Anatole France
Die Götter dürsten
Anatole France

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Zwanzigstes Kapitel

Wahrend einer langen Gerichtssitzung des Revolutionstribunals sitzt Evarist Gamelin auf seiner Bank in der heißen Luft. Er schließt die Augen und denkt:

Die Schlechtgesinnten zwangen Marat, sich in Löchern zu verbergen, und machten ihn so zu einem Nachtvogel, zum Vogel der Minerva, dessen Augen die Verschwörer in dem Dunkel erspähten, worin sie sich verbargen. Jetzt durchschaut ein kalter, blauer, ruhiger Blick die Feinde des Staates und entlarvt die Verräter mit einer Schärfe, die selbst jenem Volksfreunde fehlte, der nun im Garten der Cordeliers schlummert. Der neue Retter, ebenso eifrig und scharfsinniger als der erste, sieht, was niemand gesehen, und sein erhobener Finger verbreitet Schrecken. Er unterscheidet die fernsten, unmerklichen Schattierungen zwischen Gut und Böse, Laster und Tugend, die man ohne ihn zum Schaden des Vaterlandes und der Freiheit miteinander verwechselt hätte. Er zeichnet den schmalen festen Pfad vor, neben dem rechts und links nur Irrtum, Verbrechen und Verworfenheit liegen. Der Unbestechliche lehrt, wie man durch Übertreibung und durch Schwäche dem Auslande dient, indem man die Kulte im Namen der Vernunft verfolgt und im Namen der Religion den Gesetzen der Republik trotzt. Nicht minder als die Verbrecher, die einen Le Peltier und Marat opferten, dienen auch die dem Auslande, die göttliche Ehren für sie verlangen, um ihr Andenken in Mißachtung zu bringen. Ein Agent des Auslands ist, wer immer die Ideen der Ordnung, der Klugheit und Opportunität verwirft, ein Agent des Auslands, wer immer die Sitten verletzt, die Tugend beleidigt und in seinem zuchtlosen Herzen Gott leugnet. Die fanatischen Priester verdienen den Tod; aber es gibt auch eine Art Gegenrevolution, den Fanatismus, zu bekämpfen, es gibt verbrecherische Glaubensabschwörungen. Mit Mäßigung richtet man die Republik zugrunde, mit Gewalttätigkeit auch. O furchtbare Pflichten des Richters, die der weiseste der Menschen diktiert! Nicht nur die Aristokraten, die Föderalisten, die Verbrecher der orleanistischen Partei, die erklärten Feinde des Vaterlandes gilt es zu strafen. Der Verschwörer, der Agent des Auslandes, ist ein Proteus und nimmt alle Formen an. Er verkappt sich als Patriot, als Revolutionär, als Feind der Könige. Er heuchelt die Kühnheit eines Herzens, das nur für die Freiheit schlägt; mit dröhnender Stimme läßt er die Feinde der Republik erbeben.

Jetzt sind alle diese Schlechtgesinnten, die Gewalttätigen wie die Gemäßigten, alle diese Verräter, Danton, Desmoulins, Hébert, Chaumette unter dem Beil geendet. Die Republik ist gerettet; aus allen Ausschüssen und Volksversammlungen steigt einstimmiges Lob zu Robespierre und zur Bergpartei auf. Die Gutgesinnten rufen: »Würdige Vertreter eines freien Volkes, umsonst haben die Söhne der Titanen ihr stolzes Haupt erhoben. Wohltätiger Berg, schirmender Sinai, aus deinem kochenden Schoße brach der heilsame Blitz hervor! . . .« Dieses einstimmige Lob gilt auch dem Revolutionstribunal. Wie hold ist die Tugend, und wie süß ist die öffentliche Anerkennung für das Herz eines unbestechlichen Richters!

Und doch wie seltsam und besorgniserregend für ein patriotisches Herz! Wie? Um die Sache des Volkes zu verraten, genügten nicht Mirabeau, Lafayette, Bailly, Pétion und Brissot? Auch die, welche diese Verräter entlarvten, taten dies nur, um sie zu vernichten? Jene großen Bürger, die Urheber der großen Tage, arbeiteten mit Pitt und Coburg für das Königtum der Orleans oder die Vormundschaft Ludwigs XVII.? Wie? Chaumette und die Anhänger Héberts waren ruchloser als die Föderalisten, die sie unter das Beil brachten, und verschworen sich zum Sturze der Freiheit! Aber wird Robespierres blaues Auge unter denen die den ruchlosen Danton, den ruchlosen Chaumette stürzten, nicht morgen noch ruchlosere entdecken? Wann endet diese entsetzliche Kette der verratenen Verräter, und was entdeckt der Scharfblick des Unbestechlichen noch? . . .


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