Charakter und Geist unrecht, wenn Sie nicht mehr zum »Amor als Maler« kommen wollen, nur weil Sie dort eine kleine politische Meinungsverschiedenheit mit einem Manne hatten, der viel älter ist als Sie. Sie haben gewiß nicht zu befürchten, daß mein Vater Sie das nächstemal schlecht aufnimmt. Sie kennen ihn gar nicht. Er erinnert sich weder an das, was er zu Ihnen gesagt hat, noch an Ihre Antwort. Ich will zwar nicht behaupten, daß zwischen Ihnen große Sympathie herrscht, aber nachtragend ist er nicht. Offen gesagt, kümmert er sich nicht viel um Sie . . . und um mich. Er denkt nur an seine Geschäfte und an sein Vergnügen.«

Sie schritten den Anlagen zu, die die Hütte umgaben. Er folgte ihr nur widerwillig, denn er wußte, daß dort das Stelldichein der käuflichen Liebe und der flüchtigen Verhältnisse war. Sie setzte sich an den verstecktesten Tisch.

»Ich habe Ihnen viel zu sagen, Evarist! Die Freundschaft gibt Rechte; darf ich davon Gebrauch machen? Ich habe viel von Ihnen zu reden . . . und ein bißchen von mir, wenn's Ihnen recht ist.«

Der Limonadenverkäufer brachte eine Karaffe und Gläser. Sie schenkte als gute Hausfrau ein. Dann sprach sie von ihrer Kindheit, von der Schönheit ihrer Mutter, die sie gern pries, sowohl aus kindlicher Liebe, als auch deshalb, weil sie ihr die eigene Schönheit verdankte. Sie rühmte die Rüstigkeit ihrer Großeltern, denn sie war stolz auf ihr bürgerliches Geblüt. Sie erzählte, wie sie ihre holdselige Mutter mit sechzehn Jahren verloren, wie sie seither ohne Liebe, ohne Stütze gelebt hatte. Sie schilderte sich selbst als lebhaft, feinfühlig, beherzt und setzte hinzu:

»Evarist, ich habe eine zu traurige und einsame Jugend verbracht, um den Wert eines Herzens, wie das Ihre, nicht zu erkennen; und von mir aus verzichte ich nicht auf eine Sympathie, auf die ich zu zählen hoffte, und die mir teuer war.«

Evarist blickte sie zärtlich an.

»Sollte ich Ihnen wirklich nicht gleichgültig sein? . . . Dürfte ich glauben . . .«

Er hielt inne, um nicht zu viel zu sagen und eine so vertraute Freundschaft nicht zu mißbrauchen.

Sie reichte ihm ehrbar ihr Händchen, das halb aus den langen, engen Spitzenärmeln hervorsah. Ihr Busen hob sich in langen Seufzern.

»Legen Sie mir, Evarist, all die Gefühle bei, die ich nach Ihrem Wunsche für Sie haben soll, und Sie werden sich über meinen Herzenszustand nicht täuschen.«

»Elodie, Elodie«, stammelte er; »was Sie da sagen, werden Sie das auch wiederholen, wenn Sie wissen . . .«

Er zauderte, und sie senkte die Augen.

Und leiser setzte er hinzu:

». . . daß ich Sie liebe?«

Bei den letzten Worten errötete sie – vor Vergnügen. Und während ihre Augen eine zärtliche Wollust ausdrückten, zuckte ungewollt ein komisches Lächeln um ihre Mundwinkel.

Und da glaubt er, dachte sie, er hätte das erste Wort gesprochen! Und fürchtet wohl gar, mich zu kränken!

Und mit gütigem Tone erwiderte sie:

»Merken Sie denn nicht, mein Freund, daß ich Sie liebe?«

Sie wähnten sich allein auf der Welt. In seiner Begeisterung blickte Evarist zum blauen, lichtstrahlenden Himmel empor. »Sehen Sie, wie der Himmel auf uns herniederschaut! Er ist göttlich und gütig wie Sie, Heißgeliebte! Er hat Ihren Glanz, Ihre Sanftmut, Ihr Lächeln.«

Er fühlte sich eins mit der ganzen Natur, verknüpfte sie mit seiner Freude, seinem Stolze. Wie zur Feier seiner Verlobung hatten die Kastanien ihre Blütenkränze aufgesteckt, glühten die Riesenfackeln der Pappelbäume.

Er schwelgte im Gefühl seiner Kraft und seiner Größe. Sie war zarter und auch feiner, geschmeidiger und schmiegsamer. Sie nahm den Vorteil der Schwäche wahr und unterwarf sich ihm, sobald er sie erobert hatte. Jetzt, wo sie die Seine geworden war, erblickte sie in ihm den Herrn, den Helden, den Gott. Sie brannte darauf, zu gehorchen, zu bewundern und sich hinzugeben. Im Schatten des Buschwerks gab er ihr einen langen Kuß, und in seinen Armen fühlte sie sich hinschmelzen wie Wachs.

