Anatole France
Die Götter dürsten
Anatole France

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Vierundzwanzigstes Kapitel

Die Gefängnisverschwörungen nahmen kein Ende. Neunundfünfzig Angeklagte erfüllten die Tribüne. Maurice Brotteaux nahm ganz rechts in der obersten Reihe den Ehrenplatz ein. Er trug seinen flohbraunen Rock, den er am Vorabend sorgfältig abgebürstet, und dessen Tasche er ausgeflickt hatte, weil der kleine Lukrez sie mit der Zeit schadhaft gemacht. Neben ihm saß Frau Rochemaure, gemalt und geschminkt, aufgedonnert und scheußlich. Zwischen sie und die Dirne Athenais hatte man den Pater Longuemare gesetzt. Im Kerker der Madelonnettes hatte das Mädchen die Frische der ersten Jugend wiedererlangt.

Die Gendarmen pferchten auf den Bänken neben ihnen andere Angeklagte zusammen, die jene nicht kannten, und die sich vielleicht auch untereinander nicht kannten. Trotzdem waren sie als Komplizen angeklagt, Parlamentarier, Tagelöhner, frühere Adlige, Bürger und Bürgersfrauen. Die Bürgerin Rochemaure erblickte Gamelin auf der Geschworenenbank. Obwohl er auf ihre dringenden Briefe, auf ihre wiederholten Botschaften nicht geantwortet hatte, hoffte sie doch auf ihn, warf ihm einen flehenden Blick zu und bemühte sich, in seinen Augen schön und rührend zu erscheinen. Doch der kalte Blick des jungen Geschworenen raubte ihr jede Illusion. Der Gerichtsschreiber verlas die Anklageschrift, die jeden der Beschuldigten nur kurz abtat, wegen ihrer Menge jedoch lang war. In großen Zügen stellte sie das Komplott in den Gefängnissen dar, das den Zweck hatte, die Republik im Blute der Volksvertreter zu ertränken; dann ging sie auf jeden einzelnen ein und sagte:

»Einer der gefährlichsten Anstifter dieser schändlichen Verschwörung ist der namens Brotteaux, früher Des Ilettes, Finanzpächter unter dem Tyrannen. Dieses Individuum, das selbst in den Zeiten der Tyrannei durch seinen ausschweifenden Wandel auffiel, ist ein sicherer Beweis dafür, daß die Freigeisterei und die schlechten Sitten die größten Feindinnen der Freiheit und des Völkerglückes sind. Nachdem dieser Mensch die öffentlichen Finanzen ruiniert und einen beträchtlichen Teil der Volksgüter in Ausschweifungen vergeudet hat, tat er sich mit seiner alten Konkubine, der Frau Rochemaure, zusammen, um mit den Emigranten zu korrespondieren und die Auslandspartei verräterisch über den Stand unserer Finanzen, unserer Truppenbewegungen und die Strömungen der öffentlichen Meinung zu unterrichten. Brotteaux lebte in jener Periode seines verächtlichen Daseins im Konkubinat mit einer Prostituierten, die er im Schmutz der Rue Fromenteau aufgelesen hatte, der Dirne Athenais. Diese gewann er leicht für seine Zwecke und benutzte sie zur Förderung der Gegenrevolution durch schamlose Rufe und unanständige Aufhetzereien.

Einige Reden dieses gefährlichen Menschen werden Ihnen seine verworfenen Ideen und sein verderbliches Ziel klarmachen. Von dem patriotischen Gericht, das ihn heute zu züchtigen hat, sagte er frech: ›Das Revolutionstribunal gleicht einem Stück von William Shakespeare, der in die blutigsten Szenen die plattesten Clownspossen verflicht.‹ Unentwegt bekannte er sich zum Atheismus, als zum sichersten Mittel, das Volk zu erniedrigen und es in die Unsittlichkeit hinabzustürzen. Im Conciergerie-Gefängnis, wo er eingekerkert war, beklagte er die glänzenden Siege unsrer tapfern Heere als das schlimmste Unglück und bemühte sich, Verdacht auf die patriotischsten Generale zu werfen, indem er ihnen tyrannische Absichten unterschob. ›Eines Tages‹, so sagte er in einer Sprache, die die Feder sich wiederzugeben sträubt, ›wird einer jener Säbelraßler, dem ihr euer Heil verdankt, euch alle verschlucken, wie der Kranich in der Fabel die Frösche verschluckte‹.«

Die Anklageschrift fuhr folgendermaßen fort:

»Die Frau Rochemaure, früher adlig, Brotteaux' Konkubine, ist nicht minder schuldig als er. Sie stand nicht nur in Korrespondenz mit dem Ausland und im Solde von Pitt selbst, sondern auch im Verkehr mit Bestochenen, wie Julien (Toulouse) und Chabot. Sie unterhielt Beziehungen zu dem früheren Baron Batz und ersann im Verein mit diesem Frevler alle möglichen Ränke, um die Aktien der Ostindischen Gesellschaft zu drücken, sie billig aufzukaufen und den Preis dann durch entgegengesetzte Machenschaften wieder in die Höhe zu treiben, wodurch sie sowohl das Privatvermögen als auch das öffentliche Vermögen schädigte. In La Bourbe und in den Madelonnettes eingekerkert, fuhr sie im Gefängnis mit Verschwörungen, Börsenwucher und Bestechungsversuchen gegenüber den Richtern und Geschworenen fort

Louis Longuemare, früher adlig und Kapuziner, hat sich schon lange in Frevel und Ruchlosigkeit geübt, bevor er die verräterischen Akte beging, für die er sich hier zu verantworten hat. Er lebte in unsittlichem Verkehr mit dem Mädchen Gorcut, genannt Athenais, unter Brotteaux' eigenem Dache; er ist der Komplice jenes Mädchens und jenes früheren Adligen. Während seiner Haft in der Conciergerie hat er tagaus, tagein Pamphlete geschrieben, in denen er die Freiheit und den öffentlichen Frieden angriff.

In betreff der Marthe Gorcut, genannt Athenais, ist zu betonen, daß die Prostituierten die schlimmste Geißel der öffentlichen Sittlichkeit sind, die sie durch ihren Wandel verletzten, und ein Schandfleck der Gesellschaft, die sie verderben. Aber weshalb auf so abstoßende Frevel eingehen, welche die Angeklagte selbst schamlos eingesteht? . . .«

Auf diese Weise ging die Anklageschrift die vierundfünfzig andern Vorgeladenen durch, die weder Brotteaux noch den Pater Longuemare, noch die Bürgerin Rochemaure kannten, außer von flüchtigem Ansehen in den Gefängnissen, und die trotzdem mit ihnen verwickelt sein sollten »in die schändlichste Verschwörung, dergleichen in den Annalen der Völker nicht zu finden ist«.

Die Anklage forderte für alle Beschuldigten den Tod. Brotteaux ward zuerst verhört.

»Du hast konspiriert?«

»Nein, ich habe nicht konspiriert. Alles in der Anklageschrift, die ich eben vernommen, ist falsch.«

»Du siehst: noch in diesem Augenblick konspirierst du gegen das Gericht.«

Damit ging der Präsident zu Frau Rochemaure über, die mit verzweifelten Unschuldsbeteurungen, mit Tränen und Spitzfindigkeiten antwortete.

Der Pater Longuemare fügte sich ganz in Gottes Willen. Er hatte seine Verteidigungsschrift nicht einmal mitgebracht. Alle Fragen, die ihm gestellt wurden, beantwortete er mit tiefer Resignation. Nur als der Präsident ihn als Kapuziner anredete, erwachte der Mann in dem Greise.

»Ich bin kein Kapuziner«, sagte er, »ich bin Priester und Mönch des Ordens der Barnabiten.«

»Das ist das gleiche«, erwiderte der Präsident gemütlich.

Der Pater Longuemare blickte ihn entrüstet an: »Es gibt keinen seltsameren Irrtum«, sagte er, »als einen Kapuziner mit einem Mönche des Ordens der Barnabiten zu verwechseln, der seine Regeln vom Apostel Paulus selbst empfing.«

Allgemeines Gelächter und Hohnrufe waren die Antwort.

Doch der Pater Longuemare, der dieses Hohngelächter für ein Zeichen ansah, daß man seinen Worten nicht glaubte, erklärte, daß er als Mitglied des Ordens des heiligen Barnabas stürbe, dessen Kleid er im Herzen trüge. »Gestehst du,« fragte ihn der Präsident, »mit der Dirne Gorcut, genannt Athenais, die dir ihre schnöde Gunst erwies, konspiriert zu haben?«

Bei dieser Frage blickte der Barnabit schmerzerfüllt gen Himmel und schwieg. Das war der Ausdruck der Überraschung seiner lauteren Seele und seines mönchischen Ernstes, der eitle Worte verschmähte.

