Anatole France
Die Götter dürsten
Anatole France

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Zehntes Kapitel

Am Sonnabend früh um 7 Uhr klopfte Bürger Blaise mit dem Stiel seiner Reitpeitsche an die Tür des Ateliers. Er trug einen schwarzen Zweispitz, scharlachrote Weste, Lederhosen und gelbe Stulpstiefel. Die Witwe Gamelin unterhielt sich ehrbar mit dem Bürger Brotteaux, während Evarist sich vor einer Spiegelscheibe sein hohes weißes Halstuch umknüpfte.

»Guten Tag, Herr Blaise,« sagte die Bürgerin, »aber da Sie Landschaften malen wollen, so nehmen Sie doch den Herrn Brotteaux mit, er ist Maler.«

»Schön!« sagte Jean Blaise. »Bürger Brotteaux, kommen Sie mit.«

Als Brotteaux merkte, daß er nicht lästig wäre, nahm er den Vorschlag an. Er war von geselliger Natur und liebte Zerstreuungen.

Die Bürgerin Elodie kam die vier Treppen herauf, um Frau Gamelin zu umarmen, die sie »liebe Mama« nannte. Sie trug ein weißes Kleid und duftete nach Lavendel.

Eine alte Reisekutsche, mit zwei Pferden bespannt, wartete mit herabgeschlagenem Verdeck auf dem Platze. Rose Thévenin und Julie Hazard saßen im Vordersitz. Elodie ließ die Schauspielerin rechts von sich Platz nehmen, setzte sich links daneben, und die schlanke Julie ließ sich zwischen beiden nieder. Brotteaux nahm gegenüber der Bürgerin Thévenin Platz, Philipp Dubois setzte sich Fräulein Hazard und Evarist Elodie gegenüber. Auf dem Bock neben dem Kutscher thronte die Athletengestalt von Philipp Demahis, er erzählte dem erstaunt zuhörenden Rosselenker von einem Land in Amerika, wo die Würste auf den Bäumen wüchsen. Der Bürger Blaise, ein vorzüglicher Reiter, ritt vorweg, um den Staub des Wagens nicht zu schlucken.

Die Räder rollten über das Vorstadtpflaster, und die Insassen vergaßen ihre Sorgen beim Anblick der Felder, der Bäume und des Himmels. Ihre Gedanken wurden heiter und idyllisch. Elodie träumte von einer Hühnerzucht in einem am Fluß- oder Waldesrand gelegenen Dorfe, wo Evarist Friedensrichter wäre. Die Ulmen der Straße flogen im Fahren vorüber. Die Hunde in den Dörfern sprangen schief gegen den Wagen an und bellten vor den Beinen der Pferde, während ein großer Jagdhund, der quer über den Weg lag, sich mürrisch erhob. Die Hühner stoben auseinander und liefen über den Weg. Die Gänse wichen in dichter Schar langsam aus. Schmutzige Kinder glotzten das vorbeifahrende Gefährt an. Es war ein heißer Morgen bei klarem Himmel. Die dürren, riesigen Äcker dürsteten nach Regen. Vor Villejuif stieg alles aus. Als man durch den Ort schritt, ging Demahis in einen Fruchtladen, um den Damen Kirschen zu kaufen. Die Verkäuferin war hübsch: Demahis kam nicht wieder. Dubois rief ihn bei seinem Spitzhamen: »He! Barbaroux! Barbaroux! . . .«

Bei diesem verhaßten Namen spitzten die Einwohner die Ohren, und an den Fenstern erschienen Gesichter. Als sie aus dem Fruchtladen einen schönen jungen Mann von herkulischer Gestalt mit offener Weste und flatterndem Jabot heraustreten sahen, der einen Korb mit Kirschen auf seiner Schulter trug und seinen Rock an der Spitze des Spazierstockes befestigt hatte, hielt man ihn für den geächteten Girondisten. Sansculotten stürzten sich auf ihn und hätten ihn trotz seiner entrüsteten Proteste auf das Schulzenamt geschleppt, hätten der alte Brotteaux, Gamelin und die drei jungen Mädchen nicht bezeugt, daß er der Bürger Philipp Demahis, Kupferstecher von Beruf und ein guter Jakobiner sei. Außerdem mußte der Verdächtige noch seinen Bürgerschein vorzeigen, den er zufällig bei sich trug, denn er war in diesen Dingen sehr nachlässig. Erst jetzt entging er den Händen der Dorfpatrioten ohne andere Einbuße als die einer abgerissenen Spitzenmanschette; aber dieser Verlust ließ sich verschmerzen. Ja, die Nationalgardisten, die am kräftigsten angepackt und erklärt hatten, ihn im Triumphe auf die Amtsstube zu schleppen, baten ihn um Entschuldigung. Als Demahis frei war und die Bürgerinnen Elodie, Rose und Julianne ihn umringten, warf er Dubois, den er nicht leiden mochte und für einen Verräter hielt, ein bittres Lächeln zu und erklärte, ihn um Haupteslänge überragend:

