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Zweites Kapitel.
Feierlicher Trommelwirbel

Am 25. Februar, dem Tag der Abreise, stand Onkel Piero um halb acht Uhr auf und trat ans Fenster. Ein dichter Nebel hing über dem weiß schimmernden See und verhüllte die Berge, so daß man nur zwei schmale schwarze Streifen zwischen dem See und dem Nebel sah, einen auf der rechten, den andern auf der linken Seite.

»O weh!« seufzte der Onkel. Er war noch nicht fertig angekleidet, als Luisa eintrat, um ihn unter dem Vorwand des schlechten Wetters zu bitten, daheim zu bleiben, sie allein reisen zu lassen. Cia war in großer Angst und hatte Luisa gebeten, darauf zu bestehen, denn sie wußte, daß er am zwanzigsten von heftigem Schwindel ergriffen worden war, und daß er am zweiundzwanzigsten, ohne jemand ein Wörtchen davon zu sagen, gebeichtet hatte. Er wurde ärgerlich, und man mußte schweigen und ihm seinen Willen lassen. Armer Onkel! Er war immer von eiserner Gesundheit gewesen und war sehr ängstlich, die geringste Störung beunruhigte ihn; aber jetzt schien es ihm unrecht, Luisa in ihrer geistigen Verfassung allein reisen zu lassen, und so opferte er sich für sie. Er kleidete sich an, trat wieder ans Fenster und rief triumphierend nach Luisa, die ins Gärtchen gegangen war.

»Kopf in die Höhe,« rief er, »und sieh den Boglia an!«

Hoch oben über Oria sah man durch den dampfenden Nebel hindurch das blasse Gold der Sonne auf dem Berge und noch höher hinauf einen durchsichtig heiteren Himmel.

»Ein schöner Tag!«

Luisa antwortete nicht, und der Alte ging frohgemut auf die Loggia und trat hinaus auf die Terrasse, um den prachtvollen Kampf zwischen Nebel und Sonne zu genießen.

Der ganze östliche Teil des Sees zwischen Ca Rotta, dem letzten Hause von San Mamette zur Linken und der Bucht des Doi zur Rechten, schien ein unendliches weißes Meer. Ca Rotta schimmerte wie eine Erscheinung nur undeutlich hervor. Bei der Bucht des Doi begann der feine schwarze Streifen zwischen der Bleifarbe des Sees und dem Nebel. Nach und nach bekam dieser Nebel eine bläuliche Färbung, eine unbestimmte Helligkeit breitete sich nach Osteno zu über den Himmel, an der Oberfläche des östlichen Sees blitzten neue Lichter auf, die Brise brachte bräunliche Streifen und Flecke. Ein Stückchen des Sonnenballs tauchte in den wirbelnden Dunstwolken über Osteno auf und verschwand wieder, wurde rasch größer und trug leuchtend den Sieg davon. Der Nebel verflüchtigte sich nach allen Seiten in Fetzen und Flocken. Einige Nebelwolken schwebten groß und schnell über Oria dahin, andre lösten sich an der Küste auf; was noch übrig blieb, verlor sich im äußersten Osten; und dort ragten hinter und über einem dichten weißen Vorhang die Berge des Comersees sieghaft in den strahlenden Himmel.

Onkel Piero rief Luisa, damit sie das Schauspiel genösse, die letzte glänzende Szene des Dramas, den Triumph der Sonne, die Flucht der Nebel, die Glorie der Berge. Er bewunderte wie ein alter Patriarch, ohne Verfeinerung künstlerischen Empfindens, aber mit jugendlicher Wärme, mit aufrichtiger Begeisterung in der Stimme, als ein Alter, der keusch gelebt und die Frische seines Herzens nicht vergeudet hat, der sich eine gewisse Unschuld der Phantasie gewahrt hat.

»Sieh, Luisa,« rief er, »ob man da nicht sagen muß: Ehre dem Vater und dem Sohne und dem Heiligen Geist!«

Luisa antwortete nicht, sie entfernte sich rasch, um nicht die weiße Mauer jenseits des Obstgartens sehen zu müssen, die sie gewaltig anzog mit einer geheimen Stimme von Vorwurf und Schmerz. Sie war um sechs Uhr dort gewesen und hatte, auf dem durchnäßten Grase sitzend, im Nebel eine Stunde dort zugebracht.

Der Onkel blieb bis zum Augenblick der Abreise in Betrachtung versunken auf der Terrasse. Wenn er ein eingebildeter Poet gewesen wäre, hätte er meinen können, Valsolda wünsche ihm mit einem Abschiedsschauspiel glückliche Reise und wollte sich ihm so schön zeigen, wie er es vielleicht noch nie gesehen hatte. Aber solche poetischen Phantastereien kamen ihm nicht, und dann handelte es sich ja um eine so kurze Reise! Statt dessen tauchte Marias Bild in seinem Innern auf und die Vorstellung, sie käme laufend auf ihn zu, er zöge sie auf seinen Schoß und sänge ihr das alte Liedchen:

Ombretta, du spröde,
Vom Mississippi ...

»Genug!« seufzte er. »Es war ein großartiger Anblick!« Und von Cia gerufen, schritt er langsam hinunter ins Gärtchen, wo Luisa ihn erwartete, bereit, in das Boot zu steigen. »Da bin ich,« sagte er; »und du gib gut acht, daß du während unsrer Abwesenheit das Haus nicht in den See fallen läßt.«

