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Dreizehntes Kapitel.
Auf der Flucht

Um halb drei Uhr morgens saßen Franco, der Advokat V. und ihr Freund Pedraglio im Dunkeln schweigend in der Loggia. Nach einem Weilchen erhob sich Pedraglio mit den Worten: »Was macht dieser Esel?«, ging auf die Terrasse hinaus, lauschte einen Augenblick und kam wieder zurück. »Nichts,« sagte er. »Sagt mir, und wegen dieses Esels, der eingeschlafen sein wird, sollen wir also hier bleiben und als dumme Einfaltspinsel darauf warten, daß sie uns einstecken? Du, Maironi, kennst ja doch die Straße so ziemlich, und dann sind wir ja auch alle drei ein paar tüchtige Kerls. Wenn's nötig wird, Faustschläge auszuteilen, so stellen wir unsern Mann, gelt, Advokat?«

Pedraglio hatte sich am Abend vorher gegen sieben Uhr auf der Straße zwischen Loveno und Menaggio befunden, an dem Punkt, der im Volksmund »Crott del Bertin« heißt. Ein Mann hatte ihn um ein Almosen angesprochen und ihm dabei einen Zettel in die Hand gedrückt. Darauf hatte er sich schnell davon gemacht. Auf dem Zettel stand: »Warum begibt sich Carlino Pedraj nicht umgehend nach Oria, um Herrn Maironi und den Herrn Advokaten aus Varenna zu besuchen und mit den teuern Freunden einen schönen Spaziergang von dieser Seite über die Grenzpfähle hinaus zu machen?«

Nach der Verhaftung des Arztes in Pellio, seines Freundes, war Pedraglio auf irgendeinen Streich seitens der Polizei gefaßt, und dieser Zettel war nicht der erste ebenso wohlgemeinte wie ungrammatische Wink, der einem Patrioten zugekommen wäre. Der Zettel sprach deutlich: man müßte so schnell wie möglich über die Grenze zu kommen trachten. Pedraglio wußte nichts, weder von Francos Unglück noch von seiner Heimkehr, noch daß der Advokat in Oria weilte; aber er kümmerte sich um weiter nichts, eilte nach Loveno, versah sich mit Geld und machte sich auf den Weg. Er hielt es nicht für geraten, über Porlezza zu gehen, sondern nahm den Fußweg, der bei Tavordo über ein einsames Hochtal zum Passo Stretto hinaufklimmt. Behend wie eine Gemse, gelangte er in vier Stunden nach Oria und fand Franco und den Advokaten mit den Vorbereitungen zur Abreise beschäftigt, auf eine andre geheimnisvolle Warnung hin, die ihnen durch den Pfarrer von Castello zugekommen war, der in Porlezza gewesen und in der Beichte damit beauftragt worden war, Ismaele sollte sie über die Grenze führen. Die Übergänge über den Boglia waren aufs strengste bewacht. Ismaele hatte vor, zwischen dem Monte della Nave und Castello hindurchzugehen, um dann ins Tal abzusteigen, die Alpe von Castello unterhalb des Sasso Grande rechts liegen zu lassen und von dort nach Cadro, eine Stunde oberhalb von Lugano, hinunterzugehen.

Aber Ismaele sollte um zwei Uhr kommen, und um halb drei hatte er sich noch nicht sehen lassen.

Auch Luisa war auf. Sie war im Alkoven, wo sie ein paar Strümpfe von Maria ausbesserte, um sie dann auf deren Bettchen zu legen, wo sie alle Sachen von Ombretta mit derselben Sorgfalt ausgebreitet hatte wie zu Lebzeiten der Kleinen. Sie hatte weder den Advokaten noch Pedraglio sehen wollen. Nach der Raserei bei dem Begräbnis hatte ihr Schmerz wieder den düsteren, dumpfen Charakter angenommen, der dem Doktor Aliprandi noch mehr mißfiel. Sie raste nicht mehr, sie sprach kein Wort; geweint hatte sie überhaupt nicht. Ihr Verhalten Franco gegenüber war ein Verhalten des Mitleids für den Mann, der sie liebte, und dessen Neigung, dessen Gegenwart ihr, ohne daß sie etwas dagegen konnte, gleichgültig waren. Franco hatte in der Aussicht auf die Anstellung, von der sein Direktor mit ihm gesprochen hatte, die Rede darauf gebracht, die Familie mit sich nach Turin zu nehmen. Der Onkel, der Ärmste, war auch zu diesem Opfer bereit; aber Luisa hatte erklärt, daß, ehe sie sich von ihrem Töchterchen entferne, sie lieber im See enden würde wie das Kind.

Auf den Vorschlag hin, ohne Ismaele aufzubrechen, erhob sich Franco und sagte, daß er gehen wolle, um sich von seiner Frau zu verabschieden. In diesem Augenblick hörte der Advokat Schritte auf der Straße.

»Ruhe!« sagte er. »Da ist er.«

Franco ging auf die Terrasse hinaus. Jemand kam in der Tat von der Seite von Albogasio her. Franco wartete, bis er bei der Kirche angelangt war, dann rief er mit halblauter Stimme:

»Ismaele!«

»Ich bin's,« erwiderte eine Stimme, die nicht Ismaeles war. »Ich bin's, der Präfekt. Ich komme herauf.«

Der Präfekt? Zu dieser Stunde? Was mochte vorgefallen sein? Franco ging in die Küche, um ein Licht anzuzünden, und stieg dann eilends die Treppe hinab.

Fünf Minuten vergingen, und die Freunde sahen ihn nicht wieder erscheinen. Dafür kam Ismaeles Frau, um zu vermelden, daß ihr Mann krank sei und sich nicht rühren könne. Sie sprach vom Kirchplatz aus mit Pedraglio, der auf der Terrasse stand. Dieser ging, um Franco zu rufen. Er fand ihn auf der Treppe, die er eben mit dem Präfekten heraufkam.

»Der Führer ist krank geworden,« sagte er, da er den Priester als einen Ehrenmann kannte.

Franco erwiderte ihm, daß er nicht sogleich mitkommen könnte, und daß sie vorausgehen möchten. Wie, er könnte nicht mitkommen? Nein, er könnte nicht. Er ließ den Präfekten in den Saal eintreten, rief den Advokaten und bestand darauf, daß er und Pedraglio sofort aufbrächen. Es wäre etwas ganz Ungewöhnliches vorgefallen, er müsse mit seiner Frau Rücksprache nehmen und könne nicht sagen, was er beschließen würde. Die Freunde protestierten, sie würden ihn niemals verlassen. Der lebenslustige Pedraglio, dessen Ausgaben stets über die Wünsche seines Vaters hinausgingen, meinte, daß man schlimmstenfalls in Josephstadt oder in Kufstein billiger und tugendhafter lebe als in Turin, und daß das seinen Erzeuger trösten werde.