»Dubois, wenn du mich noch mal Barbaroux nennst, so nenne ich dich Brissot: das ist ein kleiner lächerlicher Kerl mit fettigen Haaren, öliger Haut und klebrigen Händen. Kein Mensch wird zweifeln, daß du der schändliche Brissot, der Volksfeind bist, und die Republikaner werden bei deinem Anblick von Abscheu und Ekel gepackt werden und dich an der nächsten Laterne aufknüpfen . . . Verstehst du?«

Der Bürger Blaise, der mit seinem Pferd von der Tränke kam, versicherte, er habe die ganze Geschichte nur in Szene gesetzt, obwohl es allen so schien, als ob sie ohne ihn passiert wäre.

Man bestieg wieder den Wagen. Unterwegs band Demahis dem Kutscher auf, hier in der Ebene von Longjumeau wären früher Menschen vom Himmel gefallen, die nach Form und Farbe wie Frösche ausgesehen hätten, doch viel größer gewesen wären. Dubois und Gamelin führten Kunstgespräche. Dubois, ein Schüler von Regnault, war in Rom gewesen und hatte die Teppiche von Raffael gesehen, die er über alle Meisterwerke stellte. Bei Correggio bewunderte er das Kolorit, bei Annibale Carracci die Erfindung und bei Dominichino die Zeichnung; was aber den Stil betraf, so ging ihm nichts über die Bilder von Pompeo Batoni. Verkehrt hatte er in Rom bei Ménageot und bei Madame Lebrun. Da sich aber beide gegen die Revolution erklärt hatten, so schwieg er darüber. Dagegen rühmte er Angelika Kauffmann, die einen reinen Geschmack hatte und die Antike kannte.

Gamelin beklagte es, daß auf die Blütezeit der französischen Malerei, die erst sehr spät, mit Lesueur, Poussin und Claude Lorrain eingesetzt hatte, als die italienische und flämische Schule im Niedergang war, ein so rascher und tiefer Verfall gefolgt sei. Die Gründe dafür sah er in den öffentlichen Sitten und in der Akademie, die deren Ausdruck war. Doch zum Glück war die Akademie ja aufgehoben, und unter dem Einfluß der neuen Ideen schufen David und seine Schüler eine Kunst, die eines freien Volkes würdig war. Unter den jungen Künstlern erkannte Gamelin Hennequin und Topino-Lebrun neidlos als die ersten an. Dubois gab Regnault, seinem Lehrer, den Vorzug vor David und setzte seine Hoffnungen in der Malerei auf den jungen Gérard.

Elodie sagte der Bürgerin Thévenin Artigkeiten über ihr rotes Samtbarett und ihr weißes Kleid. Und die Schauspielerin rühmte die Toiletten ihrer beiden Gefährtinnen und verriet ihnen, wie sie sich noch schöner kleiden könnten, indem sie noch mehr auf Einfachheit hielten.

»Man ist nie einfach genug gekleidet«, sagte sie. »Wir lernen das im Theater, wo alle Bewegungen und Stellungen durch das Kleid durchscheinen sollen. Darin liegt die einzige Schönheit.«

»Sie haben recht, meine Schöne«, erwiderte Elodie. »Aber bei Kleidern ist nichts kostspieliger als die Einfachheit. Und wenn wir Fransen benutzen, so geschieht das nicht immer aus schlechtem Geschmack, sondern auch aus Sparsamkeit.« Sie sprachen lebhaft von den Herbstmoden, den Kleidern aus einem Stück und den kurzen Taillen.

»Viele Damen machen sich häßlich, indem sie der Mode folgen«, sagte die Thévenin. »Man muß sich nach seiner Körperform kleiden.«

»Schön« – warf Gamelin dazwischen – »sind nur die um den Körper gelegten, gerafften Stoffe. Alles Zugeschnittene und Genähte ist scheußlich.«

Diese Worte, die eher in ein Buch von Winckelmann als in den Mund eines Mannes gehörten, der mit Pariserinnen sprach, wurden mit Verachtung übergangen.

»Für den Winter«, sagte Elodie, »macht man lappländische Steppröcke aus Futtertaft oder Köperseide und langschößige Jacken à la Zuleima in rundem Schnitt mit türkischer Weste.«

»Das sind Kleider für arme Leute«, sagte die Thévenin. »Man kauft sie fertig. Ich habe eine kleine Schneiderin, die wunderbar arbeitet und nicht teuer ist. Ich schicke sie Ihnen, meine Liebste.«

Und mit leichten und raschen Worten entfalteten sie prüfend die feinen Gewebe, gestreiften Seidentaft, Uni-Pekingseide, Köper, Gaze und Nankingstoff.

