Anatole France
Die Götter dürsten
Anatole France

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Dreizehntes Kapitel

Evarist Gamelin hatte die zweite Sitzung im Revolutionstribunal. Vor ihrer Eröffnung sprach er mit seinen Mitgeschworenen über die am Morgen eingelaufenen Nachrichten. Einige waren unsicher oder falsch; was jedoch übrigblieb, war furchtbar. Die Heere der Koalition waren im Besitz aller Straßen und rückten gemeinsam vor; die Vendée war siegreich, Lyon in Aufruhr, Toulon in der Hand der Engländer, die dort 14 000 Mann ausschifften.

Diese Ereignisse, die die ganze Welt in Spannung hielten, waren für die Beamten gleichsam ihre eigene Angelegenheit. Sie wußten, daß der Untergang des Vaterlandes auch der ihre war, und so machten sie die Rettung des Vaterlandes zu ihrer persönlichen Sache. Das nationale Interesse, mit dem eigenen verschmolzen, diktierte ihre Gefühle, ihre Leidenschaften, ihr ganzes Benehmen.

Gamelin empfing auf seiner Bank einen Brief des Bürgers Trubert, des Sekretärs vom Verteidigungsausschuß; er enthielt seine Ernennung zum Kommissar für Pulver und Salpeter.

»Du wirst alle Keller des Bezirks auskratzen lassen, um die nötigen Substanzen zur Herstellung des Pulvers zu gewinnen. Der Feind steht morgen vielleicht vor Paris. Der Boden des Vaterlandes muß uns den Blitz liefern, den wir seinen Bedrückern entgegenschleudern. Beiliegend sende ich dir eine Instruktion über die Behandlung des Salpeters. Gruß und Brüderlichkeit.«

In diesem Moment wurde der Angeklagte vorgeführt. Es war einer der letzten besiegten Generale, die der Konvent vor Gericht zog, und der unbekannteste von allen. Bei seinem Anblick schauderte Gamelin zusammen; er glaubte den General wiederzusehen, dessen Verurteilung er vor drei Wochen im Zuschauerraum beigewohnt hatte. Es war derselbe Mann, dickköpfig und dumm, es war der gleiche Prozeß. Er antwortete brutal und verschlagen und verdarb sich dadurch seine besten Entgegnungen. Bei seinen Ausflüchten und Spitzfindigkeiten, bei der Art, wie er alle Schuld auf seine Untergebenen wälzte, vergaß man, daß er die achtbare Aufgabe erfüllte, seine Ehre und sein Leben zu verfechten. In dieser Sache war alles unklar und strittig; die Stellung und Stärke der beiden Heere, die Munition, die erlassenen und empfangenen Befehle, die Truppenbewegungen; nichts war bekannt. Niemand verstand etwas von diesen konfusen, sinnlosen und zwecklosen Operationen, die zu einer Niederlage geführt hatten, weder der Verteidiger noch der Angeklagte selbst, weder der öffentliche Ankläger noch die Geschworenen und Richter. Und sonderbar: keiner gestand den andern oder sich selbst ein, daß er nichts davon verstand. Die Richter gefielen sich im Entwerfen von Schlachtplänen, in Diskussionen über Taktik und Strategie; der Angeklagte verriet seine natürliche Anlage für Winkelzüge.

