Anatole France
Die Götter dürsten
Anatole France

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Zwölftes Kapitel

Eines Abends trug der alte Brotteaux zwölf Dutzend Hampelmänner zum Bürger Caillou in der Rue de la Loi. Der Spielwarenhändler, sonst sanft und höflich, empfing ihn heute mit seinen Puppen und Polichinells sehr unsanft.

»Nehmen Sie sich in acht, Bürger Brotteaux«, sagte er zu ihm, »nehmen Sie sich in acht! Die Zeit zum Lachen geht vorbei, und die Witze sind nicht immer angebracht. Gestern kam ein Mitglied vom Sicherheitsausschuß des Bezirks in meinen Laden, sah Ihre Hampelmänner und erklärte sie für antirepublikanisch.«

»Er spaßte wohl«, sagte Brotteaux.

»Durchaus nicht, Bürger, durchaus nicht! Der Mann spaßt nie. Er behauptete, diese Puppen seien eine niederträchtige Nachahmung der Nationalversammlung; man erkenne insbesondere die Karikaturen von Couthon, Saint-Just und Robespierre, und er hat sie konfisziert. Das ist ein harter Schlag für mich, gar nicht zu reden von der Gefahr, in der ich jetzt schwebe.«

»Wie, diese Harlekins, diese Hanswurste, Bramarbasse, Schäfer und Schäferinnen, die ich gemalt habe, wie Boucher sie vor fünfzig Jahren gemalt hat, sollte Karikaturen von Saint- Just und Couthon sein? Das wird doch kein vernünftiger Mensch behaupten!«

»Möglicherweise,« erwiderte der Bürger Caillou, »haben Sie sich nichts Schlimmes dabei gedacht,; obgleich man einem geistreichen Manne wie Ihnen stets mißtrauen sollte. Trotzdem ist es ein gefährliches Spiel. Wollen Sie ein Beispiel? Vorgestern wurde Natoile, der ein kleines Theater in den Champs-Elysées hat, wegen schlechter Gesinnung verhaftet, weil er den Konvent von Polichinell spielen ließ.«

»Schauen Sie nochmals«, entgegnete Brotteaux, indem er die Leinwand aufhob, die seine kleinen Hampelmänner bedeckte. »Sehen Sie sich diese Masken und Fratzen an: sind sie etwas anderes als Figuren aus Lust- und Schäferspielen? Wie können Sie sich vorreden lassen, Bürger Caillou, ich verhöhnte den Nationalkonvent?«

Brotteaux war betroffen. Obwohl er der menschlichen Dummheit viel zutraute, hätte er sie doch nicht für fähig gehalten, seine Bramarbasse und Schäferinnen zu verdächtigen. Er beteuerte seine und ihre Unschuld. Doch der Bürger Caillou wollte nichts hören.

»Bürger Brotteaux«, sagte er, »nehmen Sie Ihre Hampelmänner wieder mit, ich schätze und ehre Sie, aber ich will Ihretwegen weder gescholten noch beunruhigt werden. Ich achte das Gesetz. Ich will ein guter Bürger bleiben und als solcher behandelt werden. Guten Abend, Bürger Brotteaux; nehmen Sie Ihre Hampelmänner wieder mit.«

Der alte Brotteaux trat den Heimweg an. Er trug seine Verdächtigen auf der Spitze einer Stange, und die Kinder ulkten ihn an, denn sie hielten ihn für einen Hausierer mit Rattengift. Er machte sich trübe Gedanken. Er lebte zwar nicht ausschließlich von seinen Puppen; er malte auch Bilder zu zwanzig Sous in den Hofeinfahrten der Häuser und in einem Gewölbe der Markthallen in Gesellschaft von Flickschneiderinnen, und viele junge Rekruten, die ins Feld rückten, schenkten ihrer Liebsten ihr Konterfei. Aber diese kleinen Arbeiten machten ihm große Mühe, und seine Porträts gelangen ihm bei weitem nicht so wie seine Hampelmänner. Auch schrieb er bisweilen Briefe für die Marktweiber; da aber die »Damen der Halle« royalistisch gesinnt waren, so lief er große Gefahr, in Komplotte verwickelt zu werden. In der Rue Neuve des Petits Champs, unfern der ehemaligen Place Vendôme, wohnte, wie ihm einfiel, ein anderer Spielwarenhändler namens Joly; er nahm sich vor, am nächsten Morgen zu ihm zu gehen und ihm die Hampelmänner anzubieten, die Caillou aus Feigheit abgelehnt hatte.