Der alte Brotteaux hörte ihrem Geplauder zu und gedachte mit schwermütiger Wollust, wie diese Hüllen eine Saison lang die reizenden Formen verbergen, die auch nur wenige Jahre dauern, doch ewig wiederkehren wie die Blumen auf den Feldern. Und seine Blicke, die von den drei jungen Mädchen zu den Kornblumen und zu dem Mohn in den Ackerfurchen schweiften, wurden feucht von lächelnden Tränen.

Gegen neun Uhr kamen sie nach Orangis und kehrten im Gasthaus »Zur Glocke« ein. Der Bürger Blaise, der sich bereits zurechtgemacht hatte, streckte den Damen die Hände entgegen. Man bestellte das Mittagessen, dann zogen alle mit ihren Malkästen, Sonnenschirmen, Staffeleien und Papierblocks, die ein kleiner Dorfbube vor ihnen hertrug, zu Fuße nach der Mündung der Orge in die Yvette, einem reizenden Punkte, von dem man die grüne Ebene von Longjumeau übersah, begrenzt von der Seine und den Wäldern von Sainte-Geneviève. Jean Blaise, der die Führung des Künstlertrupps übernommen, wechselte mit dem früheren Finanzmann kurzweilige Reden, in denen ohne Ordnung und Wahl Verboquet der Großmütige, die Hausiererin Katharina Couissot, die Fräulein Chaudrons, der Zauberer Galichet und die neuern Gestalten von Cadet-Rousselle und Madame Angot vorkamen. Evarist wurde von plötzlicher Naturschwärmerei ergriffen; beim Anblick der garbenbindenden Erntearbeiter fühlte er seine Augen von Tränen feucht werden; Träume von Frieden und Eintracht erfüllten sein Herz. Demahis blies den Bürgerinnen die leichten Samenkörner des Löwenzahns in die Haare. Da sie alle drei eine städtische Vorliebe für Blumenpflücken hatten, so brachen sie auf den Wiesen Königskerzen mit ihren dicht um den Blumenstiel wachsenden Blüten, Glockenblumen mit ihren in Absätzen angeordneten, zartlila Glöckchen, die dünnen Raupen der duftenden Verbenen, Krauseminze, Schafgarbe, Gelbkraut und alle die Feldblumen des Spätsommers. Und da Rousseau das Botanisieren unter den Stadtmädchen in Mode gebracht hatte, so kannten alle drei die Namen und Liebesfunktionen dieser Blumen. Die zarten Kelche, von der Dürre halb welk, entblätterten sich in Elodies Händen und regneten zu ihren Füßen nieder. Sie seufzte in ehrlicher Trauer:

»Ach! Die Blumen welken schon!«

Alle machten sich an die Arbeit und suchten die Natur so wiederzugeben, wie sie sie sahen; aber jeder sah sie mit den Augen eines Meisters. Binnen kurzem hatte Philipp Dubois einen verlassenen Pachthof, sturmgeknickte Bäume, einen versiegten Gießbach im Stile von Hubert Robert gemodelt. Evarist Gamelin fand am Ufer der Yvette die Landschaften von Poussin wieder; Philipp Demahis entwarf einen Taubenschlag im Schelmenstil von Calott und Duplessis. Der alte Brotteaux, der die Holländer nachahmen wollte, strichelte sorgfältig an einer Kuh. Elodie skizzierte eine Strohhütte, und ihre Freundin Julie, die Tochter eines Farbenhändlers, setzte ihr die Farben auf. Dorfkinder drängten sich an sie heran und sahen zu, wie sie malte. Elodie hieß die Kinder, ihr aus dem Wege zu gehen, schalt sie »Fliegen« und gab ihnen Karamellen. Die Bürgerin Thévenin suchte sich die hübschesten von ihnen heraus, wischte ihnen den Mund ab, küßte sie und flocht ihnen Blumen ins Haar. Sie liebkoste sie sanft und schwermütig, weil sie nicht die Freude hatte, Kinder zu besitzen, und auch, um sich durch den Ausdruck zärtlicher Gefühle zu verschönen und ihre Kunst der Stellung und Gruppierung zu üben.