»Nein, nein!« rief Franco. »Geht, geht! Präfekt, überrede du sie!« Und er trat in den Alkoven.

»Brecht ihr auf?« fragte Luisa mit jener Stimme, die aus einer fernen Welt zu kommen schien. »Lebe wohl.«

Er ging zu ihr heran, beugte sich nieder, um das Strümpfchen in ihrer Hand zu küssen. »Luisa,« murmelte er, »der Präfekt der Caravina ist hier.«

Sie zeigte keinerlei Überraschung.

»Die Großmutter hat ihn heute nacht rufen lassen,« fuhr Franco fort. »Sie hat ihm gesagt, sie hätte unsre Maria gesehen, leuchtend wie einen Engel.«

»Das lügt sie!« rief Luisa voller Verachtung, aber ohne Zorn. »Als ob es möglich wäre, daß sie zu ihr ginge und nicht zu mir käme!«

»Maria hat ihr ins Herz gegriffen,« begann Franco wieder. »Sie bittet uns um Verzeihung, sie hat Angst vor dem Tode, sie fleht mich an, zu ihr zu kommen und ihr ein Wort des Friedens auch von dir zu bringen.«

Franco glaubte selbst nicht an die Erscheinung, absolut skeptisch, wie er allem nicht durch die Religion vorgeschriebenen Übernatürlichen gegenüber war; aber er glaubte, daß Maria in ihrer höheren Daseinsform schon ein Wunder hätte wirken, das Herz der Großmutter rühren können, und das bereitete ihm eine unaussprechliche Bewegung.

Aber Luisa blieb eisig. Sie ereiferte sich auch nicht, wie Franco fürchtete, bei der Vorstellung, eine liebevolle Botschaft zu schicken. »Die Großmutter wird sich vor der Hölle fürchten,« bemerkte sie mit ihrer tödlichen Kälte. »Eine Hölle gibt es nicht, es läuft alles auf ein bißchen Schrecken hinaus; das ist eine winzige Strafe, die mag sie erleiden und dann sterben wie alle sterben, und Amen.«

Franco sah ein, daß es nutzlos wäre, darauf zu bestehen. »Dann gehe ich also,« sagte er.

Sie schwieg.

»Ich glaube nicht, daß es mir auf dem Rückweg noch einmal möglich sein wird, beim Haus vorbeizukommen,« fuhr Franco fort. »Ich werde über den Berg gehen müssen.«

Keine Antwort.

Mit leiser Stimme rief der junge Mann:

»Luisa!«

Vorwurf, Schmerz, Leidenschaft, all das lag in diesem Ruf.

Luisas Hände, die die Arbeit nicht einen Augenblick unterbrochen hatten, hielten still. Sie murmelte:

»Ich fühle nichts mehr. Ich bin ein Stein.«

Franco fühlte seine Kräfte schwinden; er küßte seine Frau auf das Haar, sagte ihr Lebewohl, trat in den Alkoven, kniete nieder, umarmte das leere Bettchen, dachte an das Silberstimmchen seines Lieblings: »Noch einen Kuß, Papa!« schluchzte laut auf, beherrschte sich und stürzte davon.

Die Freunde erwarteten ihn ungeduldig im Saal. Wie sollten sie aufbrechen, wenn sie den Weg nicht kannten? Der Advokat kannte wohl die Straße über den Boglia; aber konnte man die nehmen, wenn man den Wächtern entgehen wollte? Als sie hörten, daß Franco die Absicht hatte, nach Cressogno zu gehen, waren sie ganz bestürzt. Pedraglio fuhr aus der Haut, meinte, es wäre eine Ungeheuerlichkeit, die Freunde so im Stich zu lassen.

Als der Präfekt vernahm, wie die Sachen stünden, schloß er sich Pedraglio an, erbot sich, Franco zu rechtfertigen und schlug ihm vor, zwei Worte zu schreiben, die er nach Cressogno bringen würde. Aber Franco hatte die Vorstellung, daß seine Maria diese Sache von ihm fordere, und gab nicht nach. Es fiel ihm ein, daß der Präfekt Wege und Stege kenne wie ein Fuchs.

»Geh du!« sagte er zu ihm. »Begleite du sie!«

Der Präfekt wollte eben antworten, daß die Marchesa vielleicht seiner bedürfen könnte, als der Advokat rief:

»Still! Seht!«

Gerade vor dem Hause, wo der Schatten des Bisgnago auf das leise bewegte Wasser fiel, hielt ein Boot. Franco erkannte die Barke der Finanzwächter.

»Ich wette, daß diese Schweine da uns auflauern,« murmelte Pedraglio. »Sie fürchten, daß wir zu Wasser entkommen. Mögen sie immerhin spionieren!«

»Still!« machte abermals der Advokat, indem er sich an das Fenster der Kirche gegenüber stellte.

Den Atem anhaltend, schwiegen alle.

»Teufel!« rief der Advokat, plötzlich vom Fenster zurücktretend. »Da sind sie!«

Franco ging ans Fenster und sah einen einzelnen Mann, der im Laufschritt daher kam, und glaubte an einen blinden Alarm; aber der Mann, derselbe, der den Beinamen »der gehetzte Hase« hatte und alles sah und alles wußte, warf ihm, während er unter dem Fenster vorbeilief, zwei Worte zu: »Die Polizei!« Zu gleicher Zeit hörte man die Schritte vieler Personen. Franco rief: »Mit mir! Du auch, Präfekt!« und stürzte, von allen gefolgt, in den kleinen Hof, der zwischen dem Hause und dem Berg liegt, und erreichte, durch einen Holzschuppen eilend, den Abkürzungsweg, der nach Albogasio Superiore führt. Es war so dunkel, daß niemand einen Finanzwächter bemerkte, der mit dem Karabiner in der Faust zwei Schritte von der Tür des Holzschuppens auf Posten stand. Glücklicherweise war dieser Wächter, ein gewisser Filippino di Busto, ein braver Kerl, der schweren Herzens das österreichische Brot aß, weil er eben kein andres gefunden hatte.