»Mädchen Gorcut«, fragte der Präsident die junge Athenais »gestehst du, mit Brotteaux konspiriert zu haben?«

Sie erwiderte sanft:

»Herr Brotteaux hat meines Wissens nur Gutes getan. Er ist ein Mann, wie viele sein sollten, und es gibt keinen besseren. Wer das Gegenteil sagt, irrt sich. Weiter hab' ich nichts zu sagen.«

Der Präsident fragte sie, ob sie gestände, mit Brotteaux im Konkubinat gelebt zu haben. Sie verstand den Ausdruck nicht, und er mußte ihr erklärt werden. Sobald sie aber begriff, was er bedeutete, antwortete sie, es hätte nur an ihm gelegen, er hätte sie aber nicht darum gebeten.

Auf den Tribünen erscholl Gelächter, und der Präsident drohte dem Mädchen Gorcut, sie vom Verhör auszuschließen, wenn sie noch weiter mit solchem Zynismus antworte.

Da schimpfte sie ihn Heuchler, Fastnachtsmaske, Hahnrei und spie auf ihn, auf die Richter und Geschworenen Kübel von Schmähungen aus, bis die Gendarmen sie von ihrer Bank fortgezerrt und hinausgeführt hatten.

Der Präsident verhörte hierauf kurz die andern Angeklagten in der Reihenfolge, in der sie saßen. Einer, namens Navette, antwortete, er hätte in dem Gefängnis, in dem er erst seit vier Tagen gesessen hätte, nicht konspirieren können. Der Präsident richtete an die Jury die gleiche Anforderung zugunsten des Beklagten. Dieses Wohlwollen des Richters erschien als der Ausdruck einer löblichen Gerechtigkeit oder auch als Lohn für ihre Angeberei.

Der Vertreter der Anklage ergriff das Wort. Er erweiterte die Anklageschrift noch und stellte die Frage:

»Steht es fest, daß Maurice Brotteaux, Louise Rochemaure, Louis Longuemare, Marthe Gorcut, genannt Athenais, Eusebius Rocher, Peter Guyton-Fabulet, Marcelline Descourtis usw. usw. eine Verschwörung angezettelt haben, deren Mittel Meuchelmord, Hungersnot, Anfertigung falscher Assignate und falscher Münzen, Verderbnis der Moral und des öffentlichen Geistes und Aufstände in den Gefängnissen waren, deren Ziel der Bürgerkrieg, die Auflösung der Nationalversammlung und die Wiederherstellung des Königtums sind?«

Die Geschworenen zogen sich ins Beratungszimmer zurück. Sie stimmten Mann für Mann auf schuldig für alle Angeklagten, mit Ausnahme von Navette und Bellier, die der Präsident und nach ihm der Vertreter der Anklage sozusagen aus dem Verfahren ausgeschlossen hatten. Gamelin begründete sein Verdikt mit diesen Worten:

»Die Schuld der Angeklagten springt in die Augen. Ihre Bestrafung ist für die öffentliche Wohlfahrt wichtig, und sie selbst müssen ihre Hinrichtung wünschen, als das einzige Mittel zur Sühnung ihrer Verbrechen.«

Der Präsident fällte das Urteil in Abwesenheit derer, die es betraf. An diesen großen Tagen wurden die Verurteilten gegen die gesetzliche Bestimmung nicht wieder in den Saal gerufen, um das Urteil zu vernehmen, jedenfalls, weil man die Verzweiflung einer so großen Anzahl von Menschen fürchtete. Eitle Befürchtung, denn die Ergebung der Opfer war damals groß und allgemein! Der Gerichtsschreiber ging hinunter und verlas das Urteil. Es wurde mit der Ruhe und Gefaßtheit hingenommen, derentwegen man die Opfer des Prairial mit gefällten Bäumen verglich.

Die Bürgerin Rochemaure erklärte sich guter Hoffnung. Ein Chirurg, der zugleich Geschworener war, wurde beauftragt, sie zu untersuchen. Man trug sie ohnmächtig in ihr Gefängnis. »Ach«, seufzte der Pater Longuemare, »diese Richter sind mitleidswürdige Menschen; ihr Seelenzustand ist wahrlich beklagenswert. Sie werfen alles durcheinander und verwechseln einen Barnabit mit einem Franziskaner!«

Die Hinrichtung fand noch am selben Tage an der Zollsperre »des umgestürzten Thrones« statt. Die Verurteilten machten sich zurecht, ließen sich die Haare schneiden, schlugen ihre Hemden am Halse zurück und warteten auf die Henkerkarren. Sie waren in dem kleinen, durch eine Glaswand abgetrennten Teil des Gefängnisbüros zusammengepfercht, wie eine Herde Schlachtvieh. Brotteaux las ruhig in seinem Lukrez.