*

Während der Fahrt über den Lago Maggiore saß Luisa an Bord des »San Bernardino« fast die ganze Zeit in der Kajüte zweiter Klasse. Ein einziges Mal stieg sie herauf, um Onkel Piero zu bewegen, ebenfalls herunterzukommen; aber Onkel Piero, in seinen langen, grauen Überrock gehüllt, wollte sich trotz der kalten Luft nicht von der Brücke bewegen, auf der er friedlich stand, Berge und Ortschaften betrachtete und sich ab und zu in eine Unterhaltung mit einem Priester aus Locarno, mit einem alten Weibchen aus Belgirate und mit andern Reisenden zweiter Klasse einließ. Luisa mußte ihn oben lassen und stieg wieder hinunter, da sie es vorzog, mit ihren eigenen Gedanken allein zu bleiben. Je mehr man sich der Isola Bella näherte, um so mehr wuchs in ihrem Innern eine dumpfe Aufregung, eine unbestimmte Erwartung der kommenden Ereignisse. Wie würde die Begegnung mit Franco sich gestalten? Wie würde er sich ihr gegenüber benehmen? Würde er zu ihr sprechen, wie es der Onkel getan hatte? Seine Briefe waren ja sehr verständnisvoll und zärtlich, aber wer wüßte nicht, daß Schreiben und Sprechen zweierlei sind? Wie und wo würden sie den Abend verbringen? Und dann die andre Sache, die Sache, die auszudenken schon schrecklich war ...? All diese Fragen stiegen auf, unabweisbar, drohten die Herrschaft zu gewinnen und sich in Widerspruch zu setzen zu dem Bilde des Friedhofs von Oria, das jeden Augenblick wieder auftauchte, gebieterisch, wie um sein Eigen zurückzunehmen. An der Station Cannero hörte Luisa über ihrem Kopf Geräusch von vielen Schritten, großen Lärm von Stimmen und Rufen und stieg hinauf, um nach dem Onkel zu sehen. Es waren Soldaten, die zu den Fahnen einberufen und die auf zwei großen Booten auf das Schiff gekommen waren. Andre kleinere Boote brachten Frauen, Kinder und Greise, die grüßten und weinten. Die Soldaten, zum größten Teil Bersaglieri, schöne, fröhliche Jünglinge, erwiderten die Grüße, schrien »Hoch Italien!« und versprachen Geschenke von Mailand.

Eine Alte, die drei Söhne unter diesen Soldaten hatte, rief ihnen mit zerrauften Haaren, aber ohne Tränen zu, sie möchten sich des Herrn und der heiligen Jungfrau erinnern.

»Ja,« brummte ein alter Sergeant, der sie begleitete, »das erinnert sich des Herrn, der Madonna, des Bischofs und des Profossen.«

Die Soldaten, die reichliche Erfahrung mit dem »Profoß«, dem militärischen Strafaufseher, hatten, lachten über den Spaß, und das Schiff fuhr ab. Rufe, Winke mit den Taschentüchern und dann Gesang, mächtiger Gesang aus fünfzig munteren Kehlen:

Ade, ade, mein Schätzchen,
Nun ziehn wir in den Krieg.

Die Soldaten hatten sich alle vorn auf dem Schiffe auf Säcken und Fässern zusammengedrängt, die einen saßen, andre standen, wieder andre lagen, und alle sangen sie aus voller Kehle zu der dumpfen Begleitung der Räder des Dampfers, der geradewegs lossteuerte auf den Strich, den die flachen Hügel von Ispra abtrennen von dem ungeheuern Wasserspiegel, auf den Tessin hin. Diese Jünglinge mußten in Bälde den Tessin überschreiten, vermutlich unter wütendem Kugelregen, mit dem Losungswort Savoyen. Viele von ihnen würden dort unten, unter diesem heiteren Himmel, vom Tode getroffen werden; aber alle sangen sie frohgemut, und nur der düstere Lärm der Schiffsräder schien etwas davon zu wissen. Die freien piemontesischen Berge, an deren Küste entlang das Schiff glitt, schienen, obwohl im Schatten liegend, stolz und zufrieden, ihre Söhne den geknechteten lombardischen Bergen entsandt zu haben, die trotz hellen Sonnenglanzes einen tragischen Anblick gewährten.

Luisa fühlte ein leises Kochen in ihrem Blute, das Erwachen ihres einst so glühenden Patriotismus. Und diese Mütter, die ihre Söhne so hatten fortziehen sehen? Sie kam ihren eignen Gedanken zuvor und sagte sich schnell, daß auch sie gern einen Sohn dem Vaterland gegeben hätte, und daß diese Mütter sich in keiner Weise mit ihr vergleichen könnten. Aber wie anders es doch war, in Valsolda einen Brief zu lesen, der vom Kriege erzählte, und hier den Hauch und den Lärm des Krieges lebendig um sich zu verspüren, ihn mit der Luft einzuatmen! In der Luft von Valsolda war er ein Schatten ohne Realität; hier nahm der Schatten Gestalt an. Hier wurde Luisas persönlicher Schmerz, der endlose Schmerz, der die bewegungslose Luft in Oria rundum erfüllte, hier wurde er klein angesichts der allgemeinen Bewegung, und sie empfand es, und es erfüllte sie mit Unbehagen, mit unbeschreiblicher Pein. War es die Angst, einen Teil ihres persönlichen Schmerzes, sozusagen einen Teil von sich selbst, zu verlieren? War es der Wunsch, sich einem Vergleiche zu entziehen, den zu machen sie sich scheute? Zu gleicher Zeit nahm die Vorstellung, daß auch Franco in diesen Krieg zöge, die Vorstellung, wie wenig sie das in Valsolda berührt hatte, eine neue, greifbare Gestalt in ihrem Innern an, sie erschütterte ihr Herz und begann ebenfalls mit dem Bilde des Friedhofs von Oria zu kämpfen. Zum erstenmal war das Bild der Vergangenheit nicht absoluter, allmächtiger Alleinherrscher ihrer Seele; diese Seele empfand wohl Verachtung und Reue hierüber, aber neue Bilder, Bilder der Gegenwart und der Zukunft, stürmten auf sie ein.

Dem Onkel wurde es zu kalt, und er ging in die Kajüte. »In einer guten Stunde,« sagte er, »sind wir in Isola Bella.«

»Bist du müde?«

»Durchaus nicht. Ich fühle mich sehr wohl.«

»Aber du wirst dich doch heute abend früh ins Bett legen?«

Der Onkel war zerstreut und antwortete nicht. Statt dessen sagte er nach einer Weile plötzlich:

»Weißt du, was ich dachte? Ich dachte, daß nächstes Jahr eine neue Maria kommen sollte.«

Luisa, die neben ihm saß, stand jählings auf und ging bebend an das kleine Fenster gegenüber, durch das sie, dem Onkel den Rücken wendend, hinausschaute. Der verstand nicht, was in ihr vorging, glaubte an ein Gefühl von Verlegenheit und schlief in seiner Ecke ein. Das Schiff berührt Intra. Jetzt kommt vor der Isola nur noch Pallanza. Das Schiff fährt am Ufer entlang; Luisa sieht durch das ovale Fensterchen die Ufer, Häuser und Bäume vorübergleiten. Wie schnell es fährt, wie schnell!

Pallanza. Das Schiff hat fünf Minuten Aufenthalt.