»Schnell!« sagte er im Flüsterton. »Nehmen Sie die Felder und dann den Weg über den Boglia, den Fußsteg unter der Buche der Madonna, linker Hand!«

Franco dankte dem Manne und eilte mit den Gefährten weiter auf dem steilen Pfade, der auf die Landstraße von Albogasio Superiore mündet. Auf halbem Wege angelangt, sprangen sie alle nach rechts in ein Maisfeld und blieben lauschend stehen. Sie hörten Schritte auf den Stufen, die von der Kirche aufwärts und dann auf den Fußweg führten, wo der Wächter Posten stand. Augenscheinlich wollte man sich vergewissern, ob alle Ausgänge gut bewacht wären. Die vier schlichen, so schnell es ging, durch das Maisfeld, und unter dem »Sass' del Lori« geheißenen Felsen angelangt, hielten sie Rat. Sie konnten den Fußweg wählen, der auf der Straße von Albogasio sich gerade an Pasottis Gartentür abzweigt, und dann kletternd von Feld zu Feld bis auf die Bogliastraße hinaufklimmen. Aber der Fußweg war zu dieser Stunde schwer zu finden; in der Angst, zu viel Zeit zu verlieren, zogen sie es vor, einen Stufenweg zu nehmen, der von Albogasio Superiore zum Hause Puttini emporführt. Von dort konnten sie, Haus Puttini rechts liegen lassend, mit zwei Sprüngen die Bogliastraße erreichen. Es war schon ein wenig heller; nach einer Richtung hin war das schlimm; aber es war gut, um sich aus dem Gewinkel von Gäßchen, Feldern und Mauern herauszuwinden. Niemand sprach. Einzig Pedraglio stieß zuweilen, wenn er über einen Stein stolperte, oder sich an einer Hecke stach, einen mailändischen Fluch aus. Dann geboten die andern Ruhe. Sie kamen auf den Stufenweg, allen voran der Präfekt, der wie ein Eichhörnchen über Hecken und Zäune sprang. Als sie alle auf der Treppe versammelt waren, löste sich Franco aus der Gruppe. Für die Bogliastraße bedurfte man seiner nicht, er ging nach Cressogno. Vergeblich hielt ihn Pedraglio am Arme fest, vergeblich flehte der Präfekt ihn an, sich nicht einer sicheren Verhaftung, wo nicht gar dem Zuchthaus auszusetzen. Er glaubte Marias Stimme, einer Gewissenspflicht zu gehorchen. Er riß sich von Pedraglio los und verschwand oben auf der Treppe, da er nicht über San Mamette nach Cressogno gehen wollte, was doch zu gefährlich gewesen wäre.

»Vorwärts!« rief der Präfekt. »Der da ist verrückt, wir müssen an uns denken.«

Als sie um Puttinis Haus herumgingen, hörten sie Leute ihnen entgegenkommen und kehrten wieder um. Die Tür von Puttinis Haus stand offen, sie traten ein. Schwatzend gingen die Leute vorüber. Es waren Bauern, und einer sagte: »Wo, zum Teufel auch, geht er um diese Stunde hin?« O weh, sie sind Franco begegnet und haben ihn erkannt. Wenn die Gendarmen und Wächter den Flüchtigen nachjagen und auf diese Leute stoßen, so haben sie die Spur. Um die Morgendämmerung trifft man immer Leute. Diesmal haben sie es vermieden, das nächstemal wird sich's vielleicht nicht machen lassen; die nächste Begegnung kann vielleicht dem Advokaten und Pedraglio verhängnisvoll werden, wie diese erste wahrscheinlich für Franco verhängnisvoll werden wird.

»Ihr solltet euch als Bauern verkleiden,« meint der Präfekt.

Dem Advokaten, der etwas vom Künstler und Poeten hat, und der überdies Puttini gut kennt, kommt eine Idee: Herrn Giacomos Kleider für Pedraglio entnehmen, der ebenfalls klein ist, für sich ein Kleid der Magd, die groß und dick ist, die eignen Sachen in einen Tragkorb werfen, ihn auf die Schulter nehmen und fort über den Boglia. Der erste Deputierte von Albogasio hat hundert Gründe, in den Gemeindewald zu gehen. Gesagt, getan; sie steigen die Treppe hinauf, und der praktische Präfekt geht geradeswegs, um Marianna zu rufen. Sie antwortet nicht; ihre Kammer ist leer. Der Präfekt errät sofort, daß die treulose Magd nach San Mamette gegangen ist wegen irgendeines heimlichen Geschäfts, wie das mit dem Öl. Deswegen also stand die Straßentür offen! Sie gehen in die Küche, zünden zwei Kerzen an, der Advokat ergreift eine davon und läßt sich Herrn Giacomos Zimmer weisen. Inzwischen durchforscht mit der zweiten Kerze Pedraglio die Küche nach etwas Trinkbarem, um die Kehle anzufeuchten.

Herr Giacomo schlief in einem Eckzimmer jenseits eines Saales, den der Advokat auf den Zehenspitzen durchschritt, zwischen Haufen von Kastanien, Walnüssen, Haselnüssen und Birnen sich durchwindend. Er kommt an die Tür: sie ist geschlossen. Er horcht: Schweigen. Vorsichtig, langsam dreht er die Klinke und stößt. Die abscheuliche Tür kreischt, man hört einen gewaltigen Schnaufer, und Herr Giacomo ruft wütend:

»Hinaus! auf der Stelle hinaus!«

Der Advokat trat ohne weiteres ein.

»Hinaus, Unverschämte, sage ich!« schrie Herr Giacomo, die weiße Spitze seiner Nachtmütze vom Kopfkissen aufrichtend. Als er den Advokaten erblickte, begann er zu jammern: »O Gott, o Gott, ich Ärmster, verzeihen Sie mir nur aus Barmherzigkeit, verehrtester Advokat, ich glaubte, es wäre die Magd; in Gottes Namen, was ist geschehen?«

»Nichts, nichts, Herr Giacomo,« meinte der Advokat, indem er in seiner humorvollen Weise ihm nachäffte, »es ist geschehen, daß der Kommissär von Porlezza ...«

»O Gott!« Herr Giacomo schickte sich an, die Beine aus dem Bett zu werfen.

»Nichts, nichts, ruhig, ruhig, hören Sie. Wir gehen auf den Boglia, sag' ich, wegen dieses verflixten Stieres!«

»O Gott, was reden Sie da, wo doch um diese Jahreszeit gar keine Stiere mehr auf dem Boglia sind! Ich bin ganz in Schweiß!«

»Macht nichts, wir gehen, sag' ich, um den Fleck zu sehen, wo er gewesen ist. Aber der Herr Kommissär,« fuhr der spaßhafte Advokat fort, indem er diese Sprechweise fallen ließ, die ihm doch unbequem war, »verbietet Ihnen ausdrücklich, mit uns zu kommen, aus guten Gründen; er verbietet Ihnen, vor unsrer Rückkehr überhaupt auszugehen, und deshalb hat er mir aufgetragen, Ihnen die Kleider fortzunehmen.«

Und schnell raffte er Herrn Giacomos Kleider zusammen, hieß ihn schweigen im Namen des Kommissärs, nahm seinen Zylinderhut, ergriff den Spazierstock aus indischem Rohr, befahl dem Unglücklichen, sogleich nach seinem Fortgang den Riegel vorzuschieben und niemand zu öffnen, vor der Rückkehr des Kommissärs mit niemand zu sprechen, und alles das im Namen des Herrn Kommissärs. Dann, nachdem er ihn mehr tot als lebendig zurückgelassen, suchte er wieder die Gefährten auf, die nach langem Herumstöbern ein schmutziges Gewand von Marianna entdeckt hatten, dazu ein rotes Taschentuch, eine Bütte und eine Flasche Anesone triduo.