Ein feiner Sprühregen fiel. Brotteaux fürchtete, daß seine Puppen verdürben, und beschleunigte die Schritte. Als er über den dunkeln und menschenleeren Pont-Neuf kam und nach der Place de Thionville einbog, erblickte er auf einem Prellstein einen mageren Greis, der von Hunger und Ermüdung erschöpft schien, aber ein ehrwürdiges Aussehen hatte. Er trug einen zerrissenen langen Überrock, war ohne Hut und schien über sechzig Jahre alt. Beim Näherkommen erkannte Brotteaux den Pater Longuemare, den er vor sechs Monaten von der Laterne gerettet hatte, als sie beide vor dem Bäckerladen in der Rue Jérusalem Schlange standen und warteten. Da er ihm schon einmal dienlich gewesen, so trat er auf ihn zu, gab sich als der Steuerpächter zu erkennen, der eines Tages bei großer Teuerung mit ihm unter dem Pöbel gestanden hatte, und fragte ihn, ob er ihm nicht zum zweitenmal helfen könnte.

»Sie sehen müde aus, mein Vater. Trinken Sie einen Schluck Branntwein.«

Damit zog er aus der Tasche seines flohbraunen Rockes eine Schnapsflasche, die er neben seinem Lukrez trug.

»Trinken Sie. Dann werde ich Sie nach Ihrer Wohnung bringen.«

Der Mönch wies die Schnapsflasche ab und versuchte aufzustehen. Doch er sank auf seinen Stein zurück.

»Mein Herr«, versetzte er mit schwacher, aber sicherer Stimme, »seit drei Monaten wohnte ich in Picpus. Ich erfuhr, daß man gestern um fünf Uhr nachmittags zu mir gekommen sei, um mich zu verhaften, und so bin ich in mein Quartier nicht zurückgekehrt. Ich habe kein Obdach. Ich irre durch die Straßen und bin etwas müde.«

»Dann, mein Vater«, sagte Brotteaux, »erweisen Sie mir die Ehre, meine Dachstube mit mir zu teilen.«

»Ich bin verdächtig, mein Herr«, erwiderte der Barnabit; »verstehen Sie mich wohl.«

»Ich auch«, versetzte Brotteaux, »und meine Hampelmänner desgleichen, und das ist das Schlimmste. Sie sind unter dieser dünnen Leinwand dem Regen ausgesetzt, der uns durchnäßt. Denn, wissen Sie, mein Vater, nachdem ich Zöllner gewesen, verfertige ich jetzt Hampelmänner, um mein Leben zu fristen.«

Der Pater ergriff die Hand, die ihm der einstige Finanzmann darbot, und nahm seine Gastfreundschaft an. In der Dachstube setzte ihm Brotteaux Brot, Käse und Wein vor, den er zur Kühlung in die Dachrinne gestellt hatte, denn er war ein Sybarit.

Nachdem der Pater Longuemare seinen Hunger gestillt hatte, sagte er:

»Ich muß Ihnen mitteilen, welche Umstände zu meiner Flucht geführt haben, und wie es kam, daß ich halbtot auf dem Steine saß, auf dem Sie mich fanden. Als ich aus meinem Kloster vertrieben war, lebte ich von der kargen Rente, die mir die Nationalversammlung zahlte. Ich gab Unterricht in Latein und Mathematik und verfaßte Schriften über die Verfolgung der französischen Kirche. Ich schrieb sogar ein größeres Werk, um den Nachweis zu führen, daß der Eid der Priester auf die Verfassung der geistlichen Disziplin widerspricht. Die Fortschritte der Revolution raubten mir alle Schüler, und meine Pension wurde mir vorenthalten, da ich den gesetzlich vorgeschriebenen Bürgerschein nicht hatte. Um diesen zu bekommen, ging ich ins Rathaus, in der Überzeugung, ihn verdient zu haben. Als Mitglied eines Ordens, der vom Apostel Paulus gegründet ist, welcher sich auf sein römisches Bürgerrecht berief, glaubte ich nach seinem Vorbilde mich als guter französischer Bürger benommen zu haben, der alle menschlichen Gesetze achtet, solange sie nicht in Widerspruch mit den göttlichen stehen. Ich ging mit meinem Anliegen zu Herrn Colin, Schlächtermeister und Stadtrat, der die Ausstellung dieser Karten unter sich hatte. Er fragte mich nach meinem Stande. Ich gab an, daß ich Priester sei. Er fragte, ob ich verheiratet wäre, und als ich dies verneinte, sagte er: ›Um so schlimmer für Sie.‹ Nach mehreren anderen Fragen wollte er schließlich wissen, ob ich meine Gesinnung am 10. August, 2. September und 31. Mai bewiesen hätteAm 10. August 1792 fand ein Aufstand des Pariser Pöbels infolge der Entlassung der girondistischen Minister statt, am 2. September ein Massaker politischer Gefangener; am 31. Mai 1793 begann der Sturz der Girondisten.
Der Übersetzer.
. ›Nur die können einen Bürgerschein erhalten‹, sagte er, ›die ihre Gesinnung bei diesen drei Anlässen bewiesen haben.‹ Ich konnte ihm keine befriedigende Antwort geben. Trotzdem schrieb er sich meinen Namen und meine Adresse auf und versprach, meinen Fall prompt zu untersuchen. Er hat Wort gehalten. Die Folge seiner Untersuchung war, daß in meiner Abwesenheit zwei Kommissäre des Sicherheitsausschusses von Picpus mit der bewaffneten Macht in meine Wohnung kamen, um mich ins Gefängnis abzuführen. Ich weiß nicht, welches Verbrechens man mich beschuldigt. Aber wie Sie zugeben werden, ist Herr Colin zu bedauern. Sein Geist ist so verwirrt, einem Geistlichen einen Vorwurf daraus zu machen, daß er am 10. August, am 2. September und am 31. Mai seinen Bürgersinn nicht bewiesen hat. Wer eines solchen Gedankens fähig ist, verdient Mitleid.«