Lange sprachen sie nur voneinander und vergaßen die Welt. Evarist drückte vornehmlich allgemeine, unbestimmte Ideen aus, die Elodie entzückten. Sie dagegen sprach von holden und nützlichen Dingen, ging mehr ins einzelne. Schließlich, als sie sich sagte, daß sie nicht länger ausbleiben dürfte, stand sie entschlossen auf, gab ihrem Geliebten drei rote Nelken von ihrem Balkonfenster und sprang behend in das Kabriolett, in dem sie gekommen war. Es war ein gelb angestrichener Mietswagen auf sehr hohen Rädern, der gewiß nichts Besonderes hatte, so wenig wie der Kutscher. Aber Gamelin nahm sich nie einen Wagen und seine Umgebung ebensowenig. Und so krampfte sein Herz sich denn zusammen, als er sie auf diesen großen, rasch rollenden Rädern davonfahren sah, und eine trübe Ahnung befiel ihn. In einer Art von innerem Traumgesicht sah er, wie Elodie von dem Mietspferd entführt ward, aus der Gegenwart und Wirklichkeit fort in eine reiche, glücksfrohe Stadt, zu den Häusern des Luxus und der Genüsse, die sich ihm nie auftun würden. Der Wagen verschwand, und Evarists Verwirrung ließ nach. Trotzdem blieb eine dumpfe Angst in ihm zurück; er fühlte, die Stunden der Zärtlichkeit und des Weltvergessens, die er eben durchlebt hatte, würden nie wiederkehren.

Er ging durch die Champs-Elysées. Frauen in hellen Kleidern saßen plaudernd oder strickend auf den Holzstühlen, während ihre Kinder unter den Bäumen spielten. Eine Pläsierverkäuferin mit ihrer Trommel erinnerte ihn an die Alte in der Allée des Veuves. Ihm war, als ob zwischen dieser und jener ein ganzer Lebensabschnitt läge. Er ging über den Revolutionsplatz. Im Tuileriengarten hörte er von fern den brausenden Lärm der großen Tage, jenes Zusammenklingen von vieltausend Stimmen, die nach der Behauptung der Feinde der Revolution für immer verstummt waren. Er schritt eilig aus, dem wachsenden Lärm zu, gelangte in die Rue St.-Honoré und fand sie wimmelnd von Männern und Weibern, die »Vive la République!« schrien. Die Gartenmauern, die Fenster, die Balkons und Dächer waren mit Zuschauern besetzt, die Hüte und Tücher schwenkten. Unter Vorantritt eines Pioniers, der dem Zuge Bahn brach, umgeben von Magistratsbeamten, Nationalgarden, Kanonieren, Gendarmen und Husaren, nahte langsam über den Köpfen der Menge ein Mann von galliger Gesichtsfarbe, einen Eichenkranz auf dem Haupte, den Körper in einen alten grünen Überrock mit Hermelinkragen gehüllt. Die Frauen warfen ihm Blumen zu. Er schoß seine bohrenden Fieberblicke nach allen Seiten, als suchte er in dieser begeisterten Menge noch Volksfeinde, um sie zu denunzieren, und Verräter, um sie zu strafen. Als er vorbeikam, zog Gamelin den Hut und stimmte in den Ruf der Hunderttausende ein:

»Heil Marat!«

Wie das Geschick betrat der Triumphator den Saal des Konvents. Während die Menge sich langsam verlief, drückte Gamelin, auf einem Prellstein in der Rue St. Honoré sitzend, die Hand gegen sein heftig pochendes Herz. Was er eben gesehen, erfüllte ihn mit hehrer Bewegung und glühender Begeisterung.

Er liebte und verehrte Marat, der mit Fieberglut in den Adern, von Geschwüren verzehrt, den Rest seiner Kraft im Dienste der Republik erschöpfte, und der selbst ihn in seinem armen, jedermann geöffneten Hause mit offenen Armen empfing. Eifrig sprach er mit ihm von der öffentlichen Wohlfahrt und fragte ihn bisweilen nach den Anschlägen der Ruchlosen. Gamelin bewunderte es, daß die Feinde des Gerechten, die seinen Sturz wollten, seinen Triumph herbeigeführt hatten. Er segnete das Revolutionstribunal, das den Volksfreund freigesprochen und dem Konvent den eifrigsten und lautersten seiner Gesetzgeber zurückgegeben hatte. Im Geiste sah er noch einmal jenes fieberverzehrte Gesicht im Schmucke der Bürgerkrone, jenes Antlitz, das von tugendhaftem Stolze und erbarmungsloser Liebe erfüllt war, jenes gefürchtete, zerstörte, mächtige Antlitz mit dem verkniffenen Mund und die breite Brust jenes kraftstrotzenden Sterbenden, der von seinem Triumphwagen herab seinen Mitbürgern zuzurufen schien: »Nehmt mich zum Vorbild! Seid Patrioten bis in den Tod!«

Die Straßen waren leer geworden, die Nacht deckte sie mit ihren Schatten zu; der Laternenanzünder kam mit seiner Stocklaterne vorbei, und Gamelin murmelte:

»Bis in den Tod!«


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