Luisa steigt aufs Deck und fragt, wann man in Isola Bella ankommt. Das Schiff legt weder in Suna noch in Baveno an, es ist eine Fahrt von nur wenigen Minuten. Und wann kommt das Schiff von Arona? Es scheint Verspätung zu haben. Sie geht wieder hinunter und weckt den Onkel und kommt dann mit ihm aufs Deck. Das letzte Stück der Reise wird schweigend zurückgelegt. Der Onkel blickt auf Pallanza, das zurückweicht, und Luisa hat die Augen starr auf die Isola Bella gerichtet und sieht nichts anders.

Das Schiff legt am Landungssteg von Isola Bella um drei Uhr vierzig Minuten an. Keine Spur von dem Schiffe von Arona. Ein Bediensteter sagt Luisa, daß dies Schiff jetzt regelmäßig Verspätung hat wegen des Zuges von Novara, der infolge der militärischen Bewegungen gar keinen festen Fahrplan mehr einhält.

Niemand stieg in der Isola aus, niemand war am Ufer außer dem am Landungsplatz angestellten Mann. Nach der Abfahrt des Schiffes begleitete er selbst die beiden Reisenden nach dem Wirtshaus zum Delphin. Es wäre ein reiner Zufall, sagte er, daß sie um diese Jahreszeit den Delphin offen fänden. Eine zahlreiche englische Familie brächte den Winter dort zu. Im übrigen schien es die Insel des Schweigens. Der See lag regungslos, das Ufer war verödet, auf den Galerien der armen, alten Häuschen, die am Hafen zwischen dem runden Bollwerk des Gartens und dem Wirtshaus auf einem Haufen standen, ließ sich keine lebende Seele sehen.

Die Engländer waren in einem Boot ausgefahren; das Wirtshaus lag schweigend wie das Ufer, wie der See. Die Neuangekommenen bekamen zwei große Zimmer im zweiten Stock, nach Süden gelegen und mit dem Blick auf den melancholischen schmalen Wasserarm zwischen der Insel und dem bewaldeten Weg, der von Stresa nach Baveno führt. Das erste Zimmer, an der westlichen Ecke, hatte ein Fenster nach dem Kirchlein S. Vittore, das seitwärts vom Wirtshaus steht, und auf die ferne kleine Isola dei Pescatori. Onkel Piero stellte sich an dieses Fenster und sah auf die Insel, auf die Gruppe von Häusern, die über dem Seespiegel hervorlugten und von einem Glockenturm überragt wurden, und auf die hohen Berge der Val di Toce und der Val di Grevellone, die halb von sonnendurchleuchteten leichten Nebeln verhüllt waren.

Als Luisa sah, daß in dem Zimmer zwei Betten standen, ging sie schnell in das andre, in dem sich ein Alkoven mit ebenfalls zwei Betten befand.

»Vortrefflich,« meinte Onkel Piero, der einen Augenblick später eintrat, »dieses paßt ausgezeichnet für euch beide.«

Luisa fragte leise den Wirt, ob man nicht statt dieser zwei lieber drei Zimmer haben könne.

Nein, die könnte man nicht haben.

»Aber wenn es doch sehr gut so geht!« wiederholte der Onkel. »Wenn es doch ausgezeichnet so geht! Ihr beide hier, und ich dort.«

Luisa schwieg, und der Wirt entfernte sich.

»Siehst du nicht, daß du einen Alkoven hast wie zu Haus?«

Dem alten Patriarchen kam es nicht in den Sinn, daß der bloße Anblick dieses Alkovens eine Qual für Luisa war. Sie erwiderte, daß sie das andre hellere und freundlichere Zimmer vorzöge.

»Amen,« sagte der Onkel. »Mach, was du willst; dann nehme ich also den Alkoven.«

Auch dieser Winkel des Wirtshauses wurde wieder totenstill. Luisa stellte sich ans Fenster. Das Schiff von Arona mußte in Sicht sein, denn der Mann von vorhin ging langsam zum Landungsplatz, und kurze Zeit darauf hörte man das ferne Geräusch der Räder. Der Onkel teilte Luisa mit, daß er sich müde fühle und lieber im Zimmer bleiben wolle.

Luisa ging hinunter zur Landungsbrücke und blieb bei einem verfallenen Häuschen stehen, das ihr den Blick auf das Schiff, dessen Lärmen man hörte, benahm. Plötzlich tauchte das Vorderteil des »San Gottardo« langsam vor ihr auf und hielt an. Luisa erkannte ihren Mann zwischen einer Gruppe von Personen, die großen Lärm um ihn herum vollführten. Franco sah sie, sprang auf die Brücke und lief auf sie zu; sie kam ihm zwei Schritte entgegen. Sie umarmten sich, er stumm, blind vor Bewegung, lachend und weinend, voller Dankbarkeit, zugleich aber zagend, ungewiß über ihre Stimmung und über die Art, wie sie sich ineinander finden würden; sie gefaßter, aber sehr bleich und sehr ernst.

»Gehen wir,« sagte sie, »gehen wir,« und schlug den Weg zum Wirtshaus ein.

Nun kam Franco mit einer wahren Flut von Fragen, zuerst über ihre Reise, über das Passieren der Grenze; dann über den Onkel. Als er den Onkel nannte, hob Luisa ihr Gesicht in die Höhe und sagte: »Sieh!« Der Onkel stand oben am Fenster und rief ein dröhnendes »Willkommen!« herunter, wobei er mit dem Taschentuch schwenkte. Ganz starr vor Staunen machte Franco: »Ach!« und fing an zu laufen.

Der Onkel erwartete ihn auf dem Treppenabsatz mit einem Ausdruck von Zufriedenheit, der sich bis auf seinen friedlichen Bauch erstreckte.

»Da bist du nun also,« sagte er, nahm seine Hände und schüttelte sie, ihn dabei fern haltend. Denn er wollte keine Küsse, die in diesem Augenblick den Anschein einer Dankbezeigung hätten gewinnen können; aber er konnte sich Francos stürmischer Begrüßung nicht entziehen.

»Stell dir vor,« sagte er, kaum daß er sich den Armen des jungen Mannes entwunden hatte, »ob eine Maironi ohne Haushofmeister reisen kann! Außerdem bin ich auch gekommen, um mich bei den Bersaglieri anwerben zu lassen.«

Und bei diesen Worten ging der müde Mann die Treppe hinunter, um, wie er sagte, das Essen zu bestellen.