Sie war die einzige, die nicht malte oder zeichnete. Sie beschäftigte sich mit dem Einstudieren einer Rolle und noch mehr damit, zu gefallen. Mit ihrem Rollenheft in der Hand schwebte sie ätherisch und anmutig von einem zum andern. »Kein Teint, keine Figur, kein Körper, keine Stimme«, sagten die Frauen von ihr; sie erfüllte den Raum mit Bewegung, Farbe und Harmonie. Verblüht und doch hübsch, müde und doch unermüdlich, bildete sie das Entzücken der Reisegesellschaft. Launisch, aber stets lustig, empfindlich und reizbar und doch anschmiegend und bestimmbar, scharf in ihren Ausdrücken bei höflichstem Tone, eitel und bescheiden, ehrlich und falsch, aber stets köstlich, brachte es Rose Thévenin trotzdem nicht zur angebeteten Göttin, weil die Zeiten schlecht waren und weil Paris weder Weihrauch noch Altäre für die Grazien mehr besaß. Die Bürgerin Blaise schnitt zwar Gesichter, wenn sie von ihr sprach, und nannte sie ihre Stiefmutter, konnte sich der Wirkung ihrer Grazie aber doch nicht entziehen.

Im Theater Feydeau wurden die »Visitandinerinnen« geprobt, und Rose war glücklich, in diesem Stück eine Rolle voller Natürlichkeit zu spielen. Denn Natürlichkeit suchte sie, erstrebte und erreichte sie.

»Pamela wird also nicht gespielt?« fragte der schöne Demahis. Das Nationaltheater war geschlossen und die Schauspielerinnen nach der Besserungsanstalt geschickt worden.

»Ist das Freiheit?« rief die Thévenin, ihre schönen Augen entrüstet gen Himmel erhebend.

»Die Schauspieler vom Nationaltheater«, sagte Gamelin, »sind Aristokraten, und das Stück des Bürgers François ruft die Sehnsucht nach den Adelspriviligien wach.«

»Meine Herren,« fragte die Thévenin, »können Sie nur das anhören, was Ihnen schmeichelt?« . . .

Gegen Mittag wurden alle heißhungrig, und die kleine Gesellschaft kehrte ins Gasthaus zurück.

Evarist erinnerte Elodie lächelnd an ihre erste Begegnung. »Zwei junge Vögel waren vom Dache gefallen; ihr Nest war über Ihrem Fenstersims. Sie fütterten sie auf, der eine kam durch und flog davon. Der andre starb in dem Wattenest, das Sie ihm gemacht hatten. Sie sagten: ›Den hatte ich am liebsten‹. An diesem Tage trugen Sie, Elodie, eine rote Schleife im Haar.«

Philipp Dubois und Brotteaux waren etwas zurückgeblieben und sprachen von Rom, das sie beide besucht hatten, der eine 72, der andre in den letzten Tagen der Akademie. Der alte Brotteaux erinnerte sich der Prinzessin Mondragone, der er seine Liebe erklärt hätte, wäre ihr Graf Altieri nicht wie ihr Schatten gefolgt. Philipp Dubois verschwieg nicht, daß er beim Kardinal de Bernis gespeist hätte, und daß dieser der liebenswürdigste Wirt von der Welt gewesen sei.

»Ich habe ihn gekannt,« sagte Brotteaux, »und ohne mich zu rühmen, darf ich sagen, ich gehörte eine Zeitlang zu seinen intimsten Bekannten: er verkehrte nämlich gern mit dem Pöbel. Der Kardinal war ein liebenswürdiger Mann, und obwohl er von Berufs wegen Fabeln erzählte, so besaß er im kleinen Finger doch mehr gesunde Lebensweisheit, als alle unsre Jakobiner, die uns tugendhaft und göttergleich machen wollen, im Kopfe haben. Wahrhaftig, mir sind unsre schlichten Hostienesser, die nicht wissen, was sie reden und tun, weit lieber als die wütenden Gesetzesfabrikanten, die uns emsig guillotinieren, um uns zur Weisheit und zur Tugend zu erziehen und uns die Verehrung des höchsten Wesens zu lehren, das sie nach ihrem Ebenbild schufen. In der alten Zeit ließ ich in der Kapelle von Les Ilettes einen armen Teufel von Pfarrer die Messe lesen, der beim Glase Wein sagte: ›Schelten wir die armen Sünder nicht! Wir leben von ihnen, wir unwürdigen Priester!‹ Sie werden zugeben, mein Herr, daß dieser Paternosterbeter gesunde Grundsätze über die Regierung hatte. Dahin müßte man zurückkehren und die Menschen so regieren, wie sie sind, und nicht, wie man sie haben möchte.«

Die Thévenin hatte sich dem alten Brotteaux genähert. Sie wußte, daß er früher in großem Stile gelebt hatte, und in ihrer Phantasie umkleidete sie mit dieser glänzenden Erinnerung die gegenwärtige Armut des Finanzmannes, die ihr um so weniger demütigend erschien, als sie allgemein und durch die öffentliche Zerrüttung herbeigeführt war. In ihm sah sie mit einem Gemisch von Neugier und Hochachtung das Schattenbild eines jener freigebigen Krösusse, die ihre älteren Kollegen seufzend priesen. Auch die Manieren dieses Biedermannes in dem abgeschabten, aber sauberen, flohbraunen Rocke sagten ihr zu.