»Verflucht!« rief der Advokat, als er die unappetitlichen Sachen sah, die er anlegen sollte. Seine Verkleidung gelang nicht recht, der Rock war zu kurz, und das Tuch verdeckte sein Gesicht nicht genügend, aber es war keine Zeit, um es besser zu machen. Dafür stellte Pedraglio, den Hut auf dem Kopf und den Rohrstock in der Hand, einen völlig glaubwürdigen Herrn Giacomo vor. Der Advokat hieß ihn einen alten Schmöker, den er in der Küche fand, unter den Arm nehmen und machte ihm vor, wie er gehen und dabei schnaufen müßte. Schließlich nahm er die Kellerschlüssel, zwei riesige Schlüssel, gab den einen Pedraglio und steckte den andern selbst in die Tasche für zwei gelegentliche Faustschläge, den einen als Violinschlüssel, wie er sagte, und den andern als Baßschlüssel. Und so gingen sie fort, der Präfekt voran, dann der falsche Herr Giacomo, der wie eine Dampfmaschine schnaufte, und zum Schluß die falsche Marianna mit der Bütte. Kaum waren sie auf der Straße, so kam die echte Marianna in Sicht, die mit einer leeren Flasche von San Mamette heimkehrte. Als sie im Halbdunkel den Zylinderhut ihres Herrn erblickte, machte sie Kehrt und lief davon.

»Abscheuliche Diebin!« rief der Präfekt. »Vortrefflich. Die Verkleidung ist vortrefflich gelungen.« In fünf Minuten waren sie auf der Bogliastraße. Der Präfekt ging wieder zurück, hörte Leute, die von Albogasio Superiore heraufkamen und von Gendarmen und Wächtern sprachen, ging ihnen entgegen und fragte, was es denn Neues gäbe. Eine Lumperei; Polizisten, Gendarmen und Soldaten im Haus Ribera, um Don Franco Maironi zu verhaften und, wie es scheint, auch den Advokaten V., denn sie wüßten, daß er dort sein sollte, und hätten eifrig nach ihm gefragt. Sie hätten weder den einen noch den andern gefunden, obgleich die Finanzwächter bis Mitternacht um das Haus aufgepflanzt geblieben wären. Jetzt hielte die Polizei Haussuchung in sämtlichen Häusern von Oria und sei der Meinung, die beiden müßten über das Dach entkommen sein. Während sie dem Präfekten diese Auskunft erteilen, kommt ein Bube in vollem Lauf von Albogasio Superiore. Sie halten ihn an.

»Die Gendarmen!« schreit er. »Die Gendarmen!« Er ist bleich wie ein Bettuch und läuft davon, ohne zu wissen warum, und man kann nicht aus ihm herausbringen, wo diese Gendarmen denn sind. Eine Frau kommt daher, die sich deutlicher ausdrückt. Vier Finanzwächter und vier Gendarmen sind soeben über den Platz von Albogasio Superiore gegangen. Es hat den Anschein, als sei Don Franco auf der Straße nach Castello gesehen worden. Zwei Gendarmen und zwei Wächter haben die Straße nach Castello genommen, zwei Gendarmen und zwei Wächter die Bogliastraße. Den Präfekten überläuft es kalt.

»Ja,« sagt jemand, »die Bogliastraße, um ihm den Weg abzuschneiden.«

Darauf setzt der Präfekt seine Hoffnung, daß Gendarmen und Wächter einzig Franco aufs Korn nehmen. Er ist so mager und hochgewachsen, daß weder der falsche Puttini noch die falsche Marianna Gefahr laufen, für ihn gehalten zu werden. Deren Schicksal liegt jetzt nicht mehr in seinen Händen, wohingegen er für Franco noch vieles tun kann. Er macht sich auf den Weg nach Cressogno, denn er hofft, daß Franco sicher und heil nach Cressogno gelangen wird, falls die Gendarmen nicht eine neue Fährte finden, denn sie werden ihn auf allen Fußsteigen suchen, die von Castello nach der Grenze führen, aber niemals auf der Straße nach Cressogno.

Pedraglio und der Advokat legten den ersten Teil des Weges, von Albogasio bis zu den Stallungen von Püs, zurück, indem sie wie Katzen mit langen, vorsichtigen Schritten den steilen Abhang hinaufschlichen. Der Advokat ging schweigend, der andre fluchte fortwährend mit unterdrückter Stimme auf seinen Anzug, »das Schindluder von einem Hut«, der ihm die Stirn mit Fett beschmierte, »dies Untier von einem Rock«, der ihm allzusehr nach altem Schweiß duftete. Bis Püs begegneten sie keiner lebenden Seele.

In Püs trat gerade einen Augenblick, nachdem sie vorbei waren, eine Alte aus den Stallungen und sagte ganz verblüfft:

»Sie hier oben, Herr Giacomo, und um diese Stunde?«

Der Advokat murmelte »Puste!« und der andre begann wie ein Blasebalg »hpaff! hpaff!« zu keuchen.

»Sie verlieren die Puste auf der Straße hier, lieber Herr,« meinte die Alte.

Bis zur Sostra trafen sie niemand mehr.

Die Sostra ist eine Alpe auf halber Bergeshöhe ungefähr, mit einem Heuschober, einem Vorbau und einer Zisterne, etwas vom Wege abseits gelegen. Der Weg dort hinauf ist der allerabscheulichste, den es im ganzen Valsolda gibt, ein Gemsbock würde die Zunge hängen lassen. Pedraglio und der Advokat, die keuchten und von Schweiß trieften, traten einen Augenblick in die Sostra ein. Auch hier Schweigen und Einsamkeit. In dieser Höhe atmete man schon eine ganz andre Luft. Und wie alle Berggipfel ringsum niedrig geworden waren! Und der See tief unten erschien wie ein Fluß! Der Advokat blickte zärtlich hinauf auf den ersten Grat des Boglia, wo der große Buchenwald begann; eine weitere halbe Stunde zu klettern.

»Gehen wir,« sagte er. Aber Pedraglio, dem der frühere lange Weg von Loveno über den Passo Stretto nach Oria noch in den Beinen steckte, bat, noch ein wenig zu rasten, und machte sich ruhig daran, Puttinis Schmöker zu durchblättern, ein mönchisches unbekanntes Gedicht eines anonymen Cremonesen aus dem siebzehnten Jahrhundert.