In dem Zimmer der Gatten befand sich kein Sofa. Franco zog Luisa auf das Bett, setzte sich neben sie und legte den Arm um ihren Nacken, unfähig zu irgendwelcher Unterhaltung, immer nur die Worte »ich danke dir, ich danke dir« wiederholend und nichts andres als stürmische Liebkosungen, stürmische Küsse und zärtliche Namen findend. Mit gesenktem Kopf saß Luisa zitternd da, ohne seine Ergüsse irgendwie zu erwidern; da bezähmte er sich, nahm ihren Kopf wie ein Heiligtum und berührte die weißen Haare, die er sah, leise mit den Lippen. Sie verstand, daß er die weißen Haare suchte, begriff diese schüchternen Küsse, fühlte sich ganz von Rührung ergriffen, und das Herz schien ihr gleichsam aufzutauen, dann erschrak sie und wollte sich mehr vor sich selber als vor Franco verteidigen.

»Weißt du,« sagte sie, »mein Herz ist zu Eis erstarrt, ich wollte auch nicht kommen, ich wollte Maria nicht verlassen und wollte dir die Bitterkeit ersparen, mich so zu finden. Der Onkel ist die Ursache, daß ich doch gekommen bin. Er wollte allein gehen, und da habe ich mich erst entschlossen.«

Kaum hatte sie diese grausamen Worte gesprochen, so fühlte sie, wie sich Francos Lippen von ihren Haaren, wie sich seine Arme von ihrem Nacken lösten. Lange schwiegen sie beide; dann murmelte Franco sanft:

»Es sind noch dreizehn Stunden. Vielleicht werde ich dich später nie wieder belästigen.«

In diesem Augenblick trat Onkel Piero ein und verkündete, daß das Essen bereit wäre. Luisa nahm ihres Gatten Hand und drückte sie schweigend, nicht mit der Leidenschaft der Geliebten, aber doch stark genug, um zu verstehen zu geben, daß sie tief ergriffen sei.

Beim Mahle aß weder Luisa noch Franco etwas. Dafür aß der Onkel mit Appetit und sprach viel. Er billigte es nicht, daß Franco die Waffen ergriff.

»Was für einen Soldaten wirst du abgeben?« sagte er zu ihm. »Was willst du anfangen ohne Kampfer, ohne Gurgelwasser und ohne was weiß ich?«

Franco erklärte, daß er alle Medikamente fortgeworfen hätte, daß er sich eisern fühlte, und daß er der kräftigste Soldat des neunten Regiments sein würde.

»Mag sein!« brummte der Onkel. »Mag sein! Und du, Luisa, sagst du gar nichts?«

Luisa erwiderte, sie sei überzeugt von dem, was ihr Mann gesagt hätte.

»Das genügt!« meinte der Onkel. »Er lebe hoch!«

Er hatte ferner auch eine große Vorstellung von der österreichischen Macht und sah durchaus nicht so rosig wie Franco in die Zukunft.

Nach Francos Ansicht war gar nicht am Siege zu zweifeln. Er hatte einen Adjutanten des Marschalls Niel, der heimlich nach Turin gekommen war, gesehen, und hatte ihn zu einigen piemontesischen Offizieren des Generalstabes sagen hören: » Nous allons supprimer l'Autriche.« Freilich würden mindestens fünfzigtausend italienische und französische Leichen zwischen Tessin und Isonzo bleiben.

»Entschuldigen Sie, mein Herr,« sagte der bedienende Kellner. »Mir schien, daß der Herr davon sprach, ins neunte Regiment einzutreten?«

»Ja.«

»Brigade Königin. Tapfere Brigade. Ich habe im zehnten gedient. Wir haben 1848 Ehre eingelegt, he! Goito, Santa Lucia, Governolo, Volta! Jetzt ist die Reihe an Ihnen.«

»Werden unser möglichstes tun.«

Luisa überlief ein leiser Schauer. Die Engländer, die am Nebentisch speisten, verstanden das Gespräch und sahen auf Franco. Einige Augenblicke lang sprach niemand; die Vision einer im Kugelregen daherstürmenden Infanteriekolonne mit aufgepflanztem Bajonett ging durch den Saal.

Nach dem Essen blieb der Onkel zu seiner gewohnten Siesta im Hotel, und Franco ging mit Luisa hinaus. Sie nahmen die Straße nach rechts auf den Palazzo zu. Es war ziemlich dunkel, dann und wann fielen einige Regentropfen, und die Stufen, die vom Ufer nach dem Hofe der Villa führten, waren schlüpfrig, so daß man unsicher ging. Franco bot seiner Frau den Arm, die ihn schweigend annahm. Zwischen dem verödeten Hofe und der Treppe des Landungsplatzes blieben sie stehen, um die Schläge zu zählen, die eben von der Uhr des Palazzo erklangen. Sechs. Es waren also zwei Stunden vergangen, elf andere blieben ihnen noch; dann kam die Trennung, das Unbekannte. Langsam gingen sie weiter, immer ohne zu sprechen, auf der geraden Straße zwischen dem See und der Seitenfront des Palozzo, in der Ecke, die auf die Isola dei Pescatori sieht, wo schon einige Lichter aufzutauchen begannen. Zwei Frauen kamen ihnen schwatzend Arm in Arm entgegen. Franco ließ sie vorübergehen, und dann fragte er seine Frau, ob sie sich an die Rancò erinnere.

Zwei Jahre vor ihrer Verheiratung hatten sie mit einigen Freunden einen Spaziergang nach Drano und den Rancò gemacht, hochgelegenen Weideplätzen, über die man gehen muß, um nach dem Passo Stretto zu gelangen. Sie hatten einen lebhaften Streit gehabt, eine Stunde voll Zorn und Pein.

»Ja,« erwiderte Luisa, »ich erinnere mich.«

Beide fühlten in demselben Augenblick, wie sehr die gegenwärtige Stunde von jener verschieden war, und wie unendlich traurig es war, sich das sagen zu müssen. Sie sprachen nicht mehr, bis sie an die Ecke kamen. Glockenklang drang von der Isola dei Pescatori. Franco ließ den Arm seiner Frau los und lehnte sich an die Brüstung. Der See lag ruhig im Nebel, nichts war zu sehen, außer den Lichtern auf der andern Insel. Der See, der Nebel, diese Lichter, diese Glocken, die von einem im Meer versunkenen Schiff zu kommen schienen, das Schweigen der Dinge bis herab auf die vereinzelten kleinen Regentropfen, alles war so traurig.