»Herr Brotteaux«, redete sie ihn an, »man weiß, daß Sie früher einen schönen Park besaßen, der des Nachts illuminiert wurde, und in dessen Myrtengebüschen Sie sich mit Schauspielerinnen und Tänzerinnen beim Klang ferner Flöten und Violinen verloren . . . Ach! Ihre Sterne von der Oper und der Comédie Française waren gewiß schöner als wir armen kleinen Schauspielerinnen von heute.«

»Durchaus nicht, mein Fräulein«, erwiderte Brotteaux. »Im Gegenteil; hätte es zu jener Zeit eine wie Sie gegeben, so wäre sie, wenn sie nur gewollt hätte, als alleinige Gebieterin und ohne jede Nebenbuhlerschaft in dem Park lustwandelt, von dem Sie sich eine so schmeichelhafte Vorstellung zu machen belieben . . .«

Das Gasthaus »Zur Glocke« war ländlich. Ein Stechpalmzweig hing über der Einfahrt, die in einen stets feuchten Hof führte, auf dem Hühner herumpickten. Die Rückseite des Hofes nahm das Gasthaus ein. Es bestand aus zwei Stockwerken mit hohem, bemoostem Ziegeldach. Die Mauern verschwanden unter alten Kletterrosen, die in vollem Flor standen. Rechts zog sich eine niedrige Gartenmauer hin, über die Distelköpfe hinwegsahen. Links war der Pferdestall mit einer Raufe an der Außenwand und ein Heuboden mit offenem Balkenwerk. An der Mauer lehnte eine Leiter. Unter einem Schuppen, der voller Ackergerät und Baumstümpfe war, saß auf einem alten zweirädrigen Wagen ein weißer Hahn und bewachte seine Hennen. Auf dieser Seite war der Hof durch Viehställe begrenzt; davor ragte wie ein Siegesmal ein Dunghaufen empor, den eben eine strohblonde Magd, mehr breit als lang, mit ihrer Forke umgrub. Ihre Holzschuhe waren voller Jauche, die ihre bloßen Füße netzte, so daß die Hacken, die sich hin und wieder hoben, safrangelb waren. Unter ihrem hochgeschürzten Rock kamen die dicken, tiefsitzenden, schmutzigen Waden zum Vorschein. Philipp Demahis sah ihr zu, überrascht und belustigt von dem wunderlichen Naturspiel, das diesem Mädchen mehr Breite als Länge gegeben hatte.

Der Wirt rief: »He, Klotz! Geh Wasser holen!«

Sie drehte sich um und zeigte ein scharlachrotes Gesicht mit breitem Munde, dem ein Stück Kiefer fehlte. Ein Stierhorn war nötig gewesen, um in dieses mächtige Gebiß eine Lücke zu schlagen. Sie nahm ihre Forke auf die Schulter und grinste. Ihre dicken Arme glänzten in der Sonne.

Der Tisch war in der niedrigen Wirtsstube gedeckt. Auf dem Rande des mit alten Flinten geschmückten Herdmantels brutzelten die Brathühner. Die Wirtsstube war mehr als zwanzig Fuß lang und mit Kalk getüncht. Sie erhielt ihr einziges Licht durch die grünlichen Scheiben der Tür und ein rosenumranktes Fenster, an dem die Großmutter am Spinnrade saß. Sie trug eine Spitzenhaube aus der Zeit der Regentschaft. Mit den knotigen Fingern ihrer braungefleckten Hände drehte sie die Spindel. Fliegen setzten sich auf den Rand ihrer Augenlider; sie verscheuchte sie nicht. Als ihre Mutter sie noch im Arme trug, hatte sie Ludwig XIV. in einer Karosse vorbeifahren sehen.

Vor sechzig Jahren war sie nach Paris gereist. Mit schwacher, singender Stimme erzählte sie den drei jungen Mädchen, die vor ihr standen, sie hätte das Rathaus, die Tuilerien und die Samaritaine gesehen, und als sie über den Pont Royal ging, war ein Apfelkahn, der nach dem Obstmarkte fuhr, geborsten, und die Äpfel waren von der Strömung fortgerissen worden, so daß die Seine ganz purpurrot wurde.

