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Zweites Kapitel.
Ruf der SchweIIe eines neuen Lebens

»Canaille!« knirschte Don Franco, während er die Treppe zu seinem Zimmer hinaufstieg. »Verfluchter Esel von einem Österreicher!« Er rächte sich an Pasotti, da er die Großmutter nicht beleidigen konnte; und die Buchstaben des Wortes Österreicher dienten ihm ebensowohl dazu, seinen Zorn zwischen den Zähnen zu zermalmen, wie seine Würze auszukosten und zu genießen. Als er in seinem Zimmer angelangt war, war der Zorn verraucht.

Er warf sich in einen Lehnstuhl, der vor dem weitgeöffneten Fenster stand, und sah auf den im Nachmittagsnebel traurig daliegenden See und auf die einsamen Berge jenseits des Sees. Er atmete tief auf. Ach, wie wohl fühlte er sich hier, allein; ach, welcher Friede, wie verschieden die Luft von der unten im Salon; welch süße Luft, voll von seinen Gedanken, voll von seiner Liebe! Er fühlte ein tiefes Bedürfnis, sich ihnen ganz hinzugeben; und sie nahmen ihn ohne Säumen, sie verjagten die Carabelli und Pasotti, die Großmutter und die Canaille von Steuereinnehmer aus seinem Gedächtnis. Die?! Nein, nein, es gab nur einen Gedanken, einen einzigen, der aus Liebe und Vernunft, aus Angst und Freude, aus tausend süßen Erinnerungen und aus zitternder Erwartung zusammengesetzt war; denn etwas Feierliches stand bevor und sollte sich im Schatten der Nacht vollziehen. Franco sah auf die Uhr. Es war ein Viertel vor vier. Noch sieben Stunden. Er erhob sich und warf sich mit verschränkten Armen auf das Fensterbrett.

Noch sieben Stunden, und ein neues Leben würde für ihn beginnen. Außer den ganz wenigen Personen, die an dem Ereignis teilnehmen sollten, ahnte es selbst die Luft nicht, daß an diesem selben Abend, gegen elf Uhr, Don Franco Maironi das Fräulein Luisa Rigey heiraten würde.

Frau Teresa Rigey, Luisas Mutter, hatte seinerzeit Franco in loyalster Weise gebeten, sich dem Willen der Großmutter zu fügen, ihr Haus zu meiden und nicht mehr an Luisa zu denken. Luisa ihrerseits war einverstanden gewesen, daß aus Rücksicht auf die Würde der Familie und die Empfindungen ihrer Mutter alle äußerlichen Beziehungen abgebrochen wurden; aber sie hegte keinen Zweifel an Francos Treue und wußte sich ihm für immer verbunden. Er studierte insgeheim, ohne Wissen der Großmutter, die Rechte, um einen Beruf ergreifen und sich auf eigne Füße stellen zu können. Aber Frau Teresa hatte sich infolge der vielen Aufregungen ein Herzleiden zugezogen, das sich Ende August 1851 plötzlich in besorgniserregender Weise verschlimmerte. Franco schrieb ihr und bat um die Erlaubnis, sie wenigstens sehen zu dürfen, wenn er schon nicht »seine Pflicht, ihr beizustehen«, erfüllen könne. Frau Teresa glaubte, nicht einwilligen zu dürfen, und der junge Mann, in Verzweiflung, ließ sie wissen, er betrachte Luisa vor Gott als seine Verlobte, und er würde eher sterben, als sie aufgeben. Da wurde die arme Frau, die sich jeden Tag schwächer werden fühlte, und bei dem Gedanken, die geliebte Tochter in einer so ungewissen Lage zurücklassen zu müssen, tief gequält, angesichts des festen Willens des jungen Mannes von dem Wunsche ergriffen, die Hochzeit möge, da sie doch einmal vollzogen werden sollte, möglichst bald vollzogen werden. Alles wurde mit Hilfe des Pfarrers von Castello und des Bruders von Frau Rigey, des Ingenieurs Ribera von Oria, der beim K. K. Bauamt in Como angestellt war, in aller Eile vereinbart. Folgendes wurde abgemacht: Die Hochzeit sollte heimlich stattfinden; Franco würde bei der Großmutter, Luisa bei der Mutter bleiben, bis der geeignete Moment gekommen wäre, um der Marchesa das Geschehene zu bekennen. Franco rechnete auf die Unterstützung Monsignore Benaglias, des Bischofs von Lodi, eines alten Freundes der Familie; aber dazu mußte die vollendete Tatsache bestehen. Sollte sich das Herz der Marchesa verhärten, wie es wahrscheinlich war, so wollten die Gatten und Frau Teresa in dem Hause, das der Ingenieur Ribera in Oria besaß, Wohnung nehmen. Ribera, der Junggeselle war, erhielt die Familie seiner Schwester; er würde dann auch Franco an Sohnes Stelle annehmen.