»Und erinnerst du dich weiter?« murmelte Franco, ohne das Gesicht umzuwenden. Auch Luisa hatte sich an die Brüstung gelehnt. Sie schwieg ein wenig, dann antwortete sie mit leiser Stimme:

»Ja, Lieber.«

In diesem »Lieber« lag ein leiser, geheimer Anfang von Wärme, von zärtlicher Bewegung. Franco fühlte es, und ein freudiger Schreck durchzuckte ihn, aber er hielt an sich.

»Ich denke,« fuhr er fort, »an den Brief, den ich dir damals, kaum nach Haus zurückgekehrt, sofort schrieb, und an die fünf Worte, die du am andern Tag zu mir sagtest, in Muzzaglio, als die andern unter den Kastanien tanzten und du an mir vorüber gingst, um dein Tuch zu holen, das du auf den Rasen gelegt hattest. Erinnerst du dich ihrer?«

»Ja.«

Er nahm ihre Hand und führte sie an die Lippen.

»Ich danke dir nochmals,« sagte er, »für die fünf Worte. Damals bedeuteten sie für mich das Leben. Erinnerst du dich, daß ich dir beim Heruntergehen den Arm gab, und daß Mondschein war?«

»Ja.«

»Und erinnerst du dich, daß ich, bevor wir an die Brücke kamen, ausglitt, und daß du zu mir sagtest: ›Mein lieber Herr, es ist Ihre Sache, mich zu stützen‹?«

Luisa erwiderte nichts, sie drückte seine Hand.

»Ich war zu nichts gut,« sagte er traurig. »Ich habe es nicht verstanden, dich zu stützen.«

»Du hast alles getan, was in deiner Macht war.«

Luisas Stimme war bei diesen Worten heiser, aber ganz verschieden von der, mit der sie zu ihm gesagt hatte: Mein Herz ist zu Eis erstarrt.

Ihr Gatte nahm wieder ihren Arm und ging mit langsamen Schritten zum Landungsplatz zurück. Der teure Arm war nicht leblos wie vorher, sondern verriet eine Erregung, einen Kampf. Franco blieb stehen und fragte leise: »Und wenn ich zu Maria gehe? Was soll ich ihr von dir sagen?«

Sie begann zu zittern, legte den Kopf auf seine Schulter und flüsterte: »Nein, bleibe.«

Franco verstand sie nicht und fragte: »Wie?«

Er hörte keine Antwort, beugte langsam, langsam sein Gesicht herab, sah ihre Lippen sich ihm entgegenneigen und drückte die seinen darauf. Sein Herz klopfte; es klopfte stärker als damals, da er Luisa zum erstenmal als Liebhaber geküßt hatte. Als er das Gesicht wieder in die Höhe hob, konnte er nicht sprechen. Endlich gelang es ihm, die Worte hervorzubringen:

»Ich werde ihr sagen, daß du versprochen hast ...«

»Nein,« murmelte Luisa verzweifelt, »das nicht, das kann ich nicht, das mußt du nicht von mir verlangen, es ist nicht mehr möglich.«

»Wie, es ist nicht möglich?«

»Ah, du verstehst mich wohl! Ebenso wie ich wohl verstanden habe, was du meintest.«

Sie wollte den Weg fortsetzen, um dieser Unterhaltung zu entgehen. Sie blieb aber am Arme ihres Gatten, der sie zum Stehenbleiben zwang.

»Luisa!« sagte er ernst, fast herrisch. »Willst du mich so abreisen lassen? Weißt du, was es für mich heißt, so abzureisen?«

Da zog sie langsam ihren Arm aus dem seinen und wendete sich nach rechts zu der Brüstung, an die sie sich lehnte, um ins Wasser zu schauen, wie an jenem Abend in Oria. Franco blieb dicht an ihrer Seite, wartete ein Weilchen und bat sie dann, ihm zu antworten.

»Für mich wäre es am besten, da unten im See ein Ende zu machen,« sagte sie bitter.

Ihr Mann schlang den Arm um ihren Leib, riß sie von der Brüstung fort, ließ sie dann wieder frei und hob den Arm zum Himmel.

»Du?« rief er voller Verachtung. »Du sprichst so, die du immer behauptest, das Leben wie einen Krieg aufzufassen? Und das wäre deine Art zu kämpfen? Ich glaubte früher, daß du die Stärkere von uns beiden wärest. Jetzt sehe ich ein, daß ich der Stärkere bin. Der bei weitem Stärkere! Kannst du dir überhaupt nur vorstellen, was ich in diesen Jahren gelitten habe? Kannst du dir überhaupt vorstellen ...« Er fühlte, wie die Stimme ihm für einen Augenblick versagte, aber er überwand sich und fuhr fort: »Kannst du dir auch nur vorstellen, was du für mich bist, und was ich tun würde, um dir auch nicht den kleinsten Schmerz ohne Not zuzufügen, während es dir ganz gleichgültig zu sein scheint, ob du mir die Seele zerreißt?«

Sie warf sich in seine Arme. In dem Schweigen, das folgte, und das nur durch einen Krampf unterdrückten Schluchzens unterbrochen wurde, hörte Franco Leute kommen und hatte alle Mühe, sein Weib von seiner Brust zu lösen, um den Weg zum Wirtshaus mit ihr fortzusetzen.

»Du, du!« flüsterte er. »Und du willst nicht, daß ich sterben möchte, wenn ich so schön den Tod fürs Vaterland sterben kann?«

Luisa preßte seinen Arm, ohne zu sprechen. Sie begegneten zwei jungen Liebesleuten, die sie im Vorübergehen neugierig betrachteten. Das Mädchen lächelte. Auf den Stufen angekommen, die auf den kleinen Platz vor San Vittore hinunterführen, hörten sie Stimmen von Kindern und Frauen. Luisa blieb einen Augenblick auf der obersten Stufe stehen und sagte leise die fünf Worte von Muzzaglio: »Ich liebe dich so sehr.«

Franco antwortete nur durch einen Druck des Armes. Ganz langsam stiegen sie die Stufen herunter und traten wieder ins Hotel zum Delphin.

*

Einige junge Leute, die trinkend und rauchend schwätzten, erhoben sich bei Francos und Luisas Eintritt und gingen ihnen entgegen, mit Ausnahme von einem, der die günstige Gelegenheit benutzte, um die letzte Flasche zu leeren.

»Gnädige Frau,« sagte der erste, der sich Luisa vorstellte, »Ihr Gatte wird Ihnen die sieben Weisen schon angekündigt haben.«

Es folgte ein großer Tumult, denn Franco hatte vergessen, Luisa zu sagen, daß seine Freunde mit ihm von Turin gekommen, aus Zartgefühl aber bis Pallanza gefahren waren und versprochen hatten, seiner Dame einen kleinen Huldigungsbesuch abzustatten.