Der Streit nahm kein Ende. Derweilen sah Gamelin im Geist auf den rauhen Wegen des Nordens die Protzkästen im Straßenschmutz festgefahren, die Kanonen in den Wegegleisen umgestürzt; er sah auf allen Straßen die geschlagenen Kolonnen aufgelöst zurückfluten, während die feindliche Kavallerie überall aus den verlassenen Defileen hervorbrach. Und er hörte aus diesen verratenen Heeresmassen ein ungeheures Geschrei aufsteigen, das den General anklagte. Beim Schluß der Verhandlung war es im Saal dunkel geworden, und Marats Büste schimmerte undeutlich wie ein Gespenst über dem Haupte des Präsidenten. Die Sprüche der Geschworenen gingen auseinander. Mit zugeschnürter Kehle und dumpfer Stimme, aber in entschlossenem Tone erklärte Gamelin den Angeklagten des Verrates an der Republik für schuldig, und das Beifallsmurmeln der Zuschauer umschmeichelte seine junge Tugend. Das Urteil wurde bei Kerzenschein verlesen, der bleich auf den hohlen Schläfen des Angeklagten zitterte, auf denen man Schweißperlen sah. Nach Verlassen des Saales, auf den Treppenstufen, die mit kokardentragenden Klatschweibern besetzt waren, hörte Gamelin seinen Namen aussprechen, der den ständigen Besuchern der Sitzungen schon geläufig wurde, und ein paar Trikoteusen drängten sich an ihn heran, erhoben drohend die Fäuste und forderten das Haupt der Österreicherin.

Am nächsten Tage hatte Gamelin ein armes Weib, die Witwe Meyrion, eine Brotausträgerin, zu richten. Sie zog mit einem kleinen Handwagen durch die Straßen und trug an ihrem Gürtel ein Holzbrettchen, in das sie die Zahl der abgelieferten Brote einkerbte. Damit verdiente sie sich acht Sous täglich. Der Vertreter der Anklage zeigte einen seltsamen Grimm auf diese Unglückliche, die anscheinend mehrmals gerufen hatte: »Es lebe der König.« Auch hatte sie in den Häusern, in die sie täglich das Brot brachte, antirepublikanische Reden gehalten und sich an einer Verschwörung beteiligt, die das Entkommen der Witwe Capet zum Ziele hatte. Vom Richter verhört, gab sie die ihr zur Last gelegten Handlungen zu und trug aus Einfalt oder Fanatismus eine maßlos royalistische Gesinnung zur Schau, durch die sie sich selbst vernichtete.

Das Revolutionstribunal verhalf der Gleichheit zum Siege, indem es gegen Lastträger und Mägde ebenso streng verfuhr wie gegen Aristokraten und Finanzleute. Gamelin faßte es nicht, daß es unter einer Volksherrschaft anders sein könnte. Er hätte es für eine Verachtung des Volkes, ja für eine ihm angetane Schmach gehalten, wenn man es straflos ausgehen ließe. Das hätte ja ausgesehen, als wäre es der Strafe unwürdig. Die Guillotine als Vorrecht der Aristokraten wäre ihm als ungerechtes Privileg erschienen. Gamelin begann sich von der Strafe eine religiös-mystische Vorstellung zu bilden, ihr Tugenden und besondere Verdienste zuzuschreiben. Er meinte, man schulde den Verbrechern ihre Strafe und täte ihnen unrecht, wenn man sie ihnen vorenthielte.

Er erklärte die Witwe Meyrion für schuldig und der Todesstrafe würdig und bedauerte nur, daß die Fanatiker, die sie ins Verderben gestürzt hatten und die schuldiger waren als sie, ihr Geschick nicht teilen konnten.

Fast allabendlich ging Gamelin zu den Jakobinern, die sich in der Rue St.-Honoré in der alten Kapelle der Dominikaner, im Volksmunde Jakobiner genannt, vereinigten. Auf dem Hofe, auf dem ein Freiheitsbaum stand, eine Pappel, deren bewegte Blätter immerfort rauschten, erhob sich die Kapelle, ein schmuckloses, düsteres Bauwerk mit schwerem Ziegeldach und kahler Giebelfront, die von einer Fensterrose und einer rundbogigen Tür durchbrochen war. Über dieser wehte die Nationalfahne, mit der Freiheitsmütze geschmückt. Die Jakobiner hatten sich, gleich den Cordeliers und Feuillants, die Wohnstätte und den Namen der vertriebenen Mönche zugelegt. Gamelin, der bisher stets zu den Sitzungen der Cordiliers gegangen war, fand bei den Jakobinern die Holzschuhe, die Karmagnolen und das Geschrei der Anhänger Dantons nicht wieder. In Robespierres Klub herrschte bürgerliche Gesetztheit und administrative Klugheit. Seit Ermordung des Volksfreundes folgte Evarist den Lehren Robespierres, dessen Denkart bei den Jakobinern vorherrschte und von dort sich durch tausend Zweigvereine über ganz Frankreich verbreitete. Während der Verlesung des Protokolls schweiften seine Blicke über die kahlen, düsteren Mauern, die einst die geistigen Söhne der großen Ketzerinquisitoren beherbergt hatten, und die nun die eifrigen Inquisitoren der Verbrechen gegen das Vaterland umschlossen.