»Auch ich habe keinen Bürgerschein«, sagte Brotteaux. »Wir sind beide verdächtig. Aber Sie sind müde. Legen Sie sich zur Ruhe, mein Vater. Morgen werden wir für Ihre Sicherheit sorgen.«

Er gab seinem Gaste die Matratze und behielt den Strohsack für sich. Doch aus Demut bat der Mönch sich diesen aus, und zwar so beharrlich, daß Brotteaux zuletzt nachgab; sonst hätte er auf dem Fußboden geschlafen.

Nach Beendigung dieser Zurüstungen blies er das Licht aus, sowohl aus Sparsamkeit als auch aus Vorsicht.

»Mein Herr«, sagte der Mönch zu ihm, »ich danke Ihnen für das, was Sie für mich tun. Aber mein Dank hat für Sie leider wenig zu bedeuten. Möchte Gott es Ihnen vergelten; das wäre für Sie von unendlicher Bedeutung. Allein Gott sieht das nicht an, was nicht zu seinem Ruhme geschieht, und was nur der Ausdruck einer natürlichen Tugend ist. Darum bitte ich Sie, mein Herr, das für ihn zu tun, was Sie für mich tun wollten.«

»Mein Vater«, erwiderte Brotteaux, »machen Sie sich keine Sorge und danken Sie mir nicht. Was ich jetzt für Sie tue, das übertreiben Sie, und ich tue es nicht aus Liebe zu Ihnen; denn so liebenswert Sie sein mögen, mein Vater, so kenne ich Sie doch zu wenig, um Sie zu lieben. Aus Menschenliebe geschieht es ebensowenig, denn ich bin nicht so einfältig wie Don Juan, um zu wähnen, daß die Menschheit Rechte besitzt; ja, dieses Vorurteil betrübt mich bei einem so freien Geiste, wie er einer ist. Ich tue es aus jenem Eigennutz, der die Menschen zu allen Taten des Edelmuts und der Hingebung treibt, kraft dessen sie in allen Unglücklichen ihr Ebenbild sehen, im Elend des Nächsten ihr eigenes Elend beklagen und sich veranlaßt fühlen, einem Sterblichen zu helfen, den Natur und Schicksal zu ihresgleichen gemacht haben, so daß sie schließlich sich selbst zu helfen wähnen, indem sie anderen beistehen. Ich tue es ferner aus Müßiggang, denn das Leben ist so stumpfsinnig, daß man sich um jeden Preis zerstreuen muß. Die Wohltätigkeit ist zwar eine ziemlich öde Kurzweil, die man sich an Stelle von andern, bessern gönnt. Ich tue es aus Stolz und um mich Ihnen überlegen zu fühlen; ich tue es schließlich aus Prinzip, um Ihnen zu zeigen, wessen ein Atheist fähig ist.«

»Verleumden Sie sich nicht, mein Herr«, erwiderte der Pater Longuemare. »Gott hat mich bisher mehr begnadet als Sie; aber ich bin weniger wert als Sie und besitze weit weniger natürliche Anlagen. Gestatten Sie mir trotzdem, mich meines Vorteils über Sie zu berühmen. Da Sie mich nicht kennen, so können Sie mich nicht lieben, ich aber, mein Herr, ich liebe Sie, ohne Sie zu kennen, mehr als mich selbst. Das ist Gottes Wille.«

Nachdem er also gesprochen, kniete er auf dem Steinfußboden nieder und sagte sein Gebet her; dann legte er sich auf den Strohsack und schlief friedlich ein.


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