»Der Weiseste bin ich,« sagte sich erhebend der Paduaner, der die Flasche geleert hatte. »Ihr andern macht einen Heidenlärm und trinkt nicht; ich trinke und mache keinen Spektakel.«

»Dieser hier ist, wie die gnädige Frau wohl selbst sieht, der weise Esel der Gesellschaft,« sagte ein schöner junger Mann.

»Schweig, Stockbube! Gnädige Frau!« sagte der Paduaner, näher tretend und grüßend.

»Ah, Sie sind der Herr Stockbube?« sagte lächelnd Luisa zu dem hübschen Jüngling. Sie war zu allen liebenswürdig und hatte einen großen Erfolg, als sie zu einem langen, mageren Mann mit gekräuseltem Schnurrbart sagte: »Und Sie müssen doch sicher das ›Schlachtroß‹ sein?«

»Nicht wahr, gnädige Frau,« rief der Paduaner, während die andern Beifall klatschten, »man erkennt die Bestie?«

Sie waren mit einem Boot von Pallanza gekommen und wollten sofort wieder aufbrechen, aber Franco ließ zwei neue Flaschen bringen, und der Lärm wurde, trotz Luisas Gegenwart, so betäubend, daß der Wirt kam, um zu bitten, sie möchten seinen Engländern zuliebe nicht solchen Spektakel machen. Der Paduaner traktierte ihn sanft mit einer lieblichen Litanei paduanischer Schimpfwörter. Die verstand er nicht, lächelte dümmlich und entfernte sich wieder.

Die Weisen waren an den See gekommen, um ebenfalls noch einen Tag in Freiheit zu genießen, ehe sie die Waffen ergriffen. Sie traten, mit Ausnahme des Schlachtrosses, sämtlich in dasselbe Regiment. Sie tranken auf das neunte Infanterieregiment, Brigade Königin, und auf alle gegenwärtigen und zukünftigen nationalen Kriegshelden und stritten über den Ort und den Namen der ersten Schlacht, die man den Österreichern liefern würde. Alle Stimmen, außer der des Paduaners, waren für eine »Schlacht am Tessin«. Der Paduaner wollte eine Schlacht von Gorgonzola. »Hört ihr nicht, wie kriegerisch das klingt: ›Schlacht von Grün-Gorgonzola‹?«

Es stand im Schicksalsbuche geschrieben, daß gerade er in der ersten Schlacht, bei Palestro, fallen sollte, mit einem Granatsplitter in der Brust, als guter Soldat zwei Schritte vom Oberst Brignone entfernt kämpfend. Diese jungen Leute sprachen von Schlachten mit Enthusiasmus, aber ohne Aufschneiderei; sie sprachen vom zukünftigen Italien, und wenn auch hier und da einige Possen mit unterliefen, so fühlte man doch, daß ihnen das Leben keinen Pfifferling wert war, wenn es galt, es zu befreien, dieses alte und große Vaterland.

»Glauben Sie, daß diese grünen Jungen nun ein einiges Italien schaffen werden?« sagte der Paduaner zu Luisa. »Auch Ihr Mann nicht, müssen Sie wissen. Ein guter Kerl, aber um Italien zu schaffen, taugt er auch nicht. Sie werden sehen, was für eine Sorte von Italien dabei herauskommen wird! Unsre Söhne werden ihm ein Monument errichten, aber nachdem werden, mit Ihrer Erlaubnis, diese schmierigen Gesellen, unsre Enkel, kommen, und ich glaube sie zu hören: warum in drei Teufels Namen haben diese alten Narren dieses hundsföttische Italien nur geschaffen!«

Die Weisen brachen auf, nachdem sie mit Franco verabredet hatten, sich am andern Morgen auf dem ersten Schiff zu treffen. Franco begleitete sie bis an ihr Boot, und mittlerweile ging seine Frau hinauf, um nach Onkel Piero zu sehen. Er hatte den Wirt beauftragt, seinem Neffen und seiner Nichte mitzuteilen, daß er sich ins Bett gelegt hätte, da er sehr müde sei. Luisa hörte ihn in der Tat geräuschvoll schlafen. Sie stellte das Licht nieder und erwartete Franco.

Er kam sofort zurück und war sehr überrascht zu erfahren, daß der Onkel schon schliefe. Er hätte gern vor dem Schlafengehen Abschied von ihm genommen, da das Schiff in frühester Morgenstunde, um halb sechs schon, abging. Trotzdem die Türe zu dem andern Zimmer geschlossen war, bat Luisa ihren Mann, auf den Fußspitzen zu gehen und leise zu sprechen. Sie berichtete ihm, was Cia erzählt hatte. Der Onkel brauchte Ruhe. Sie hoffte, daß er bis neun oder zehn Uhr im Bett bleiben würde, und hatte vor, mittags abzureisen und in Magadino zu übernachten, um ihn nicht zu sehr zu ermüden. Sie hielt sich lange bei diesen Bemerkungen über Onkel Pieros Gesundheit auf und sprach, sprach unaufhaltsam, in der Hoffnung, andre Gespräche und allzu zärtliche Liebkosungen durch diesen Schatten fernzuhalten. Gleichzeitig kam und ging sie durchs Zimmer, hier einen Gegenstand ergreifend, dort ihn niederlegend, teils aus Nervosität und teils in der Absicht, ihren Mann zu veranlassen, sich vor ihr ins Bett zu legen. Er seinerseits schien ganz damit beschäftigt, eine Börse, die er um den Hals hängend trug, zu öffnen, womit er nicht zustande kam. Endlich gelang es ihm, er rief seine Frau und händigte ihr eine Rolle Goldes aus, fünfzig Stück zu zwanzig Lire.