Hier tagte die höchste Staatsgewalt ohne jeden Pomp, nur durch das gesprochene Wort ausgeübt. Sie beherrschte die Hauptstadt, ganz Frankreich, sie diktierte dem Konvent ihren Willen. Diese Begründer der neuen Ordnung hielten das Gesetz so in Ehren, daß sie im Jahre 1791 Royalisten geblieben waren und es noch nach der Flucht des Königs bleiben wollten, weil sie sich streng nach der Konstitution richteten. – Sie waren Freunde der bestehenden Ordnung, selbst nach den Morden auf dem Marsfelde, und revoltierten nie gegen die Revolution. Dem Volksbewußtsein fernstehend, nährten sie in ihren düsteren und starken Seelen eine glühende Vaterlandsliebe, die vierzehn Heere aus dem Boden gestampft und die Guillotine errichiet hatte. Evarist bewunderte ihre Wachsamkeit, ihren mißtrauischen Geist, ihr dogmatisches Denken, ihre Ordnungsliebe, ihre Herrschkunst und Ihre Regierungsweisheit.

Die Stimmen der im Saale anwesenden Menge klangen wie ein einmütiges, gleichmäßiges Rauschen, gleich den Blättern des Freiheitsbaumes im Hofe.

An jenem Tage, dem elften des Vendemiaire, bestieg ein junger Mann mit zurücktretender Stirn, durchdringendem Blick, spitzer Nase, scharfem Kinn, pockennarbigem Gesicht und kalter Miene langsam die Tribüne. Er trug gepudertes Haar und einen blauen Rock mit enger Taille. Sein abgezirkeltes Wesen, sein gemessenes Benehmen veranlaßte manche zu der spöttischen Bemerkung, er sähe aus wie ein Tanzlehrer. Andere begrüßten ihn als den »französischen Orpheus«. Mit klarer Stimme hielt Robespierre einen beredten Vortrag über die Feinde der Republik. Mit furchtbaren, metaphysischen Beweisgründen schmetterte er Brissot und dessen Anhänger nieder. Er sprach lange, wortreich und harmonisch. In den himmlischen Sphären der Philosophie schwebend, schleuderte er seine Blitze auf die am Boden kriechenden Verräter.

Evarist hörte zu und begriff ihn. Bisher hatte er die Girondisten im Verdacht, die Wiederkehr der Monarchie oder den Sieg der Orleanisten zu begünstigen und die Heldenstadt, die Frankreich befreit hatte, und die dereinst die ganze Welt befreien würde, ins Verderben zu stürzen. Jetzt, wo er der Stimme des Weisen lauschte, erkannte er höhere und reinere Wahrheiten, bildete er sich eine revolutionäre Metaphysik, die seinen Geist über die plumpen Zufälle, über die Irrtümer der Sinne, in das Reich der absoluten Gewißheit hinausschob. An sich sind die Dinge ja durcheinandergemischt und voller Verwirrung; die Tatsachen sind so verwickelt, daß man sich darin verirrt. Robespierre vereinfachte sie, brachte Gut und Böse auf klare und einfache Formeln. Hier Föderalismus, dort Unteilbarkeit. In der Einheit und Unteilbarkeit lag das Heil, im Föderalismus das Verderben. Gamelin schwelgte in der tiefen Freude eines Gläubigen, der das rettende und verdammende Wort kennt. Fortan sollte das Revolutionstribunal, wie vormals die geistlichen Gerichte, das absolute Verbrechen an sich kennen. Und da Evarist religiös war, so erfüllten ihn diese Offenbarungen mit düsterer Begeisterung; sein Herz geriet in Entzücken und Freude bei dem Gedanken, daß er fortan ein Symbol besäße, um Unschuld und Verbrechen zu unterscheiden. Die Schätze des Glaubens werden allem gerecht.

