Anatole France
Die Götter dürsten
Anatole France

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Fünfzehntes Kapitel

Die überfüllten Gefängnisse mußten leer werden. Man mußte richten, richten, ohne Rast und Ruhe. An den mit Rutenbündeln und roten Mützen geschmückten Wänden saßen die Richter, wie dereinst unter den Lilien, mit der Feierlichkeit und der furchtbaren Ruhe ihrer königlichen Vorgänger. Der öffentliche Ankläger und seine Vertreter, von Arbeit erschöpft, von Schlaflosigkeit und Branntwein erhitzt, kämpften ihre Müdigkeit nur mit Gewalt nieder, und ihr schlechtes Befinden machte sie grimmig. Die Geschworenen, verschieden von Herkunft wie von Charakter, die einen eingebildet, die anderen unwissend, feig oder edelmütig, sanft oder heftig, ehrlich oder heuchlerisch, fühlten angesichts der Gefahr, in der das Vaterland und die Republik schwebte, alle die gleiche Besorgnis oder täuschten sie vor; sie brannten alle in der gleichen Glut, waren alle grausam aus Tugend oder aus Angst, bildeten alle nur ein einziges Wesen mit einem dumpfen, gereizten Kopfe, eine einzige Seele, ein mystisches Untier, das infolge seiner natürlichen Anlage zahllosen Tod gebar. In ihrer Erregung bald wohlwollend, bald grausam und von plötzlichen Anfällen von Mitleid gepackt, sprachen sie einen Angeklagten unter Tränen frei, den sie eine Stunde zuvor mit hämischen Worten verurteilt hätten. Je weiter sie in ihrer Aufgabe kamen, desto ungestümer folgten sie den Eingebungen ihres Herzens.

Sie urteilten im Fieber und in der Schläfrigkeit ihrer Überbürdung, unter den Antrieben ihrer Umgebung und den Geboten des Herrschers, unter den Drohungen der Sansculotten und Trikoteusen, die sich auf den Tribünen und im Zuschauerraum drängten, auf Grund rasender Zeugenaussagen und wutschnaubender Anklagereden, in stickiger Luft, die ihr Gehirn lähmte, von der ihnen die Ohren summten und die Schläfen pochten, und die ihre Augen mit einem blutigen Schleier umflorte. Im Publikum liefen unbestimmte Gerüchte über Geschworene um, die sich von den Angeklagten hätten bestechen lassen. Aber diese Gerüchte beantwortete die gesamte Jury mit entrüsteten Protesten und erbarmungslosen Verurteilungen. Kurz, sie waren Menschen, nicht besser, noch schlimmer als andere. Die Unschuld ist zumeist ein Glück und keine Tugend; und wer mit ihnen hätte tauschen wollen, der hätte ebenso gehandelt wie sie und diese furchtbare Aufgabe mit mittelmäßiger Seele erfüllt.

Endlich nahm auch Marie Antoinette, die längst Erwartete, im schwarzen Kleid auf dem Schicksalsstuhle Platz. Der allgemeine Haß war so groß, daß nur die Gewißheit über den Ausgang ihres Prozesses die Wahrung der Formen ermöglichte. Auf die furchtbaren Fragen antwortete die Angeklagte bald in ihrem angeborenen Konversationston, bald auch in gewohntem Hochmut, und einmal, als die Infamie eines ihrer Ankläger sie aufbrachte, mit mütterlicher Würde. Den Zeugen wurden nur Schmähungen und Verleumdungen erlaubt; die Verteidigung war erstarrt. Der Gerichtshof zwang sich zur Wahrung der Formen und wartete, bis alles zu Ende war, um den Kopf der Österreicherin ganz Europa vor die Füße zu werfen.

Drei Tage nach Antoinettes Hinrichtung wurde Gamelin zu dem Bürger Fortuné Trubert gerufen. Er lag ein paar Schritte von dem Militärbüro, wo er seine Lebenskraft erschöpft hatte, auf einem Gurtbett in der Zelle irgendeines vertriebenen Barnabiten und rang mit dem Tode. Sein fahler Kopf war tief in das Kissen gedrückt. Seine Augen, die schon nichts mehr sahen, wandten sich mit verglasten Blicken nach Evarist; seine fleischlose Hand ergriff die des Freundes und drückte sie mit unverhoffter Kraft. Er hatte in zwei Tagen dreimal Blut gespien. Er versuchte zu sprechen; seine Stimme war anfangs verschleiert und schwach wie ein Murmeln, dann schwoll sie an und dröhnte.

»Wattignies! Wattignies! . . . Jourdan hat den Feind aus seinem Lager gejagt . . . Maubeuge ist entsetzt . . . Wir haben Valenciennes wieder . . . Ça ira . . . ça ira«, lächelte er.

Es waren keine Fieberträume, sondern die klare Erkenntnis der Wirklichkeit, die sein Hirn erleuchtete, auf das schon die ewigen Schatten herabsanken. Der feindliche Vormarsch war gehemmt, die verängstigten Generale merkten, daß sie nichts Besseres tun konnten als siegen. Was die freiwillige Anwerbung nicht erreicht hatte, ein starkes diszipliniertes Heer, das vermochte die allgemeine Aushebung. Noch einige Anstrengungen, und die Republik war gerettet.