*

In sieben Stunden also.

Das Fenster ging auf das Streifchen Garten, das die Villa nach dem See begrenzte, und auf die Landungstelle. In den ersten Zeiten seiner Liebe pflegte Franco dort zu stehen und auf das Nahen und Landen eines gewissen Bootes zu lauern, auf das Aussteigen eines geschmeidigen, leichten, schlanken Persönchens, das niemals, niemals zum Fenster hinaufsah. Eines Tages aber war er dann herabgestiegen, um ihr zu begegnen, und sie hatte einen Augenblick mit dem Aussteigen gezögert, um seine – gänzlich überflüssige – Hilfe anzunehmen. Hier unten im Garten hatte er ihr zum erstenmal eine Blume gegeben, eine duftende Blüte der mandevilia suaveolens. Hier unten hatte er sich ein andermal mit einem Messerchen ziemlich ernsthaft verwundet, als er einen Rosenzweig für sie abschnitt, und sie hatte ihm mit ihrem Schreck einen wonnevollen Beweis ihrer Liebe gegeben. Wie viele Spaziergänge mit ihr und andern Freunden, ehe die Großmutter darum wußte, an den einsamen Ufern längs des Bisgnago, dort gegenüber; wie viele Streifzüge zum Frühstück und des Nachmittags in die Weinwirtschaft am Doi! Mit welcher Wonne im Herzen, von Blicken entfacht, die den seinen begegneten, kehrte Franco nach Hause zurück und schloß sich in sein Zimmer, um sie sich zurückzurufen, um sie in der Erinnerung neu zu genießen! Diese Erinnerungen an seine ersten Liebesgefühle drangen auf ihn ein, nicht eine nach der andern, sondern alle zusammen stiegen sie aus dem trüben Wasser und von den öden Ufern auf, in denen seine starr blickenden Augen sich eher in die Schatten der Vergangenheit als in die Nebel der Gegenwart zu verlieren schienen. Dem Ziele nahe, dachte er an die ersten Schritte des langen Weges zurück, an die unerwarteten Zwischenfälle, und wie der Anblick der so sehnlich erwünschten Vereinigung sich nun in Wirklichkeit so ganz anders gestaltete als in seinen Träumen, zur Zeit der Mandelbäume und der Rosen, der Ausflüge auf dem See und der Spaziergänge in die Berge. Damals ahnte er wahrlich nicht, daß er so dazu gelangen würde: in der Heimlichkeit, unter so viel Schwierigkeiten, so viel Ängsten. Und doch, dachte er jetzt, hätte die Ehe sich öffentlich und friedlich vollzogen, mit dem ganzen Gefolge von offiziellen Feierlichkeiten, Kontrakten, Gratulationen, Besuchen und Einladungen: wie viel widriger noch wäre es für seine Liebe gewesen als diese Kontraste.

Die Stimme des Präfekten, der ihm vom Garten aus zurief, daß die Carabelli aufbrächen, erweckte ihn. Franco wußte, daß er, wenn er hinunterginge, sich entschuldigen müßte, und so zog er vor, sich gar nicht sehen zu lassen.

»Sie hätten den Teller auf seinem Gesicht zerschlagen sollen!« schrie der Präfekt zwischen seinen an den Mund gelegten Händen herauf. »Auf seinem Gesicht hätten Sie ihn zerschlagen sollen!«

Dann ging er, und Franco sah, wie der Schiffer der Carabelli das Boot herabließ und in Bereitschaft setzte. Da trat er vom Fenster zurück, und seinen früheren Gedankengang verfolgend öffnete er seine Kommode und betrachtete, wie in der Zerstreutheit, den Brustlatz eines gestickten Hemdes, in dem dieselben Brillantknöpfchen glänzten, die sein Vater bei seiner eignen Hochzeit getragen hatte. Der Gedanke mißfiel ihm, ohne irgendein festliches Abzeichen zum Altare treten zu sollen; aber dies Abzeichen mußte, wohlverstanden, möglichst wenig sichtbar sein.