»Du verstehst,« sagte er zu ihr, »daß ich zum mindesten für einige Monate nichts werde schicken können. Diese hier gehören nicht mir, ich habe sie mir geborgt.« Dann zog er einen versiegelten Brief aus der Tasche. »Und dies ist mein Testament,« fügte er hinzu. »Ich besitze nur wenig, aber auch über dieses wenige muß ich verfügen. Es ist nur ein Legat darin; die Busennadel meines Vaters, die du hast, für Onkel Piero; und dann befindet sich auch der Name der Person darin, der ich die tausend Lire schulde. Außer dem Testament sind noch zwei für dich bestimmte Zeilen dabei. Nimm.«

Er sprach mit ernster Milde, ohne Rührung. Ihre Hände zitterten, als sie den Brief in Empfang nahm. Sie sagte »danke«, fing an, ihre Zöpfe zu lösen, flocht sie wieder ein, wußte nicht, was sie tun sollte, von dem Gespenst ihres eignen Todes und von einer andern Vision von Krieg und Tod gequält. Mit gebrochener Stimme sagte sie, daß sie lieber die Haare nicht auflösen und sich angekleidet niederlegen wolle, da sie doch morgen so früh aufstehen müsse, um ihn ans Dampfschiff zu begleiten. Franco erwiderte kein Wort, sprach ein kurzes Gebet und begann sich zu entkleiden. Er nahm ein Kettchen mit einem kleinen goldenen Kreuze daran, das seiner Mutter gehört hatte, vom Halse.

»Nimm du es,« sagte er, indem er es Luisa reichte. »Es ist besser. Man weiß nie, und es könnte den Kroaten in die Hände fallen.«

Sie schauderte, erbebte, zögerte einen Augenblick, dann warf sie sich in seine Arme und preßte ihn an sich, als wollte sie ihn ersticken.

*

Der Kellner klopfte gegen halb fünf an die Tür der Gatten. Um fünf Uhr trat Franco mit dem Licht in das Zimmer des Onkels, der schon wach war. Er nahm Abschied von ihm und schlug dann Luisa vor, daß auch sie lieber hier voneinander Abschied nehmen wollten. Sie hatte im Gesicht und auch in der Stimme einen Ausdruck tiefen, schmerzlichen Staunens. Sie war nicht aufgeregt, sie weinte nicht, sie umarmte und küßte ihren Mann wie im Traum, und wie im Traum ging sie mit ihm zusammen die Treppen hinunter. Durchzuckte vielleicht wie ein Blitz auch ihn der Gedanke, der ihre Seele erfüllte? Wenn es geschah, so war es im Gastzimmer, während er Kaffee trank und seine Frau ihm gegenübersaß. Es schien, daß er in ihrem Blick, in ihrem Ausdruck etwas entdeckte, denn mit der Kaffeetasse in der Hand betrachtete er sie unverwandt, und über sein Gesicht verbreitete sich eine Zärtlichkeit, ein Bangen, eine unaussprechliche Rührung. Sie wünschte augenscheinlich nicht zu sprechen, während er es wünschte. Ein geheimes Wort zitterte in jedem Muskel seines Gesichts, leuchtete aus seinen Augen; der Mund wagte nicht, es auszusprechen.

Sie gingen Hand in Hand hinunter an die Landungsbrücke und lehnten sich an die Mauer, an die tags zuvor Luisa sich gelehnt hatte. Als sie das Getöse der Räder hörten, umarmten sie sich ein letztes Mal und sagten sich ohne Tränen Lebewohl, mehr verwirrt durch den gemeinsamen geheimen Gedanken, als betrübt über die Trennung. Das Schiff nahte geräuschvoll, die Stricke wurden ausgeworfen und befestigt. Eine Stimme schrie: »Einsteigen, wer abreist!«

Noch ein Kuß. »Gott segne dich!« sagte Franco und sprang auf das Schiff.

Sie blieb, solange sie noch das Geräusch der Räder vernehmen konnte, die sich nach Stresa hin entfernten. Dann kehrte sie in das Hotel zurück, setzte sich aufs Bett und blieb dort sitzen, wie versteinert in dieser Vorstellung, in dieser instinktiven Sicherheit, daß sie zum zweitenmal Mutter sei.

Obwohl gerade das der Gegenstand ihrer so großen Angst gewesen war, kann man nicht sagen, daß sie betrübt darüber war. Das Staunen, innerlich eine so starke, klare und unerklärliche Stimme zu vernehmen, überwog in ihr jedes andre Gefühl. Sie war wie vor den Kopf geschlagen. Seit Marias Tod hatte sie immer geglaubt, daß im Buche des Schicksals für sie nichts Neues mehr stehen könne, daß gewisse intime Fibern ihres Herzens abgestorben seien. Und jetzt sprach eine geheimnisvolle Stimme eben dort und sagte: »Wisse, daß im Buche des Schicksals eine Seite sich schließt, eine andre sich öffnet. Es gibt für dich noch eine Zukunft intensivsten Lebens; das Drama, das du im zweiten Akt beendet glaubtest, nimmt seinen Fortlauf und muß wohl außergewöhnlich sein, wenn ich es dir verkündige.« Drei Stunden lang, bis Onkel Piero sie anrief, blieb Luisa in sich versunken, dieser Stimme lauschend.

Der Onkel stand um halb zehn auf. Er fühlte sich sehr wohl. Das Wetter war noch feucht und beinahe regnerisch, aber er wollte nichts davon wissen, bis zur Abfahrt nach Magadino im Haus zu bleiben, wie Luisa es gewünscht hätte. Er hatte sich beim Wirt erkundigt und erfahren, daß man von neun Uhr ab den Garten besichtigen dürfe, und nachdem er seine Milch genommen, machte er sich um zehn mit Luisa auf den Weg. Im Vorübergehen wollte er in San Vittore eintreten, um die Bilder anzusehen. Es wurde gerade Messe gelesen, und der Priester wandte sich eben um mit den Worten: » Benedicat vos omnipotens Deus.« Der Onkel schlug ein großes Kreuz, hörte das letzte Evangelium mit an, verzichtete darauf, die Bilder zu besichtigen, weil so wenig Licht sei, und ging aus der Kirche, indem er mit seiner gewöhnlichen Heiterkeit sagte:

»Ich bin glücklich und zufrieden, daß ich gekommen bin, um den Segen zu empfangen.«