Nach einer halben Stunde tiefster Ohnmacht belebte sich Truberts hohles Totengesicht wieder; er erhob die Hände und wies auf das einzige Möbel, das in der Zelle stand, seinen kleinen Schreibtisch aus Nußbaumholz.

Und mit schwacher, keuchender Stimme, die ein klarer Geist beseelte, sprach er:

»Mein Freund, wie Eudamidas vermache ich dir meine Schulden: dreihundert Franken. Die Rechnung findest du . . . in dem roten Hefte . . . Leb wohl, Gamelin. Schlafe nicht. Wache über die Verteidigung der Republik. Ça ira . . .«

Die Nacht sank auf die Zelle herab. Gamelin hörte den schweren Atem des Sterbenden, hörte seine Finger über das Bett-Tuch scharren.

Gegen Mitternacht brachte er unzusammenhängende Worte hervor:

»Kratzt die Wände ab . . . Mehr Salpeter . . . Laßt die Gewehre ausliefern . . . Wie's mir geht? Ausgezeichnet . . . Nehmt die Glocken herunter . . .«

Um fünf Uhr morgens tat er den letzten Atemzug.

Auf Anordnung des Bezirks ward seine Leiche im Schiff der früheren Barnabitenkirche vor dem Altar des Vaterlandes aufgebahrt. Der Tote lag auf einem Feldbett, mit einer Trikolore bedeckt und die Stirn mit dem Eichenkranze geschmückt.

Zwölf Greise in römischer Toga, eine Palme in der Hand, und zwölf blumentragende Jungfrauen in langen Schleiern bildeten die Totenwacht. Zu Füßen der Bahre hielten zwei Kinder umgekehrte Fackeln. Evarist erkannte das eine, es war das Töchterchen seines Portiers. In ihrem kindlichen Ernst und ihrer lieblichen Schönheit gemahnte ihn die kleine Josephine an die Liebes- und Todesgenien, welche die Römer auf ihren Sarkophagen anbrachten.

Der Leichenzug ging nach dem früheren Kirchhof Saint-André-des-Arts, beim Klange der Marseillaise und des ça ira. Als Evarist den Abschiedskuß auf Fortuné Truberts Stirn drückte, mußte er weinen. Er weinte über sich selbst und beneidete den, der nun ausruhte und sein Tagewerk vollbracht hatte.

Nach Hause zurückgekehrt, erhielt er die Nachricht, daß er zum Mitglied des Stadtrats ernannt sei. Seit vier Monaten Kandidat für diesen Posten war er nach mehreren Wahlgängen ohne Gegenkandidaten mit etwa dreißig Stimmen gewählt worden.

Kein Mensch wollte mehr wählen. Die Bezirksversammlungen blieben leer; Reiche wie Arme entzogen sich den öffentlichen Ämtern. Die größten Ereignisse weckten weder Begeisterung noch Neugier; man las keine Zeitungen mehr. Evarist zweifelte, ob von den siebenhunderttausend Einwohnern der Hauptstadt auch nur drei- bis viertausend noch republikanische Gesinnung besäßen.

An jenem Tage erschienen die einundzwanzig Konventsmitglieder vor Gericht. Schuldig oder unschuldig an den Mißgeschicken und Verbrechen der Republik, eitel, unvorsichtig, ehrgeizig und leichtsinnig, maßvoll und gewalttätig zugleich, schwach in ihrer Strenge wie in ihrer Milde, rasch bereit zur Kriegserklärung, aber langsam im Kriegführen, und nach dem Vorbild, das sie selbst gegeben, vor Gericht gezerrt, bildeten sie trotz alledem die leuchtende Jugend der Revolution; sie waren ihr Reiz und ihr Ruhm gewesen. Der Richter, der sie nun mit kluger Parteilichkeit verhörte, der bleiche Ankläger, der dort an seinem Tischchen ihren Tod und ihre Schande bereitete, die Geschworenen, die ihnen alsbald die Verteidigung abschneiden sollten, das Tribünenpublikum, das sie mit Schimpfworten und Hohngelächter empfing, sie alle, Richter, Geschworene, Volk, hatten noch vor kurzem ihre Talente und Tugenden gerühmt. Aber sie wußten es nicht mehr.

Evarist hatte früher in Vergniaud seinen Abgott, in Brissot sein Orakel gesehen. Er entsann sich dessen nicht mehr, und wenn in seinem Gedächtnis noch eine Spur seiner früheren Bewunderung haftete, so bewies ihm das nur, daß diese Ungeheuer auch die besten Bürger verführt hatten.

Als Gamelin von der Sitzung heimkehrte, hörte er im Hause gellendes Geschrei. Es war die kleine Josephine, die von ihrer Mutter Schläge bekam, weil sie auf dem Platze mit den Gassenbuben gespielt und sich dabei ihr schönes weißes Kleid beschmutzt hatte, das ihr zur Leichenfeier des Bürgers Trubert angezogen war.


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