In der mit Veilchenduft parfümierten Kommode war alles mit der gewissenhaften Eleganz und Sorgfalt angeordnet, die einen geläuterten Geist verrät; und niemand außer ihm durfte die Hand daran legen. Die Sessel, der Schreibtisch, das Klavier dagegen waren derartig unordentlich vollgestopft, daß es den Anschein hatte, als ob ein Wirbelwind von Büchern und Papieren durch die beiden Fenster eingedrungen wäre. Gewisse Bände juristischer Werke schlummerten unter einer fingerdicken Staublage, während auf dem kleinen Gardeniatopf auf dem Fensterbrett nach Osten auch kein Atom von Staub zu sehen war. Das waren schon genügende Anzeichen, um zu verraten, daß ein Dichter in diesem bizarren Heim hause. Ein Blick auf die Bücher und Schreibereien hätte den Beweis vollends geliefert.

Franco liebte die Poesie mit Leidenschaft und war in dem zarten und erlesenen Empfinden seines Herzens ein wahrer Dichter; als Verseschreiber war er nur ein guter Dilettant ohne Originalität zu nennen. Seine bevorzugten Vorbilder waren Foscolo und Giusti. Er betete sie an und plünderte sie alle beide; denn sein Geist, enthusiastisch und satirisch zu gleicher Zeit, war nicht imstande, sich seine eigne Form zu schaffen; er blieb bei der Nachahmung. Man muß übrigens der Gerechtigkeit wegen sagen, daß die jungen Leute damals im allgemeinen eine klassische Bildung besaßen, die seither selten geworden ist; und daß sie durch die Klassiker dazu erzogen wurden, die Nachahmung als eine wünschens- und lobenswerte Übung zu betrachten. Während er unter seinen Papieren kramte, um, ich weiß nicht was zu suchen, kamen ihm die folgenden, einem uns allen Bekannten gewidmeten Verse unter die Hände, die er mit Vergnügen durchlas, und die ich als Probe seines satirischen Stils hierhersetze:

Augen so heuchlerisch,
Oelglatt die Kehlen,
Zungen nach Vipernart,
Kastratenseelen.

Scheckig die Hosen und
Schmutzig die Röcke,
Riesig die Hüte und
Armdick die Stöcke:

Dieses die elenden
Tartüffs von heute,
Abscheu des Himmels und
Ekel der Leute.

Giusti und Francos Leidenschaft, ihm nachzuahmen, trugen den Löwenanteil an so viel Galle; denn in Wirklichkeit verfügte er gar nicht über eine so große Dosis von Bitterkeit. Er neigte zu raschen, leidenschaftlichen, aber schnell vorübergehenden Zornesausbrüchen; zu hassen verstand er nicht, ebensowenig lange jemand etwas nachzutragen. – Eine Probe seiner zweiten dichterischen Manier lag aufgeschlagen auf dem Klavierpult, auf einem ganz verwischten und verklecksten Blättchen:

 

An Luisa.

Wo hoch auf einem windumstürmten Felsen,
Den es bekrönt, dein Nest, das luftigleichte,
Dem Mond zulächelt und den Bergeshängen,
Die Trauben für den Tisch dir tragen, Rosen
Fürs Haupt und purpurfarbige Cyklamen
Für mich, Träume und Düfte, o Luisa,
Da stell dir vor mein liebend Herz im Schrecken
All dieser Schatten. Schweigend sitz und blicke
Hoch vom Balkone nimmermehr hinüber
Zum weißen Westen, zu den lichten Bergen,
Nicht auf den See, den spiegelglatten, heitern,
Der auf dem Monde funkelt, nein, dies eine
Dunkel nur sieh' vor dir und frag' die Lüfte,
Die der Terrasse Oleanderbäume
Durchweh'n und zitternd meinen Namen hauchen.