»Gehen wir,« wiederholte sein Gefährte nach Ablauf von ein paar Minuten und erhob sich schon, als er Leute kommen hörte. Er hatte kaum Zeit genug, um »aufgepaßt!« zu rufen und sich abzuwenden, um sich nicht ins Gesicht sehen zu lassen. Pedraglio, immer noch die Nase in seinem Schmöker, sah auf der Straße zuerst zwei Finanzwächter auftauchen und dann zwei Gendarmen. Mit leiser Stimme teilte er es seinem Freunde mit, ohne mit den Wimpern zu zucken.

Die beiden Wächter blieben stehen. Einer von ihnen grüßte: »Ergebener Diener, Herr Puttini,« und erklärte den Gendarmen: »Es ist der politische Deputierte von Albogasio.« Die Gendarmen grüßten ebenfalls, und Pedraglio lüftete den Hut, indem er gleichzeitig das Buch etwas in die Höhe hob. Die Wächter wollten ein wenig rasten, aber der eine Gendarm hieß sie weitergehen, und als die Abteilung wieder aufgebrochen war, trat er selbst in die Sostra. Er war aus Ampezzo und sprach sehr gut italienisch.

›Ich hoffe, du Hund, daß du mich nicht kennst,‹ dachte Pedraglio in dem trüben Bewußtsein seiner doppelten Persönlichkeit. ›Laß mich nur machen.‹

»Herr Deputierter,« sagte er, »haben Sie vielleicht heute morgen Herrn Maironi aus Oria gesehen?«

»Ich? keineswegs. Herr Maironi schläft um diese Zeit.«

»Und Sie, wohin gehen Sie?«

»Ich gehe hinauf auf den Berg, auf den verdammten Boglia hier. Ich gehe wegen der Angelegenheit des Gemeindestieres.«

›Schafskopf!‹ dachte der Advokat. ›Jetzt läßt er ihn mir zum Gemeindestier werden!‹

Aber auch der Gemeindestier ging glücklich durch. Der Gendarm, eine Fratze wie ein Fleischerhund, musterte genau das Gesicht seines Gegenüber.

»Sie sind politischer Deputierter,« sagte er frech, »und tragen dieses Dings da im Gesicht?«

Pedraglio griff instinktiv nach seinem kleinen, spitzen schwarzen Kinnbart, dem verpönten Barte des Liberalen.

»Wir werden ihn scheren,« sagte er mit komischem Ernst, »wir werden ihn scheren. Jawohl, mein Herr. Gehen Sie auch auf den Boglia?«

Der Gendarm ging unwillig weiter, ohne ihm zu antworten, und ohne mehr zu hören, auf welchen schimpflichen Galgen der politische Deputierte ihn sandte.

Die beiden freuten sich gegenseitig, heil davongekommen zu sein, aber sie konnten sich nicht verhehlen, daß das Spiel sehr ernst geworden sei. Sie mußten jetzt mit den Wächtern rechnen, die Puttini gut kannten, und sich in geeigneter Entfernung zu halten wissen. Und wenn dieser Hund von Gendarm von dem Barte sprach?

»Auf, auf,« sagte der Advokat, »wir müssen uns hinter ihnen halten, und wenn wir sie sehen, oder hören, daß sie wieder herunterkommen, so heißt's, sich eiligst aus dem Staub machen und schnell nach links auf die Grenze zu.«

Ein verzweifeltes Wagnis das, denn sie kannten das Terrain nicht, das den Finanzwächtern sicher ganz vertraut war.

Der Fleischerhund mußte hinter seinen Gefährten her allzusehr schwitzen und keuchen, um dann noch Lust zu verspüren, von Bärten zu reden. Pedraglio und der Advokat, die gemächlich stiegen, sahen den Feind den Grat des Berges bei der Buche der Madonna erreichen, sich dort ein wenig verschnaufen und dann verschwinden.

Die große, uralte Buche, deren Stamm ein Bildnis der Madonna trug, der, als er abstarb, diese Ehre einer kleinen Kapelle vermachte, war wie ein Vorposten des großen Boglia-Waldes, wie ein Soldat, der in eine Einsenkung des Grats aufgestellt war, um auszuschauen nach dem jähen Absturz, dem See, den Hängen von Valsolda. Das ehrwürdige Heer der Riesenbuchen war aufgestellt in einem schweigenden Hochtal, zwischen der steilen Höhe des Colmaregia, dem bequemen Rücken des Nave, dem felsigen Fuße der Denti di Vecchia oder Canne d'Organo und dem andern Sattel des Pian Biscagno zwischen dem Colmaregia und dem Sasso Grande, der die Tiefen der Val Colla von Lugano bis Cadro begrenzt. Ein offener, mit Gras bewachsener Streif läuft zwischen der Buche der Madonna und dem Wald, auf dem Rande des Grats. Die beiden Flüchtlinge überlegten alle Möglichkeiten. Welchen Entschluß sollten sie fassen? Den Fußsteig unter der Buche, von dem der freundlich gesinnte Wächter gesprochen hatte, aufsuchen, oder in den Wald dringen? Nein, in den Wald eindringen ging nicht an, mit all diesem Wild, das vor ihnen schon eingedrungen war. Im Walde würden die dürren Blätter fußhoch liegen. Es war unmöglich, hindurchzukommen, ohne die Spürhunde, die dort ihr Wesen trieben, auf sich zu lenken; und aus der Nähe hielt die Verkleidung nicht Stich. Den Fußweg wählen? Es gab mehr als einen unter der Buche; welcher war der richtige? Pedraglio schimpfte auf Franco, weil er nicht mit ihnen gegangen war. Inzwischen studierte der Advokat den Colmaregia, den man besteigen konnte, ohne durch den Wald zu müssen. Er war zweimal auf dem Colmaregia gewesen, dem stolzen, spitzen, grasbewachsenen Gipfel des Boglia, über den gerade mitten durch die Grenzlinie läuft; er wußte, daß es möglich war, von dort in das Schweizerdorf Brè hinabzusteigen, und er beschloß, diesen Weg zu versuchen. Auf dem Grat, der von der Buche der Madonna nach dem Colmaregia aufsteigt, war niemand zu sehen. Die Spitze lag in den Wolken.

Wenige Schritte unterhalb der Buche wurden die beiden von einer Nebelwelle überrascht, die von dem einen Abhang aufstieg und sich rasch über den andern verbreitete, einem dichten, kalten Nebel, einem »von Gott fabrizierten« sagte V. Man sah nicht fünf Schritte weit. So kam es, daß dicht bei der Buche Pedraglio fast gegen einen Finanzwächter anrannte.