Sie wußte von den neuen Veränderungen im Königreich und vor allem von dem Streit zwischen den Pfarrern, die auf die neue Verfassung den Eid geleistet, und denen, die ihn verweigert hatten. Auch wußte sie, daß Kriege und Hungersnöte ausgebrochen und daß Zeichen am Himmel erschienen waren. Daß der König tot sei, glaubte sie nicht. Man hätte ihn, sagte sie, durch einen Keller entweichen lassen und an seiner Stelle einen Mann aus dem Volke geköpft.

Zu Füßen der Ahne lag in seiner Wiege das jüngste Kind des Gastwirts im Zahnfieber. Die Thévenin hob den Vorhang des Weidenkorbes auf und lächelte dem Kinde zu. Es mußte wohl recht krank sein, denn man hatte den Arzt, den Bürger Pelleport, gerufen, der als stellvertretendes Konventsmitglied für seine Besuche kein Geld nahm.

Die Bürgerin Thévenin, ein Kind aus dem Volke, war überall zu Hause. Unzufrieden mit der Art, wie der »Klotz« das Geschirr gewaschen hatte, wischte sie die Teller, Gläser und Gabeln ab, indes die Gastwirtin, die Bürgerin Poitrine, die Suppe kochte und sie als gute Hausfrau abschmeckte. Elodie schnitt ein noch backwarmes Vierpfundbrot auf. Als Gamelin dies sah, sagte er zu ihr:

»Vor ein paar Tagen las ich ein Buch von einem jungen Deutschen, dessen Namen ich vergessen habe; die Übersetzung war gut. Ein schönes junges Mädchen, namens Lotte, schnitt wie Sie, Elodie, und ebenso anmutig das Brot auf, so daß der junge Werther sich beim bloßen Zusehen in sie verliebte.«

»Und haben die beiden sich geheiratet?« fragte Elodie.

»Nein,« erwiderte Evarist, »es endete mit Werthers gewaltsamem Tode.«

Da alles heißhungrig war, langte man zu, obschon das Essen mäßig war. Jean Blaise beschwerte sich darüber: er war ein Feinschmecker, und gut zu speisen war für ihn eine Lebensregel; ja, gerade wegen der allgemeinen Teuerung erhob er seine Feinschmeckerei zum System. Die Revolution hatte in allen Häusern den Suppentopf umgestoßen. Die meisten Bürger hatten nichts zu beißen. Geschickte Leute, wie Jean Blaise, die bei dem allgemeinen Elend viel verdienten, gingen ins Restaurant und bewiesen ihren Geist im Schlemmen. Brotteaux, der im Jahre 2 der Republik von Kastanien und Brotrinden lebte, gedachte an die Zeiten, wo er bei Grimod de la Reynière am Eingang der Champs-Elysées soupiert hatte. In dem Wunsche, sich bei dem Kohl mit Speck, den die Bürgerin Poitrine gekocht hatte, als Feinschmecker zu beweisen, erging er sich in Küchenrezepten und guten kulinarischen Regeln. Und als Gamelin erklärte, ein Republikaner verachte die Tafelgenüsse, gab der alte Steuerpächter und Altertumsfreund dem jungen Spartaner das echte Rezept der schwarzen Suppe. Nach Tisch ließ Jean Blaise, der die ernsten Geschäfte nicht vergaß, durch seine ländliche Malakademie Skizzen und Entwürfe des Gasthofes anfertigen, den er in seinem Verfall ganz romantisch fand. Während Demahis und Dubois die Kuhställe zeichneten, ging der »Klotz« die Schweine füttern. Der Bürger Pelleport, der eben aus der Wirtsstube kam, wo er dem zahnenden Kinde einen Krankenbesuch abgestattet hatte, trat an die Künstler heran, beglückwünschte sie zu ihren Talenten, die der ganzen Nation zur Ehre gereichten, und wies dann auf den »Klotz« inmitten der Schweine.