 

Vielleicht gefiel sich Franco darin, diese seine Verse vor Augen, auf dem Klavier zu improvisieren. Er liebte die Musik noch leidenschaftlicher als die Poesie und hatte sich dies Klavier für fünfzig Gulden vom Organisten von Loggio gekauft. Denn das mittelmäßige Wiener Instrument der Großmutter, das wie ein Gichtkranker von der Familie eingewickelt und respektiert wurde, konnte ihm nicht dienen. Das Klavier des Organisten, das von zwei Generationen schwieliger Fäuste abgespielt und zerhämmert worden war, gab nur noch einen komischen, näselnden Ton von sich über einem dünnen Klingklang, wie von zahllosen kleinen, feinen Gläsern. Aber das war für Franco beinahe gleichgültig; kaum hatte er die Hände auf das Instrument gelegt, so entzündete sich seine Phantasie, die glühende Begeisterung des Komponisten ging auf ihn über, und in der Hitze der schöpferischen Leidenschaft genügte ihm ein schwacher, dünner Ton, um die musikalische Idee zu verstehen und sich an ihr zu berauschen. Ein Erard würde über ihm gestanden, würde seiner Phantasie Zwang angetan haben und würde ihm vielleicht weniger teuer gewesen sein als sein armseliges Spinett.

Franco hatte zu vielerlei verschiedene Neigungen und Talente, zu viel hitziges Ungestüm, zu wenig Eitelkeit und vielleicht auch zu wenig Willenskraft, um sich der langweiligen, methodischen, mechanischen Arbeit zu unterziehen, deren es bedarf, um Pianist zu werden. Aber Viscontini war ein leidenschaftlicher Verehrer seiner Art zu spielen; und Luisa, seine Braut, teilte zwar seinen klassischen Geschmack nicht ganz, bewunderte aber, wenn auch ohne Fanatismus, seinen Anschlag. Wenn er auf allgemeines Bitten die Orgel von Cressogno brausen und stöhnen ließ, dann betrachtete ihn das gute, von der Musik und von der Ehre ganz betäubte Volk mit offenem Mund und ehrfurchtsvollen Blicken wie einen unfaßbaren, unbegreiflichen Prediger. Trotz alledem hätte es Franco in einem städtischen Salon nicht mit so und so vielen kleinen Dilettanten, die unfähig waren, Musik zu lieben und zu verstehen, aufnehmen können. Alle, oder doch beinahe alle hätten ihn an Fingerfertigkeit und Präzision übertroffen und hätten größeren Beifall geerntet, wennschon es keinem von ihnen gelungen wäre, das Klavier singen zu lassen, wie er es singen ließ, namentlich in den Adagi von Bellini und Beethoven, wenn er spielte, die Seele in der Kehle, in den Augen, in jedem Gesichtsmuskel, in allen Nerven seiner Hände, die mit den Saiten des Instruments eins waren.

Eine andre Leidenschaft Francos waren alte Bilder. Die Wände seines Zimmers waren mit mehreren bedeckt, großenteils wertlosen alten Schmarren. Da er nicht viel gereist war, fehlte es ihm an Erfahrung; und bei seiner leicht entflammten Phantasie und den im Vergleich zu seinen vielen Wünschen sehr beschränkten Mitteln fiel er leichtgläubig auf die angepriesenen Glücksfälle andrer kümmerlicher Sammler herein, und blindlings begeistert stürzte er sich auf irgendeinen schmutzigen Fetzen, der, wenn er wenig kostete, noch weniger wert war. Außer einem männlichen Kopf in der Art des Morone und einer Madonna mit dem Kinde in der Art Dolcis besaß er nichts von einigem Wert. Er taufte übrigens die beiden Bilder ohne weiteres auf die Namen Morone und Dolci.