Der weise Robespierre erleuchtete ihn auch über die ruchlosen Absichten derer, die das Eigentum gleichmachen und Grund und Boden aufteilen, Reichtum und Armut aufheben und die glückliche Mittelmäßigkeit für alle einführen wollten. Von ihren Grundsätzen bestochen, hatte er anfangs ihr Vorhaben gebilligt; es schien ihm den Grundsätzen eines wahren Republikaners zu entsprechen. Aber Robespierre enthüllte ihm durch seine Reden bei den Jakobinern die Anschläge jener Leute, deren Absichten so lauter schienen, und bewies, daß sie es auf den Sturz der Republik angelegt hätten, daß sie die Besitzenden nur deshalb beängstigten, um der rechtmäßigen Staatsgewalt mächtige und gefährliche Feinde zu schaffen. Sobald das Eigentum bedroht war, mußte sich die ganze Bevölkerung, die an ihrem Besitz um so mehr hing, als sie wenig besaß, jählings gegen die Republik kehren. Die Privatinteressen gefährden, hieß so viel wie konspirieren. Alle die also, die unter dem Deckmantel der Volksbeglückung und der Herrschaft der Gerechtigkeit die Gleichheit und Gütergemeinschaft als erstrebenswertes Ziel für alle Bürger hinstellten, waren Verräter und Verbrecher von gefährlicherer Art als die Föderalisten.

Doch die große Offenbarung, die Robespierres Weisheit ihm brachte, waren die Verbrechen und Ruchlosigkeiten des Atheismus. Gamelin war nie ein Gottesleugner gewesen. Er war Deist und glaubte an eine Vorsehung, die über den Menschen waltet. Doch er gestand sich, daß er von dem höchsten Wesen nur eine sehr unklare Vorstellung hatte, die mit der Gewissensfreiheit eng verknüpft war; und so hatte er wohl begriffen, wie redliche Geister nach dem Vorbilde von Holbach, Lalande, Helvetius und dem Bürger Dupuis das Dasein Gottes leugnen und eine Moral aufstellen konnten, welche die Quellen der Gerechtigkeit und die Regeln eines tugendhaften Lebens in der Menschenbrust suchte. Ja, er hatte Mitgefühl mit den Atheisten gehabt, wenn er sie verhöhnt und verfolgt sah. Robespierre öffnete ihm auch hierüber die Augen. Durch seine tugendhafte Beredsamkeit offenbarte ihm dieser große Mann das wahre Wesen des Atheismus, dessen Absichten und Wirkungen; er bewies ihm, daß diese Irrlehre, die in den Salons und Boudoirs der Aristokraten entstanden war, die verruchteste Erfindung sei, welche die Feinde des Volkes erfinden konnten, um es zu entsittlichen und zu knechten, daß es verbrecherisch sei, den tröstlichen Glauben an eine belohnende Vorsehung aus den Herzen der Unglücklichen zu reißen und sie ohne Zügel und Leitstern Leidenschaften auszuliefern, die den Menschen zum schnöden Sklaven erniedrigen, kurz, daß das monarchische Epikuräertum eines Helvetius zur Unsittlichkeit, Grausamkeit und zu allen Verbrechen führte. Und seit die Lehren dieses großen Bürgers ihn erleuchtet hatten, verabscheute er die Atheisten; besonders wenn sie ein offenes und heiteres Herz besaßen wie der alte Brotteaux.