»Sehen Sie dieses Geschöpf,« sagte er, »das ist nicht ein Mädchen, wie Sie vielleicht glauben, sondern zwei. Verstehen Sie mich wohl, ich meine es wörtlich. Da mich der riesige Umfang ihres Knochengerüstes verwunderte, so hab' ich sie untersucht und festgestellt, daß die meisten Knochen bei ihr doppelt sind. An jedem Bein hat sie zwei zusammengewachsene Schenkelknochen, an jeder Schulter zwei Oberarmknochen. Auch die Muskeln sind doppelt. Sie besteht nach meiner Meinung aus zusammengewachsenen Zwillingen. Der Fall ist interessant. Ich habe Herrn Saint-Hilaire darauf aufmerksam gemacht, er war mir dankbar dafür. Es ist eine Mißgeburt, was Sie da vor sich sehen, Bürger. Die Leute nennen sie den ›Klotz‹; sie sollten sagen: ›die Klötze‹, denn es sind zwei. Die Natur hat wunderliche Launen . . . Guten Tag, Bürger Malersleute! Heute nacht gibt's ein Gewitter . . .« Man aß bei Kerzenlicht zu Abend; dann spielte die Blaisesche Akademie auf dem Hofe des Gasthauses unter Mitwirkung eines Wirtssohnes und einer Wirtstochter Blindekuh. Die jungen Leute und Mädchen entwickelten dabei eine in ihren Jahren begreifliche Lebhaftigkeit; aber vielleicht spornte die Unsicherheit und die Wildheit der Zustände ihren Eifer noch an. Als es Nacht war, schlug Jean Blaise vor, in der Wirtsstube harmlose Spiele zu spielen. Elodie wollte »Herzfangen« spielen, und die ganze Gesellschaft ging darauf ein. Auf Geheiß des jungen Mädchens zeichnete Philipp Demahis mit Kreide sieben Herzen auf die Möbel, die Türen und Wände, d. h. eins weniger als Mitspieler waren; denn der alte Brotteaux hatte sich höflich dazugesellt. Man tanzte den Reigen: »La Tour, gib acht!« und auf ein Zeichen Elodies lief jeder und suchte seine Hand auf ein Herz zu legen. Gamelin war zerstreut und ungeschickt, er kam zu spät und mußte ein Pfand geben, das kleine Messer für sechs Heller vom Jahrmarkt von Saint-Germain. Das Spiel ging wieder an, und nach und nach kamen Blaise, Elodie, Brotteaux und die Thévenin zu spät und mußten ein Pfand geben: einen Ring, einen Strickbeutel, ein kleines Buch in Maroquineinband, ein Armband. Dann nahm Elodie die Pfänder auf den Schoß und diese wurden ausgelost. Jeder mußte seine gesellschaftlichen Talente zeigen, ein Lied singen oder Verse aufsagen. Brotteaux rezitierte die Rede des Schutzpatrons von Frankreich aus dem ersten Gesang von Voltaires »Pucelle«.

»Ich bin Denis und Heiliger von Beruf, Ich liebe Gallien . . .« Der Bürger Blaise, obwohl nicht so literarisch gebildet, gab schlagfertig die Antwort Richmonds:

»Herr Heiliger, es war der Müh' nicht wert,
Daß Sie vom Himmel sich herab beschwert.«

Damals las man mit Entzücken immer wieder das Meisterwerk des französischen Ariost. Die ernstesten Männer schmunzelten über Johannas Liebschaft mit Dunois, über die Abenteuer von Agnes und Monrose und die Taten des geflügelten Esels. Alle Gebildeten wußten die schönsten Stellen dieser amüsanten philosophischen Dichtung auswendig. Selbst der strenge Evarist Gamelin sagte, als er sein Sechs-Heller-Messer aus Elodies Schoß nahm, Grisbourdons Höllenfahrt gutwillig her. Die Bürgerin Thévenin sang ohne Begleitung Ninas Romanze: »Wenn der Liebste wiederkehrt«, und Demahis stimmte nach der Melodie eines Gassenhauers das Lied an:

»Sankt Anton, dem frommen,
Ward ein Schwein genommen;
'ne Kapuze kriegt es auf,
Und so ward ein Mönch daraus.
Kleider machen Leute.«

Trotzdem war Demahis sorgenvoll. In alle drei jungen Mädchen, mit denen er das Pfänderspiel spielte, war er sterblich verliebt, und allen dreien warf er feurige Blicke zu. Die Thévenin liebte er wegen ihrer Anmut, ihrer Geschmeidigkeit und ihrer berechneten Kunst, wegen ihrer Blicke und ihrer Stimme, die zu Herzen gingen. Elodie liebte er, weil er ihr üppiges, reiches, spendendes Wesen herausfühlte, und Julie Hazard hatte es ihm trotz ihrer farblosen Haare, ihrer weißen Wimpern, ihrer Sommersprossen und ihrer hageren Figur angetan, weil er, wie jener Dunois, von dem Voltaire in seiner »Pucelle« spricht, im Überschwang seines Herzens auch der Unschönsten einen Reiz verlieh, zumal Julie ihm augenblicklich die am wenigsten Umworbene und daher die am leichtesten Angreifbare schien. Jeder Eitelkeit bar, war er nie sicher, ob er Gefallen erregen, aber auch nie, ob er abblitzen würde. Und so probierte er denn sein Glück und benutzte die bequeme Gelegenheit des Pfänderspiels, um der Thévenin ein paar zärtliche Worte zu sagen. Sie war nicht böse darüber, konnte aber unter den eifersüchtigen Blicken des Bürgers Jean Blaise nichts darauf erwidern. Stärker setzte er schon der Bürgerin Elodie zu, obwohl er wußte, daß ihr Herz Gamelin gehörte; doch er war nicht so anspruchsvoll, ein Herz für sich allein zu verlangen. Elodie konnte ihn nicht lieben, fand ihn jedoch schön und vermochte ihm dies nicht ganz zu verhehlen. Schließlich flüsterte er der Bürgerin Hazard seine glühendsten Beteuerungen ins Ohr. Sie erwiderte sie mit verdutzter Miene, die sowohl tiefe Hingebung als auch stumpfe Gleichgültigkeit bedeuten konnte. Aber an Gleichgültigkeit mochte Demahis nicht glauben . . .