Nachdem er die vom Tartüffe Pasotti inspirierten Verse durchgelesen und genossen hatte, stöberte er in dem Chaos auf dem Schreibtisch herum und fand einen Bogen Briefpapier, auf dem er an Monsignore Benaglia schreiben wollte, die einzige Person, die ihm in Zukunft bei der Großmutter nutzen konnte. Es schien ihm richtig, ihn in Kenntnis zu setzen von dem bevorstehenden Akt, von den Gründen, die ihn und seine Braut bestimmt hätten, ihn in dieser peinlichen Weise zu vollziehen, und von der Hoffnung, die sie hegten, er werde ihnen beistehen, wenn der Moment gekommen wäre, alles der Großmutter zu eröffnen. Nachdenklich saß er noch, die Feder in der Hand, vor dem weißen Papier, als das Boot der Carabelli unter seinem Fenster vorbeikam. Bald darauf hörte er auch die Gondel des Marchese und das Boot Pins abfahren. Er nahm an, daß die Großmutter, die nun allein war, ihn rufen lassen würde; aber nichts dergleichen geschah. Nachdem er einige Zeit in der Erwartung verbracht, fing er wieder an, über seinen Brief nachzudenken, und er dachte so lange, veränderte die Einleitung so oft und ging dann auch so langsam, mit so vielen Korrekturen weiter, daß der Brief noch nicht fertig war, als es notwendig wurde, Licht anzuzünden.

Der Schluß wurde ihm leichter. Er empfahl seine Luisa und sich den Gebeten des alten Bischofs und sprach ein so reines und volles Vertrauen in Gott aus, daß es auch das ungläubigste Herz gerührt haben würde.

Hitzig und ungestüm, wie Franco war, hatte er sich trotzdem den einfältigen, ruhigen Kinderglauben bewahrt. Ohne Stolz und fern von allen philosophischen Betrachtungen kannte er den Durst nach geistiger Freiheit nicht, der die jungen Leute quält, wenn ihre Vernunft und ihre Sinne beginnen, sich vom harten Joch eines positiven Glaubens beschwert zu finden. Nicht einen Augenblick hatte er an seiner Religion gezweifelt, und gewissenhaft befolgte er alle ihre Übungen, ohne jemals zu fragen, ob es vernunftgemäß sei, so zu glauben und so zu handeln. Dabei hatte er durchaus nichts vom Mystiker oder vom Asketen. Warmen und poetischen Gemüts, gleichzeitig aber klar und scharf denkend, für Natur und Kunst leidenschaftlich begeistert und für jede Schönheit des Lebens empfänglich, fühlte er sich von jedem Mystizismus naturgemäß abgestoßen. Er hatte sich seinen Glauben nicht erobert, und niemals hatte er all sein Denken für lange Zeit darauf gerichtet, daher hatte er auch nicht alle seine Empfindungen damit durchtränken können. Für ihn war die Religion, was für einen fleißigen Schüler die Wissenschaft ist, dem die Schule den Gipfelpunkt aller seiner Gedanken vorstellt, der gewissenhaft und fleißig ist und keine Ruhe findet, bis er seine Arbeiten gemacht und seine Aufgaben präpariert, aber dann, wenn er seine Pflicht erfüllt hat, weder an Professoren noch an Bücher mehr denkt und kein Bedürfnis fühlt, sich noch um wissenschaftliche Ziele oder Schulweisheit zu kümmern. Daher hatte es oft den Anschein, als folge er in seinem Leben nichts anderm als seinem glühenden und großen Herzen, seinen leidenschaftlichen Liebhabereien, seinen lebhaften Eindrücken und dem Ungestüm seiner redlichen Natur, die, durch jede Niedrigkeit und durch jede Lüge verletzt, keinen Widerspruch ertrug und jeder Verstellung unfähig war.

Kaum hatte er seinen Brief gesiegelt, als an der Tür geklopft wurde. Die Frau Marchesa ließ Don Franco bitten, zur Abendandacht herunterzukommen. Im Hause Maironi wurde jeden Abend zwischen sieben und acht der Rosenkranz gebetet, und die Dienerschaft war verpflichtet, der Andacht beizuwohnen. Die Marchesa betete den Rosenkranz, auf dem Sofa thronend und die schläfrigen Augen über die gebeugten Rücken und die Knie der Getreuen gleiten lassend, die rechts und nach der Seite hin sich niedergeworfen hatten, der eine in dem Licht, das seiner frommen Haltung am günstigsten war, der andre im Schatten, in dem ein verbotenes Schläfchen am unbemerktesten blieb. Franco trat gerade in den Saal, als die näselnde Stimme die süßen Worte » Ave Maria, gratia plena« mit jenem salbungsvollen Phlegma herunterleierte, das ihm stets eine Teufelslust einflößte, Türke zu werden. Der junge Mann warf sich in einer dunkeln Ecke nieder und tat den Mund nicht auf. Es war ihm unmöglich, auf diese aufreizende Stimme mit Andacht zu antworten. Er malte sich ein vermutlich bevorstehendes Verhör aus und wälzte verächtliche Antworten in seinem Kopfe herum.