Als der Henker und seine Knechte erschienen, legte er das Buchzeichen in die angefangene Seite, klappte das Buch zu, steckte es in seine Rocktasche und sagte zu dem Barnabiten: »Verehrter Vater, was mich wütend macht, ist, daß ich Sie nicht überzeugen kann. Wir werden alle beide unsern letzten Schlaf schlafen, und ich kann Sie nicht am Ärmel zupfen und zu Ihnen sagen: ›Sehen Sie, Sie haben kein Gefühl und Bewußtsein mehr; Sie sind leblos. Was dem Leben folgt, ist wie das, was ihm vorausgeht‹.«

Er wollte lächeln, doch ein furchtbarer Schmerz wühlte ihm durch Herz und Eingeweide, und er wurde fast ohnmächtig. Trotzdem fuhr er fort:

»Mein Vater, ich verberge Ihnen meine Schwäche nicht. Ich liebe das Leben und verlasse es nur widerwillig.«

»Mein Herr«, erwiderte der Mönch sanft, »bedenken Sie eins: Sie sind tapfrer als ich, und doch verwirrt der Tod Sie mehr. Was will das besagen, wenn nicht, daß ich das Licht sehe, das Sie noch nicht sehen?«

»Vielleicht auch«, sagte Brotteaux, »fällt mir der Tod schwerer, weil ich das Leben mehr genossen habe als Sie, der Sie es dem Tode schon so ähnlich wie möglich machten.«

»Mein Herr«, sagte der Pater Longuemare erbleichend, »diese Stunde ist schwer. Gott stehe mir bei! Wir werden gewiß ohne Beistand sterben. Ich muß die Sakramente wohl früher ohne Andacht und mit undankbarem Herzen empfangen haben, da der Himmel sie mir heute versagt, wo ich ein so brennendes Verlangen danach habe.«

Die Henkerkarren warteten. Man pferchte die Verurteilten mit gebundenen Händen hinein. Frau Rochemaure, deren Schwangerschaft sich nicht bestätigt hatte, wurde auf einen zweirädrigen Karren geladen. Sie fand etwas von ihrer Lebenskraft wieder, um den Schwarm der Zuschauer zu beobachten, und hoffte gegen alles Erwarten, Retter unter ihnen zu finden. Ihre Augen flehten. Der Volksauflauf war geringer als früher, und die Erregung der Geister weniger heftig. Nur ein paar Weiber schrien: »Zum Tode!« oder versöhnten die Todgeweihten. Die Männer zuckten die Achseln, wandten den Blick ab und schwiegen, sei es aus Vorsicht oder aus Achtung vor dem Gesetz.

Doch ein Schauder ging durch die Menge, als Athenais durch das Gittertor trat. Sie sah wie ein Kind aus.

Sie verneigte sich vor dem Mönch und sagte:

»Herr Pfarrer, geben Sie mir die Absolution.«

Der Pater Longuemare murmelte ernst die Worte des Sakraments und schloß:

»Meine Tochter, du bist in große Verirrungen hinabgesunken. Dennoch möchte ich dem Herrn ein so schlichtes Herz darbringen können wie du!«

Leichtfüßig bestieg sie den Wagen. Dort richtete sie sich hoch auf, warf ihren Kinderkopf stolz zurück und rief:

»Es lebe der König!«

Sie machte Brotteaux ein Zeichen, daß neben ihr noch Platz wäre. Der alte Finanzmann half dem Barnabiten hinauf und setzte sich zwischen den Mönch und das unschuldige Kind.

»Mein Herr«, sagte der Pater Longuemare zu dem Epikureer, »ich bitte Sie um eine Gnade. Der Gott, an den Sie noch nicht glauben – beten Sie zu ihm für mich. Es ist nicht sicher, ob Sie ihm nicht näher sind als ich: ein Augenblick kann es entscheiden. Es bedarf nur einer Sekunde, und Sie sind das Lieblingskind des Herrn. Mein Herr, beten Sie für mich.«

Während die Räder über das Pflaster der langen Vorstadt knirschten, sagte der Mönch still, nur die Lippen bewegend, Totengebete her, und Brotteaux wiederholte sich die Worte des Dichterphilosophen: »Sic ubi non erimus« . . .

Obwohl festgebunden und von dem elenden Karren geschüttelt, bewahrte er eine ruhige Haltung, ja, er suchte es sich noch bequem zu machen. Athenais, die neben ihm saß, war stolz, so zu sterben wie die Königin von Frankreich, und warf hochmütige Blicke auf die Menge, dieweil der alte Finanzmann den weißen Busen des jungen Mädchens mit Kenneraugen betrachtete und bedauerte, daß es nicht heller Tag war.


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