Es war keine Möglichkeit, sich mit ihm zu eilen. Bei jedem Schritt blieb er stehen und besah sich alles, was nach Kunst aussah, alles, was nur einigermaßen zur Betrachtung einlud. Er betrachtete die Fassade der Kirche, die dreifache Treppe des Borromeischen Landungsplatzes, alle drei Seiten des Hofes und die große Palme in der Mitte, die Luisa zu seinem ernsten Ärgernis gar nicht einmal bemerkt hatte, als sie am Abend vorher mit Franco dort vorbeigegangen war. Als der Kustode sie ins Innere des Palastes führte, brauchte er mindestens zehn Minuten zum Hinaufgehen, so bewunderte er die Treppe. Als sie oben angelangt waren, brach die Sonne durch, und der Führer schlug vor, den günstigen Moment zu benutzen, um den Garten zu besichtigen. Er wendete sich nach links und begleitete die Besucher durch eine Flucht leerer Säle bis an ein eisernes Gitter, wo er die Glocke zog. Ein Gärtner kam, ein wohlerzogener junger Mensch, der dem Onkel ausnehmend gefiel, weil er ihm alles aufs bereitwilligste erklärte, und der Onkel fragte nicht wenig. Fünf Minuten brauchte er allein für den Kampferbaum, der beim Eingang steht. Luisa litt darunter, fürchtete auch, der Onkel könnte sich zu sehr ermüden, und wurde selbst unsäglich müde davon, daß sie so viele Pflanzen betrachten, so viele lateinische und einheimische Namen anhören und dem Onkel Aufmerksamkeit schenken mußte, während ihre Gedanken nach Schweigen und Einsamkeit verlangten. Der Gärtner schlug vor, zum Neptunsturm hinaufzusteigen. Der Onkel hingegen hätte lieber das Borromeische Einhorn in der Nähe betrachtet, das sich da unten bäumt; aber es waren einige Stufen zu steigen, die Luft war drückend, und er zögerte. Luisa benutzte dieses Zaudern, um den Gärtner nach einem Sitzplatz zu fragen.

»Dort unten linker Hand,« antwortete er, »auf dem Platz mit den Strobus.«

Der Onkel ließ sich überreden, auf diesen Platz mit den Strobus herunterzugehen.

Er war müde, aber er ließ nicht nach, alles anzusehen und nach allem zu fragen. Als er sich den Strobus näherte, hörte er aus der Ferne, von der Isola Madre her, Trommelwirbel und fragte den Gärtner nach der Bedeutung. Es waren die Trommeln der Nationalgarde von Pallanza, die am Ufer ihre Übungen machte.

»Jetzt ist's nur ein Spiel,« sagte der junge Mensch. »Nur zum Spaß; aber schließlich! ... Nächsten Monat wird's bitterer Ernst. Es gilt einer großen Bestie, der wir eine Lektion geben müssen. Da ist es ja, das Ungeheuer.«

Das Ungeheuer war der österreichische Kriegsdampfer »Radetzky«, von den piemontesischen Uferbewohnern der »Radescòn« genannt.

»Er läuft jetzt in den Hafen von Laveno ein,« sagte der Gärtner. »Er kommt von Luino. Kommen Sie hierher, wenn Sie ihn gut sehen wollen.«

Der Onkel wußte, daß seine Augen dazu nicht ausreichten, und setzte sich auf die erste Bank, die er unter den Strobus fand, und die mit der Rücklehne gegen eine Gruppe von Bambusrohr stand, seitwärts von zwei andern Gruppen großer Azaleen geschützt. Hinter der Bambusgruppe sah man zwischen den starken, gewundenen Stämmen der Strobus hindurch den weißen Wasserspiegel schimmern bis zu den schwarzen Streifen der Hügel von Ispra hin. Der Himmel, nach Norden düster, war dort unten hell. Luisa ging mit dem Gärtner bis zu dem wappengeschmückten Gitter, das nach der grünen Isola Madre, Pallanza und dem oberen See sieht. Luisa blickte hinaus auf die große bleifahle Wasserfläche, die von den im Nebel verschwindenden Riesen der Gruppe des Sasso di Ferro, oberhalb von Laveno, gekrönt wurde, und auf die Berge von Maccagno, auf die fernen Schneefelder des Splügen. Vom »Radetzky« wurde man mehr den Rauch gewahr als den Rumpf. Die Trommeln von Pallanza wirbelten immer noch. Onkel Piero rief den Gärtner, und Luisa ging und lehnte sich an die Mauer neben dem Gitter, bei dem Taxus, der von der unteren Terrasse heraufragt. Der Baum verdeckte ihr die Aussicht nach dem hellen Osten; sie war zufrieden, endlich allein zu sein, ihre Blicke und ihre Gedanken in dem Grau der fernen Berge und des unendlichen Wassers ausruhen zu können. Nach einem Augenblick kam der Gärtner zurück, um ihr die blühenden gelben Akazien und die weißen Erika auf der unteren Terrasse, die ebenfalls in Blüte standen, zu zeigen.

»Die bruyères blanches bringen Glück,« sagte er. Als er sah, daß Luisa zerstreut war und ihm keine Aufmerksamkeit schenkte, ging er weiter zum Begonien-Treibhaus. »Uralter Strobus,« sagte er sehr laut, um von den Fremden gehört zu werden, aber ohne sich umzusehen. »Uralter, vom Blitz getroffener Strobus. Wenn die Herrschaften den Privatgarten sehen wollen ...«

Luisa stand auf, um den Onkel zu holen und ihm den Arm zu geben, falls er dessen benötigen sollte. Der Gärtner, der beim Eingang ins Lorbeerwäldchen wartete, sah, wie die Dame auf den sitzenden Herrn zuging, den Schritt beschleunigte und sich mit einem Schrei auf ihn stürzte.

Wie die alte schuldlose Pflanze, so war auch Onkel Piero vom Blitz getroffen worden. Sein Körper lehnte gegen den Rücken der Bank, der Kopf berührte mit dem Kinn die Brust, die blicklosen Augen standen weit offen. Es war wirklich ein Abschiedsschauspiel gewesen, das sein Valsolda ihm geboten hatte. Onkel Piero, der teure, verehrte Greis, der Weise, der Gerechte, der Vater und Wohltäter der Seinen, war dahingegangen, dahin auf ewig. Jawohl, er war dahingegangen, um unter die Waffen zu treten, Gott bedurfte seiner in höheren Heerscharen, und als der Appell erklungen war, hatte er ihm Folge geleistet. Die Trommeln von Pallanza wirbelten, sie wirbelten das Ende einer Welt, das Herannahen einer neuen. In Luisas Schoß wuchs ein Lebenskeim, der bestimmt war für die kommenden Schlachten der werdenden Zeit, für andre Freuden und andre Leiden, als die waren, aus denen der Mann der alten Welt in Frieden geschieden war; er, der in seinem letzten Augenblick, ohne es zu wissen, den Segen empfangen hatte von jenem unbekannten Priester der Isola Bella, der niemals vielleicht einem Würdigeren die heiligen Worte hatte zuteil werden lassen.

 

Buchdruckerei der Jos. Kösel'schen Buchhandlung in Kempten.

 


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