Als der Rosenkranz beendet war, machte die Marchesa eine kurze Pause, dann sprach sie die sakramentalen Worte:

»Carlotta, Friend!«

Die alte Kammerfrau Carlotta hatte das Amt, wenn der Rosenkranz zu Ende war, Friend auf den Arm zu nehmen und ihn ins Bett zu bringen.

»Er ist hier, Frau Marchesa,« sagte Carlotta.

Aber Friend, wenn er da war, befand sich jedenfalls in dem Augenblick, als sie die Hand nach ihm ausstreckte, anderswo als sie. Er war in guter Laune an diesem Abend, der alte Friend, und es machte ihm Spaß, Verstecken zu spielen, Carlotta zu ärgern, ihr aus der Hand zu entschlüpfen, unter das Klavier oder unter den Tisch zu entkommen und die arme Person, die mit dem Munde »komm, Liebling, komm« und mit dem Herzen »widerwärtiger Köter« sagte, ironisch anzublinzeln.

»Friend!« rief die Marchesa. »Geh, Friend! Sei brav!«

Franco kochte. Als das unsympathische kleine Ungeheuer, das von dem Egoismus und von dem Hochmut seiner Herrin angesteckt war, ihm zwischen die Beine kam, stieß er es von sich und überlieferte es so den Krallen Carlottas, die ihm auf eigne Rechnung einen wütenden Puff versetzte, ihn forttrug und auf sein Gekläff perfid antwortete: »Was haben sie dir denn getan, armer Friend, was haben sie dir denn getan?«

Die Marchesa sagte kein Wort, und kein Zug ihres marmornen Gesichtes verriet, was in ihrem Herzen vorging. Sie gab dem Diener die Weisung, er möge, falls der Präfekt der Caravina oder sonst wer noch käme, sagen, sie sei zu Bett gegangen. Franco war im Begriff, hinter der Dienerschaft das Zimmer zu verlassen, blieb aber plötzlich stehen, um nicht den Anschein zu erwecken, als ergriffe er die Flucht. Er nahm vom Kamin eine Nummer der »K. K. Mailänder Zeitung«, setzte sich neben die Großmutter und begann erwartungsvoll zu lesen.

»Ich wünsche dir Glück,« begann unvermittelt die schläfrige Stimme, »zu der guten Erziehung und den schönen Empfindungen, die du heute gezeigt hast.«

»Ich nehme den Glückwunsch an,« erwiderte Franco, ohne die Augen von der Zeitung zu erheben.

»Schön, mein Teurer,« antwortete unerschütterlich die Großmutter. Und sie fügte hinzu: »Ich bin froh, daß das Fräulein dich kennen gelernt hat; so wird sie, falls sie je von einem Heiratsprojekt gehört hat, froh sein, daß nie wieder die Rede davon sein kann.«

»Wir können alle beide froh sein,« sagte Franco.

»Du hast keine Ahnung davon, ob du froh sein kannst. Besonders wenn du noch deine früheren Ideen im Kopfe hast.«

Auf diese Worte hin legte Franco die Zeitung nieder und sah der Großmutter gerade ins Gesicht.

»Und was würde geschehen,« sagte er, »wenn ich noch meine früheren Ideen im Kopfe hätte?«

Er sprach diesmal nicht im Tone der Herausforderung, sondern mit ruhigem Ernste.

»Bravo, bravo!« rief die Marchesa. »Erklären wir uns offen. Ich hoffe und glaube sicher, daß ein gewisser Fall niemals eintreten wird; aber sollte er doch eintreten, so glaube nicht, daß bei meinem Tode etwas für dich da sein wird; ich habe dafür Sorge getragen, daß für dich nichts da sein wird.«

»Man denke!« sagte der junge Mann gleichgültig.