Im Gasthause waren nur zwei Schlafzimmer, beide im ersten Stock und auf dem gleichen Flur. Das links gelegene war das schönere; es hatte geblümte Tapete und einen handgroßen Spiegel, dessen Goldrahmen seit drei Menschenaltern mit Fliegenschmutz bedeckt war. Unter einem Betthimmel aus geblümtem Kattun standen zwei Betten mit Federkissen, Daunenbetten und wattierten Steppdecken. Das Zimmer war für die drei jungen Mädchen bestimmt.

Beim Schlafengehen wünschten sich Demahis und die Bürgerin Hazard, beide mit einem Licht in der Hand, gute Nacht. Der Kupferstecher steckte der Tochter des Farbenhändlers auf dem Flur einen Zettel zu, worin er sie bat, ihn, wenn alles schliefe, auf dem Boden über dem Zimmer der jungen Mädchen zu treffen.

Klug vorausschauend, hatte er am Tage die Örtlichkeit ausgekundschaftet und diesen Boden entdeckt, der mit Zwiebelknollen, mit trocknenden, wespenumschwärmten Früchten, Kisten und alten Reisekoffern angefüllt war. Sogar ein altes, wackliges, scheinbar ausrangiertes Gurtbett hatte er dort entdeckt, sowie eine zerlöcherte Matratze, auf der Flöhe hüpften. Das andre Schlafzimmer lag dem der drei jungen Mädchen gegenüber. Es war ziemlich klein und hatte drei Betten, mit denen die Herren fürlieb nehmen mußten. Aber Brotteaux, der ein Sybarit war, schlich sich auf den Heuboden, um im Heu zu schlafen, und Jean Blaise war verschwunden. Dubois und Gamelin schliefen bald ein. Auch Demahis ging zu Bett; als jedoch die Stille der Nacht das Haus wie ein stilles Wasser umflutete, stand er auf und stieg die Holztreppe hinan, die unter seinen bloßen Füßen knarrte. Die Bodentür war angelehnt. Eine schwüle Hitze, vermischt mit dem Geruch faulenden Obstes, quoll ihm entgegen. In dem wackligen Gurtbett schlief offenen Mundes der »Klotz«, mit hochgestreiftem Hemd und ausgespreizten Beinen, ein wahrer Elefant. Durch die Dachluke fiel ein bläulicher Mondstrahl silbern auf ihre Haut, die überall, wo die Schmutzkruste und die Jauchespritzer fehlten, jugendfrisch glänzte. Demahis machte sich über sie her. Sie fuhr hoch, erschrak heftig und schrie. Sobald sie aber begriff, was er von ihr wollte, zeigte sie sich weder überrascht noch widerspenstig und tat so, als läge sie noch im Halbschlummer, der ihr das helle Bewußtsein raubte und ihr erlaubte, dem Gefühl nachzugeben . . . Demahis kehrte in das Schlafzimmer zurück und schlief bis zum hellen Tage ruhig und tief.

Nach einem zweiten Arbeitstage trat die Wanderakademie am nächsten Abend die Heimreise nach Paris an. Als Jean Blaise die Rechnung in Assignaten bezahlte, klagte der Bürger Poitrine, daß er immer nur »viereckiges Geld« zu sehen kriegte, und gelobte dem Kerl eine dicke Opferkerze, der die Goldfüchse wieder ins Land brächte.

Den Damen verehrte er Blumen. Auf sein Geheiß kletterte der »Klotz« in seinen Holzpantinen auf eine Leiter, wo er hochaufgeschürzt seine schmutzigen Waden präsentierte und unermüdlich die Kletterrosen abschnitt, welche die Mauer bedeckten. Aus seinen dicken Händen regneten die Rosen wie eine Lawine in die ausgespannten Röcke der drei jungen Mädchen, und die ganze Kutsche wurde voll davon. Als sie in der Nacht heimkehrten, brachten sie Arme voll Rosen mit, und ihr Schlaf wie ihr Erwachen war von Rosenduft umfangen.


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