Es war einer von den Vieren, und seine Instruktion lautete dahin, den offenen Streifen zwischen dem Grat des Berges und dem Walde zu überwachen. Als er das Männchen mit dem hohen Hut erblickte, fragte er: »Auf den Boglia, Herr ...?« Der Advokat entledigte sich schleunigst seiner Bütte. In der Tat vollendete der Wächter seinen Satz nicht, blieb einen Augenblick mit offenem Munde und rief dann: »Was?« Der Advokat hatte nichts andres erwartet. »Das,« antwortete er ruhig, damit ballte er beide Fäuste auf seiner Brust zusammen und versetzte jenem damit einen derartigen Stoß vor den Magen, daß er auf das Gras niederstürzte, die Beine in der Luft. Pedraglio sprang schnell auf ihn zu und entriß ihm den Karabiner.

»Wenn du rufst, Hund, brenne ich los,« sagte er.

Aber wie sollte er rufen? Mit den Fäusten von V. im Magen konnte er für die nächste Viertelstunde nicht einmal daran denken, Atem zu schöpfen. Wirklich schien der Mann tot, und es dauerte eine gute Weile, bis es ihm gelang, mit leiser Stimme »o weh! o weh!« zu stöhnen.

»Es ist nichts, es ist nichts,« sagte V. mit seinem gewohnten spöttischen Phlegma. »Das sind Püffe, die gut tun. Sie werden sehen. Sie werden jetzt sich schönstens auf Ihre Füße stellen und mit uns auf den Colmaregia kommen. Sie werden sehen, wie gut das gehen wird. Ich habe diesen hier absichtlich nicht angewendet.« Und er zeigte ihm den Schlüssel.

»O welche Faust!« jammerte der Wächter. »O welche Faust! O was für eine Sorte von Faust!«

»Der Aufstieg ist ein bißchen beschwerlich,« begann der Advokat wieder, indem er Pedraglio den Karabiner aus den Händen nahm. »Aber wir werden Sie, mit Ihrer Erlaubnis, hinaufziehen an diesem Ding hier. Auf diese Weise ist es ein reines Vergnügen, hinaufzugehen. Dann kommen Sie mit uns hinunter nach Brè. Den Karabiner tragen wir Ihnen. Zur Entschädigung tragen Sie uns eine kleine Bütte. Scheint Ihnen das billig? Gehen wir, marsch!«

Dem Unglücklichen gelang es nicht, sich auf die Füße zu richten, und zurücklassen konnte man ihn sicher nicht auf die Gefahr hin, daß er dann sofort um Hilfe rufen würde.

»Tolpatsch!« schimpfte Pedraglio. »Hast's ihm zu toll gegeben!«

V. erwiderte, er hätte ihm einen Schlag versetzt wie ein Mädchen, gab dem Freunde den Karabiner zurück, packte den Wächter am Uniformkragen, zog ihn auf die Füße und hieß ihn die Bütte auf die Schulter nehmen.

»Gehen wir, Schlafmütze!« sagte er. »Auf, Faulpelz, gehen wir!«

Hinauf durch den dichten, kalten Nebel, hinauf, hinauf. Der Hang ist entsetzlich steil, man hat Mühe, den Fuß zwischen den Büscheln weichen Grases fest aufzusetzen, man gleitet und arbeitet mit Händen und Füßen, aber es tut nichts, – hinauf, hinauf, für die Freiheit. Hinauf durch den undurchdringlichen Nebel, unsichtbar wie Gespenster, voran die falsche Marianna, dann der Finanzwächter, der unter dem Gewicht der Bütte keucht und stöhnt, zuletzt der falsche Herr Giacomo, der ihm die schönsten Aussichten verspricht und ihn mit dem Karabiner stößt. Der Karabiner tut Wunder. In einer halben Stunde erreichen die drei den Grat, der nach Brè abfällt, wenige Schritte unterhalb des Gipfels. Dort setzen sie sich aufs Gras, aber dann Hals über Kopf jählings hinunter, hinunter. Es beginnt zu regnen, der Nebel zerteilt sich, und hier unten, zwischen den Füßen, erscheint schon das Rot des niedrigen Unterholzes. Als erster kommt im Fluge der ehrwürdige Zylinderhut des Herrn Giacomo an, den Pedraglio mit einem »Hoch Italien!« heruntergeschleudert hat, während er Arm in Arm mit dem Wächter daherstolpert.

In Brè lief der ganze Ort zusammen, weil Pedraglio zur Feier den Karabiner losfeuerte; er verteilte Anesone triduo an die Männer und halbe Unzen an die Mädchen, bat den Pfarrer, ob er das »Untier von Rock« nicht zum Zeichen der empfangenen Gnade in der Kirche aufhängen dürfe, setzte sich an den Tisch, um mit dem Wächter zu essen, ließ ihm vom Pfarrer Vergebung der in den Magen erhaltenen Faustschläge predigen und las ihm einen Vers aus dem mönchischen Gedicht vor, der so endete:

»Da sagte Pater Lanternone: Lieben,
Ich selber bin mir auch nicht treu geblieben.«

Er bewies ihm, daß, wenn ein Pater Lanternone sich geändert habe, so könne er sich auch verändern, und redete ihm zu, zu desertieren, und ließ ihn unter allgemeinem Gelächter und Applaus die Uniform aus- und »das Untier von Rock« anziehen.

Der einzige, der nicht lachte, war der Advokat.

»Und der arme Maironi?«

*

Franco war nicht über Castello gegangen. An der kleinen Kapelle von Rovaja angelangt, lief er den Fußweg, der nach der Fontana di Caslano führt, hinunter, kam auf die Straße von Casarico, stieg diese wieder hinauf, und bei der letzten Biegung, die sie unterhalb Castello macht, da, wo die Kirche von Puria unter einem Amphitheater von Felsen auftaucht, warf er sich nach rechts auf einem Gemsensteg ins Tal, kletterte unter der Kirche von Loggio von neuem herauf und gelangte nach der Villa Maironi, ohne irgend jemand begegnet zu sein.

Dem alten Diener Carlo, der ihm öffnete, schwanden fast die Sinne vor Bewegung, und er küßte ihm die Hände. Der Arzt war gerade da. Franco beschloß zu warten, bis er herauskäme, und vertraute inzwischen dem treuen Diener an, daß die Gendarmen ihm auf den Fersen wären.

Doktor Aliprandi kam bald heraus, und Franco, der ihn als einen Patrioten kannte, vertraute sich auch ihm an, da ihm daran lag, sich zu zeigen und sich nach dem Zustand der Großmutter zu erkundigen. Aliprandi war in der Nacht gerufen worden und war gekommen, nachdem der Präfekt nach Oria aufgebrochen war; er hatte eine nervöse Erregung gefunden, eine entsetzliche Angst vor dem Tode, aber keine eigentliche Krankheit. Jetzt schien die Marchesa ruhig zu sein.

Franco ließ sich melden und wurde von der Kammerfrau hineingeführt, die ihn mit unterwürfiger Neugierde betrachtete und dann das Zimmer verließ.