An den folgenden Tagen hatte Gamelin Schlag auf Schlag eine Menge Menschen zu richten, einen früheren Aristokraten, der überführt war, Getreide vernichtet zu haben, um das Volk auszuhungern, drei Emigranten, die zurückgekehrt waren, um in Frankreich den Bürgerkrieg schüren zu helfen, zwei Dirnen vom Palais Egalité und vierzehn Verschwörer aus der Bretagne, Frauen, Greise, Jünglinge, Herren und Knechte. Das Verbrechen war offenbar, das Gesetz unbeugsam. Unter den Schuldigen befand sich ein reizendes zwanzigjähriges Mädchen im Glanze der Jugend, auf dem der Schatten ihres nahen Todes lag. Ein blaues Band schlang sich um ihr goldblondes Haar; ein Brusttuch von feinem Leinen umgab ihren weißen, geschmeidigen Hals.

Evarists Spruch lautete beständig auf Tod, und alle Angeklagten, mit Ausnahme eines alten Gärtners, wurden aufs Schafott geschickt . . .

In der nächsten Woche mähten Evarist und seine Sektion fünfunddreißig Männer und achtzehn Frauen nieder.

Die Richter vom Revolutionstribunal machten keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen; sie folgten darin einem Grundsatz, der so alt ist wie die Justiz. Hatte der Präsident Montané, durch den Mut und die Schönheit der Charlotte Corday gerührt, sie durch einen Eingriff in das Verfahren zu retten gesucht und darüber Amt und Würde verloren, so wurden die Frauen jetzt größtenteils ohne Gnade verhört, wie es ja bei allen Gerichtshöfen Brauch ist. Die Geschworenen fürchteten die weiblichen Listen, die gewohnte Verstellung der Frauen, ihre Verführungskünste. Den Männern an Mut gleich, forderten sie das Gericht heraus, sie wie Männer zu behandeln. Die meisten Richter waren wenig sinnlich oder sie waren es nur zu bestimmten Stunden, sie ließen sich durch nichts verwirren. Verurteilung oder Freispruch erfolgten nach ihrem Gewissen, ihren Vorurteilen, ihrer lauen oder wilden Liebe zur Republik. Die meisten dieser weiblichen Opfer waren sorgfältig frisiert und so gewählt gekleidet, wie es ihre unglückliche Lage zuließ. Die wenigsten waren jung und noch weniger hübsch. In Kerker und Sorgen waren sie verblüht; das grelle Licht des Saales verriet ihre Ermüdung, ihre Angst, es fiel auf ihre müden Lider, ihre fahlen Gesichter, ihre bleichen, verkniffenen Lippen. Trotzdem saß auf dem schicksalsvollen Stuhl nicht selten ein junges, noch in seiner Blässe schönes Weib, während ein düsterer Schatten wie ein Schleier der Wollust seine Blicke umflorte. Mancher Geschworene mochte bei diesem Anblick gerührt oder gereizt werden; mancher mochte in seiner verderbten Phantasie die Heimlichkeiten dieses Wesens antasten, das er sich lebend und zugleich tot vorstellte, und das er in wollüstigen und blutigen Vorstellungen dem Henker auslieferte. Doch still davon; wer die Menschen kennt, wird nicht daran zweifeln. Evarist Gamelin, ein kalter und gelehrter Künstler, sah nur die Antike als schön an, und die Schönheit flößte ihm weniger Verwirrung als Hochachtung ein. Sein klassischer Geschmack war so streng, daß er selten ein Weib schön fand; die Reize eines hübschen Gesichtes ließen ihn ebenso kalt wie die Farben eines Fragonard und die reizenden Formen eines Boucher. Begierde kannte er nur in der tiefsten Liebe. Wie die Mehrzahl seiner Amtsgenossen hielt er die Frauen für gefährlicher als die Männer. Er haßte die früheren Prinzessinnen; er sah sie in seinen wilden Träumen mit Elisabeth und der Österreicherin Kugeln fabrizieren, um die Patrioten zu ermorden. Er haßte sogar die Geliebten der Finanzleute, Philosophen und Literaten, die den Freuden der Sinne wie des Geistes gefrönt hatten, in einer Zeit, da das Leben noch schön war. Er haßte sie, ohne sich seinen Haß einzugestehen, und wenn er über eine von ihnen zu urteilen hatte, so verurteilte er sie aus Haß, wähnte aber, sie aus Gerechtigkeit und zum Heile des Vaterlandes in den Tod zu schicken. Und seine Rechtschaffenheit, seine männliche Keuschheit, seine kalte Tugend, seine Hingabe an das öffentliche Wohl, kurz seine Tugenden legten manch reizenden Kopf unter das Henkerbeil.