»Das wäre die Rechnung, die du mit mir abzuschließen hast,« fuhr die Marchesa fort. »Dann kommt noch die, die du mit Gott abmachen mußt.«

»Wie?« rief Franco. »Meine Rechnung mit Gott kommt vor der mit dir, nicht nach ihr!«

Wenn die Marchesa einen Fehler begangen hatte, pflegte sie stets in ihrer Rede fortzufahren, als sei nichts vorgefallen.

»Und sie ist groß,« sagte sie.

»Aber zuvor mit Gott!« beharrte Franco.

»Denn,« fuhr die fürchterliche Alte fort, »ein Christ hat die Pflicht, Vater und Mutter zu gehorchen, und ich vertrete Vater und Mutter bei dir.«

Wenn die eine zäh war, so war es der andre nicht minder.

»Aber Gott kommt zuerst!« sagte er.

Die Marchesa läutete und schloß die Unterredung mit den Worten:

»Jetzt sind wir also einig.«

Sie stand bei Carlottas Eintreten vom Sofa auf und sagte gelassen: »Gute Nacht!«

Franco erwiderte: »Gute Nacht« und nahm die »Mailänder Zeitung« wieder zur Hand.

Kaum hatte die Großmutter das Zimmer verlassen, so warf er das Blatt fort, ballte die Fäuste, machte sich wortlos mit einem wütenden Schnauben Luft, sprang in die Höhe und rief dann laut:

»Ah, besser so, besser, viel besser!« Besser so, wütete er innerlich weiter; besser, sie gar nie in dieses verfluchte Haus zu führen, meine Luisa, besser, sie gar nicht unter dieser Herrschaft, diesem Hochmut, dieser Stimme, diesem Gesicht leiden zu lassen, besser, von Wasser und Brot zu leben und das weitere von irgendeiner Hundearbeit erwarten als von den Händen der Großmutter; besser Gärtner zu werden, oder Schiffer oder Kohlenbrenner – vermaledeite Geschichte!

Er ging in sein Zimmer, fest entschlossen, jede Rücksicht fallen zu lassen. »Meine Rechnung mit Gott?« rief er, indem er die Tür schallend hinter sich zuwarf. »Meine Rechnung mit Gott, wenn ich Luisa heirate? Ach, jetzt nehme die Sache ihren Lauf, was kümmert's mich, ob sie mich sehen, mich hören, mir nachspüren, es ihr sagen, es ihr erzählen, es ihr stecken – mir tun sie den größten Gefallen damit!«

In wütender Eile zog er sich an, stieß an alle Sessel und öffnete und schloß mit Gekrach Kasten und Schränke. Aus Trotz legte er den schwarzen Frack an, ging geräuschvoll die Treppe hinab, rief den alten Diener, sagte ihm, daß er die ganze Nacht ausbleiben würde, und ohne auf das zwischen Verblüffung und Entsetzen schwankende Gesicht des armen, ihm treu ergebenen Menschen zu achten, stürzte er auf die Straße und verlor sich im Nebel.

*

Er war zwei oder drei Minuten fort, als die Marchesa, die sich schon zur Ruhe gelegt hatte, Carlotta schickte, um nachzusehen, wer so im Sturmschritt die Treppe hinuntergelaufen wäre. Carlotta berichtete, daß es Don Franco gewesen sei, und mußte sofort mit einem zweiten Auftrag wieder fort. Was Don Franco wolle? Diesmal lautete die Antwort, Don Franco sei für einen Augenblick ausgegangen. Dieser Augenblick war eine famose Erfindung des alten Dieners. Die Marchesa befahl Carlotta, das Licht brennen zu lassen und hinauszugehen. »Wenn ich läute, so komme wieder,« sagte sie.

Nach einer halben Stunde ertönte die Glocke.

Die Kammerfrau lief zur Herrin.

»Ist Don Franco noch nicht zurück?«

»Nein, Frau Marchesa.«

»Lösch das Licht aus, nimm den Strickstrumpf, setz dich ins Vorzimmer und melde es mir, wenn er nach Hause gekommen ist.«

Nachdem sie dies gesagt, drehte sich die Marchesa auf die Seite nach der Wand und kehrte der bestürzten und unzufriedenen Kammerfrau das weiße, gleichförmige und undurchdringliche Rätsel ihrer Nachtmütze zu.


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