Die halbgeschlossenen Fensterläden ließen in das Zimmer, in dem die Marchesa im Bette lag, nur zwei trübe Lichtstreifen einfallen, die nicht bis zu dem auf den Kissen ruhenden Gesichte drangen. Franco sah sie nicht, als er eintrat; er hörte nur die bekannte schläfrige Stimme: »Bist du da, Franco?«

»Ja, grüß dich Gott, Großmama,« sagte er und beugte sich nieder, um sie zu küssen; die Wachsmaske war nicht aus der Ruhe gekommen; aber in ihrem Blick lag etwas Unbestimmtes und Dunkles, das zugleich Sehnsucht und Entsetzen auszudrücken schien.

»Ich sterbe, Franco, weißt du,« sagte die Marchesa. Franco widersprach, berichtete, was der Arzt ihm gesagt hatte. Die Großmutter lauschte begierig und blickte ihn an, als ob sie in seinen Augen lesen wollte, ob der Arzt ihm wirklich so berichtet hätte. Dann antwortete sie:

»Es tut nichts. Ich bin bereit.«

Aus dem neuen Ausdruck in ihren Augen und aus ihrer Stimme ersah Franco deutlich und klar, daß sie bereit war, noch weitere zwanzig Jahre zu leben.

»Ich bedauere dein Unglück,« sagte sie, »und verzeihe dir alles.«

Es waren nicht Worte der Vergebung, die Franco von ihr erwartete. Er glaubte, gekommen zu sein, um sie zu bringen, nicht sie zu empfangen. Getröstet und beruhigt, erschien die alltägliche Marchesa nach und nach unter der Marchesa der letzten Stunden. Sie wollte wohl den Frieden erlangen; aber wie ein schmutziger Geizhals, den eine Lüsternheit überkommt, und der sich schmerzlich den Preis seiner Lust aus den Händen quetscht und dabei, soviel er irgend kann, davon zwischen den Klauen zu behalten trachtet. Zu jeder andern Zeit wäre Franco aufgefahren und hätte diese Verzeihung verächtlich von sich gewiesen; jetzt, mit der süßen Maria im Herzen, konnte er so nicht handeln. Er hatte aber bemerkt, daß die Großmutter sich mit ihrer Verzeihung einzig an ihn gewendet hatte. Nein, das konnte er ihr nicht durchgehen lassen.

»Meine Frau, der Onkel meiner Frau und ich, wir haben vor diesem letzten Unglück viel durchgemacht,« sagte er; »und jetzt haben wir all unsern Trost verloren. Der Onkel Ribera kommt nicht in Betracht, vor ihm müssen wir uns alle verneigen, du, ich, alle; aber wenn meine Frau und ich dir gegenüber schuldig sind, so wollen wir uns gegenseitig verzeihen.«

Es war ein harter Bissen. Die Marchesa verschluckte ihn und schwieg. Obgleich sie den Tod nicht mehr an ihrem Kopfende stehen sah, hatte sie doch im Herzen noch das Entsetzen der Erscheinung und vor gewissen Worten des Präfekten, dem sie gebeichtet hatte.

»Ich will ein Testament machen,« sagte sie, »und ich wünsche, daß du erfährst, daß der ganze Maironische Besitz an dich fällt.«

O Marchesa, Marchesa! Elendes, eisigkaltes Geschöpf! Glaubte sie, den Frieden damit erkauft zu haben? Hier hatte in der Tat auch der Präfekt gefehlt, denn von ihm stammte der Rat, dem Enkel diese Erklärung abzugeben, von ihm, einem braven, guten Manne, dem es aber an Takt gebrach, und der unfähig war, Francos vornehme Gesinnung zu verstehen. Franco war die Vorstellung, man könne glauben, er sei aus Eigennutz gekommen, unerträglich.

»Nein, nein,« rief er, über und über bebend und in Angst vor seinem eignen Jähzorn, »nein, nein, hinterlaß mir nichts! Es genügt, wenn du mir meine Zinsen in Oria auszahlen läßt. Den Maironischen Besitz, Großmama, hinterlaß lieber dem Ospitale Maggiore. Ich habe so Angst, daß meine Vorfahren unrecht getan haben, ihn zu behalten!«

Die Großmutter hatte nicht Zeit zu antworten, denn es wurde an die Tür geklopft. Der Präfekt trat ein und veranlaßte Franco, sich zu verabschieden, um die Kranke nicht zu ermüden.

»Jetzt heißt's, sich sputen,« sagte er draußen. »Hier hast du mehr als deine Pflicht getan. Es wissen zu viele, daß du hier bist, und die Gendarmen können von einem Augenblick zum andern hereinbrechen. Ich habe alles mit Aliprandi vereinbart. Aliprandi gibt vor, daß für die Marchesa eine Konsultation notwendig ist, er nimmt die Gondel des Hauses und fährt nach Lugano, um einen Arzt zu holen. Die beiden Ruderer werden Carlo und du sein. Es regnet. Wachstuchmäntel mit Kapuzen sind vorhanden. Ihr zieht sie an, und du setzt dich an die hintere Seite des Boots. Zunächst schneiden wir dir jetzt deinen Spitzbart ab; mit der Kapuze auf dem Kopf soll dich mal einer erkennen. Du bist sicher. Vielleicht lassen sie euch beim Zollwächterhaus nicht einmal anlegen. Auf jeden Fall wird dich niemand erkennen. Wenn gesprochen werden muß, so spricht Carlino.«

Der Gedanke war gut. Die Gondel der Marchesa wurde von den österreichischen Agenten immer mit großer Auszeichnung behandelt, als ob sie ein Ei des Doppeladlers trüge; auch wenn sie von Lugano zurückkam, ließ man sie am Zollwächterhaus nur pro forma anlegen.

Die Gondel glitt nach acht aus dem kleinen Hafen. Die Nebel hatten sich von den hohen Gipfeln herabgesenkt, und es regnete. Traurig trüber Tag, traurig trübe Fahrt! Weder Franco noch Aliprandi, noch der Diener sprachen ein Wort. Sie kamen an San Mamette und an Casarico vorüber. Im Dunste tauchten jenseits der Olivenbäume von Mainè die weißen Mauern von Ombrettas Wohnung auf. Francos Augen füllten sich mit Tränen. ›Nein, Süße,‹ dachte er, ›nein, Liebling, nein, Leben, du bist nicht da drinnen, und der Herr sei gesegnet, der mich heißt, dieser schrecklichen Vorstellung nicht zu glauben!‹