Doch welch seltsames Wunder! Noch vor kurzem mußte man die Schuldigen suchen, sie in ihren Schlupfwinkeln aufstöbern und ihnen das Geständnis ihres Verbrechens entlocken. Jetzt war's keine Jagd mehr mit einer Meute von Spürhunden, nicht mehr die Verfolgung eines scheuen Wildes: die Opfer drängten sich von allen Seiten herbei. Adlige, Jungfrauen, Soldaten und Dirnen liefen Sturm auf den Gerichtshof, entrissen den Richtern ihre säumigen Urteile, verlangten den Tod wie ein Recht, auf das sie ungeduldig pochten. Nicht genug mit den Zahllosen, mit denen der Eifer der Angeber die Gefängnisse gefüllt hatte, die der öffentliche Ankläger und seine Gehilfen mit Aufbietung aller Kräfte vor Gericht zerrten, man mußte auch noch für die Hinrichtung derer sorgen, die nicht warten wollten. Ja viele, noch stolzer und ungestümer, neideten den Richtern und Henkern ihren Tod und entleibten sich selbst! Der Wut zu töten, entsprach die Wut zu sterben. In der Concierge saß ein schöner, junger, tapferer Soldat; er ließ im Gefängnis eine anbetungswürdige Geliebte zurück, die ihn bat: »Lebe an meiner Statt!« Er wollte weder für sie, noch für sich, noch für den Ruhm leben und steckte sich mit der Anklageschrift seine Pfeife an. Obwohl Republikaner und von Freiheitsdurst erfüllt, ward er Royalist, um zu sterben. Das Gericht gab sich Mühe, ihn freizusprechen; der Angeklagte war stärker: er zwang Richter und Geschworene, ihn zu verurteilen.

Evarists Geist, von Natur unruhig und grüblerisch, erfüllte sich bei den Lehren der Jakobiner und beim Anblick des Lebens mit Argwohn und Besorgnis. Wenn er nachts durch die schlecht erleuchteten Straßen zu Elodie ging, glaubte er durch jedes Kellerloch die Platten für die falschen Assignate zu sehen. Im Hintergrund der leeren Bäcker- und Drogenläden dachte er sich Speicher von aufgekauften Lebensmitteln. Durch die lichtstrahlenden Fenster der Restaurants glaubte er die Reden der Börsenspekulanten zu hören, die bei der Flasche Beaune oder Chablis den Untergang des Vaterlandes betrieben. In verrufenen Gassen sah er die Dirnen bereit, die Nationalkokarde unter dem Beifall der jungen Lebemänner mit Füßen zu treten: überall sah er Verräter und Verschwörer. Und er dachte: Republik! Gegen so viele offene und versteckte Feinde hast du nur ein Mittel. Heilige Guillotine, rette das Vaterland! . . .

Elodie erwartete ihn in ihrem weißen Schlafstübchen über dem »Amor als Maler«. Zum Zeichen, daß er hinaufkommen könnte, stellte sie ihre kleine Gießkanne auf den Balkon ihres Fensters neben den Nelkentopf. Jetzt flößte er ihr Entsetzen ein und erschien ihr wie ein Ungeheuer. Sie fürchtete sich vor ihm und betete ihn an. Die ganze Nacht lagen sie eng aneinandergeschmiegt, der blutdürstige Liebhaber und das sinnliche Mädchen, und vereinten sich in wilden, stummen Küssen.


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