Wenige Ruderschläge noch, und da war das Häuschen der glücklichen Zeit, der bitteren Stunden, des Unglücks; da ist das Fenster des Zimmers, in dem Luisa sich in finsterem Schmerze zugrunde richtet, die Loggia, in der fortan der alte Onkel Piero einsam seine Tage hinbringen wird, der gerechte Mann, der schweigend, hart geprüft und müde dem Grabe entgegengeht. Franco wüßte gar zu gern, was nach seiner Abreise vorgefallen ist, ob der Onkel, ob Luisa von der Polizei belästigt worden sind. Er blickt und blickt, sieht nichts Lebendiges, weder auf der Terrasse noch im Gärtchen, noch an den Fenstern der Loggia; alles ist schweigsam, alles ist ruhig. Er hört auf zu rudern, er möchte irgendein Zeichen von Leben sehen. Doktor Aliprandi öffnet das rückwärtige Fenster des Gondelverschlags und fleht ihn an zu rudern, sich nicht zu verraten. In diesem Augenblick wird Leu am Gitter des Gärtchens sichtbar mit einem Gefäß in der Hand, betrachtet die Gondel und geht in die Loggia. Also ist Onkel Piero in der Loggia, denn das ist sein gewohnter Becher Milch, den man ihm bringt, folglich kann nichts vorgefallen sein. Franco fängt wieder an zu rudern, und Doktor Aliprandi schließt das Fenster. Das Gärtchen entschwindet, es entschwinden die Häuser von Oria, und die Gondel nähert sich dem Landungssteg des Zollwächterhauses.

Biancon, der mit einem Regenschirm in der Hand nach Schleien angelt, verläßt seine Angelrute, um der Marchesa seine Huldigung darzubringen. Aber er findet statt ihrer den Doktor Aliprandi, der ihn mit seinen schlimmen Nachrichten über die Dame so beunruhigt, daß er das Bedürfnis fühlt, auch seine Peppina herbeizurufen und ihr die Sache mitzuteilen; und Peppina, die Ärmste, leiert unter dem Regenschirm ihres Carlascia eine kleine Komödie tiefer Ergriffenheit her. Mann und Frau beschwören Aliprandi, sich zu eilen, schnell zurückzukommen. Carlascia erteilt ihm die Erlaubnis, auf der Rückfahrt direkt von Gandria nach Cressogno zu rudern, und der Doktor wendet sich zu Franco und sagt: »Vorwärts!«

Franco hat, ohne sich zu rühren, der Unterhaltung beigewohnt, die Hände am Ruder, in der stillen Hoffnung, etwas von seinen Freunden, von seinem Hause zu erfahren, aber niemand hatte etwas von Polizei verlauten lassen noch von Verhaftungen noch von Flucht, als ob Haus Ribera in China läge. Die Gondel entfernt sich langsam vom Landungssteg, dreht das Vorderteil nach Gandria, entschwindet, verliert sich jenseits der Grenze im Nebel.

*

Am Ufer von Lugano öffnete Doktor Aliprandi die Schiebetür und ließ Franco eintreten. Sie kannten sich nur wenig, aber sie umarmten sich wie Brüder.

»Am Tage des Kanonendonners werde auch ich zur Stelle sein,« sagte Aliprandi.

Sie kamen überein, sich hier zu verabschieden, und daß Franco zuerst aussteigen solle; denn Lugano wimmelte von Spionen, und der Doktor hatte doch gewisse Rücksichten zu nehmen. Der Doktor hatte überdies keine Eile; für ihn war es dringlicher, einen Ruderer zu finden als einen Arzt. Franco zog die Kapuze über die Augen, ging an Land und begab sich in das Wirtshaus zur Krone.

Einige Stunden später, nachdem die Gondel wieder abgefahren war, machte er sich auf die Suche nach Valsoldeskern, um etwas zu erfahren, schlug den Weg nach der Apotheke Fontana ein und begegnete unter den Bogen seinen Freunden, die gerade in Begleitung eines Alten aus der Apotheke kamen. Sie fielen ihm um den Hals und weinten vor Ergriffenheit. Sie waren ebenfalls gekommen, um Nachrichten zu suchen. In der Apotheke erzählte man, daß Franco verhaftet worden sei. Welche Freude, ihn zu finden, und welche Freude, freien Boden unter den Füßen zu fühlen!

Es sei mir erlaubt, des Alten zu gedenken, der Pedraglio und den Advokaten begleitete, einer bizarren Figur aus der kleinen alten Welt von Lugano, eines Künstlers, der es wert ist, daß ein andrer Künstler, der ihm so nahe vorübergeht, ihm Ehre erweist. Es war ein gewisser Sartorio, Maler, Dichter und Gitarrenspieler, den man um jene Zeit häufig hier und dort in den dunkeln Gassen von Lugano auftauchen sah mit seinem schönen, weißen Bart, mit seinem über das rechte Auge gezogenen weißen Hut, mit seinem feinen, schwarzen Rock und der Blume im Knopfloch. Sehr arm, aber von peinlicher Sauberkeit, ritterlich mit Damen sowohl wie mit einfachsten Frauen, stets bereit zu einem Liebeslied und zu Gitarrenspiel, seine Heimatstadt anbetend, lebte er von Brot und Käse und von Wasser, spürte die Fremden auf und ließ ihnen keine Ruhe, um ihnen die Honneurs von Lugano zu machen, und war immer überhäuft mit derartigen Geschäften, immer unterwegs zwischen Villa Ciani, dem Hotel du Parc und Villa Chialiva. Das Hotel du Parc war für ihn das achte Weltwunder. Er war bei seiner Einweihung zugegen gewesen und war sehr stolz darauf, er zitierte mit besonderem Wohlgefallen in seinem klassischen Luganeser Dialekte das Lied und die Melodie, zu der der Speisesaal ihn inspiriert hatte: »Es ist wenig gesagt, wenn ich sage:

Trompeten schmetterten
Dort in der Halle,
Und dieses Lied erklang
Zu ihrem Schalle.«

Heute hatte er sich aus freien Stücken zu Pedraglio und dem Advokaten gesellt, und diese hatten ihm ihre Flucht erzählt. Er hatte sie in die Apotheke Fontana geleitet, um etwas über Franco in Erfahrung zu bringen.

»Wie?« rief er nach der Begegnung, »dieses ist Ihr Freund? Auch er den Klauen des raubsüchtigen Habsburger Adlers entkommen? Vortrefflich! Vortrefflich! Ich habe vor Jahren für andre lombardische Flüchtlinge nach der Revolution von Vall' Intelvi eine Ode gedichtet, die nicht übel war. Ich habe ihre Flucht durch Val Mara beschrieben, ihren Abstieg nach Maroggia, ihre Ankunft in Lugano, es ist wenig gesagt, wenn ich sage:

Ihr tapfern Söhne der Lombardei,
In mein Lugano nun kommt herbei!

Es ist ein Sächelchen, das auch auf Sie ausgezeichnet paßt. Jetzt laufe ich und hole meine Gitarre und singe es Ihnen im Wirtshaus vor.«

»Heilige Jungfrau!« rief Pedraglio.


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